Auch die Götter müssen eine Krise nach der anderen meistern, von denen so manche selbst im Himmel ausweglos erscheint. Aber es geht immer weiter …
Eigentlich ist es im indischen Götterhimmel wie in Comics: Die Bösen wollen die Weltherrschaft erlangen – und die Guten machen sich an die Arbeit, um deren Pläne zu vereiteln und um gerade zu rücken, was aus den Fugen geraten ist. Je dreister die Dämonen werden, desto phantasievoller müssen die Götter agieren, um die Welt wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Genauso müssen wir Menschen immer wieder Wege finden, mit schwierigen Situationen umzugehen, oder mit den Anteilen unserer Persönlichkeit zurechtzukommen, die uns selbst im Weg stehen.
Gerade wenn wir denken, das Schlimmste läge hinter uns, dauert es manchmal nicht lange, bis die nächste Krise ins Haus steht. Vishnu ging es da nicht anders. Kaum hatte er den Dämon Hiranyaksha besiegt, sann dessen jüngerer Bruder Hiranyakashipu auf Rache. Dabei bediente er sich Vishnus eigener Mittel. Bei den Göttern sind die Dinge nämlich oft sehr einfach gestrickt! Wer Askese praktiziert, darf sich beispielsweise eine besondere Gabe als Belohnung aussuchen. Nachdem Hiranyakashipu lange meditiert hatte, wünschte er sich von Göttervater Brahma nichts anderes als Unbesiegbarkeit.
Das konnte dieser natürlich nicht zulassen. Brahma antwortete Hiranyakashipu: „Das kann ich nicht gewähren. Du kannst dir aber die Bedingungen deines Todes aussuchen.“ Hiranyakashipu wählte clever: „Ich will weder von Mensch noch Tier besiegt werden, weder bei Tag noch Nacht sterben, nicht drinnen und nicht draußen, weder auf der Erde noch in der Luft.“ Dermaßen abgesichert dachte er, dass nichts mehr seinen Plan vereiteln könnte, Vishnu zu töten. In ähnlicher Weise versuchen wir selbst ja oft, uns vor Unwägbarkeiten abzusichern. Wie oft glauben wir, dass uns nichts mehr erschüttern kann, sobald wir unsere Schäfchen im Trockenen haben?
Doch genau wie bei uns zu Hause wurden auch bei den Göttern die Dinge komplizierter. Kayadhu, die Frau des Damöns, gebar einen Sohn namens Prahlada. Und da dieser schon im Bauch von den himmlischen Mächten geschützt wurde, die nicht gegen Hiranyakashipus unschuldige Frau kämpfen wollten, entwickelte er eine natürliche Liebe und Hingabe zu Vishnu. Das gefiel seinem Vater nun gar nicht und er versuchte, seinen Sohn zu töten. Doch jeder seiner Versuche scheiterte, da Prahlada unter Vishnus persönlichem Schutz stand.
„Du und dein Vishnu!“, herrschte Hiranyakashipu seinen Sohn schließlich wütend an. Wenn er wirklich so allmächtig ist, warum ist er dann nicht hier im Haus, zum Beispiel in dieser Säule?“ „Er war hier, ist hier und wird immer hier sein“, antwortete Prahlada, in dem Wissen, dass die Bestimmtheit seiner Liebe ihm ein Schild gegen alle Angriffe war. Das musste sein Vater dann auch auf schmerzliche Weise lernen. Denn als er vor Zorn mit seiner Axt die Säule zerschmetterte, erhob sich Vishnu aus den Trümmern. „Wer bist du, dass du dich mir entgegenstellen willst?“, rief Hiranyakashipu. „Ich bin unbesiegbar, das wirst du gleich spüren.“ Doch Vishnu hatte seine Form als Narasimha angenommen, halb Mensch, halb Löwe. Wie es sich begab, war es gerade weder Tag noch Nacht sondern die Zeit der Dämmerung. So trug er den Dämon zur Türschwelle, zerrte ihn auf seinen Schoß und Hiranyakashipu fand sein Ende weder am Boden noch in der Luft.
In dieser zunächst brutal klingenden Geschichte sind viele Bilder versteckt, die Mut machen. Prahlada hatte keine Angst vor den Drohungen seines Vaters, weil er wusste, dass schützende Kräfte ihn umgaben. Diese Kräfte sind – das ist zumindest meine Überzeugung – auch immer um uns herum. Es mag in dunklen Zeiten bisweilen sehr schwierig sein, sie auf den ersten Blick zu erkennen. Doch wir finden immer wieder Hilfe und Unterstützung, oft aus dem scheinbaren Nichts. Und das müssen nicht immer Götter sein. Oft tauchen Menschen auf und reichen uns die Hand, von denen wir es nicht erwartet hätten. Es gibt so viel, wofür wir dankbar sein können.
Ebenso wie die Götter in den Geschichten unsere inneren Stärken symbolisieren, stehen die Dämonen für unsere quälenden Gedanken, unsere tiefsten Ängste, die wir oft selbst nicht ergründen können. Sie stehen auch für Vorstellungen, die wir davon haben, wie die Dinge sein müssten. Hiranyakashipu wollte alles richtig machen, um sich endlich seiner perfekten Welt sicher sein zu können. Doch das Leben hatte anderes vor. Der Clou der Geschichte ist nämlich: Hiranyakashipu war nicht von Natur aus böse. Er und sein Bruder waren ursprünglich die Wächter von Vishnus Himmelreich. Und dorthin kehrten sie auch zurück, nachdem sie erlebt hatten, dass das Leben immer wieder eine neue Alternative birgt. Auch in scheinbar aussichtslosen Situationen.
Wenn etwas unmöglich und alternativlos erscheint, liegt die Lösung meist dazwischen. Wir müssen keinem bestimmten Bild entsprechen. Vishnu hat es Prahlada gezeigt: Er ist immer da.
Ralf Sturm, Yoga-, Meditationslehrer und Beziehungscoach, lebt in Berlin.