Er ist weit mehr als ein Schriftgelehrter, Friedensbotschafter und Gründer einer riesigen Non-Profit-Organisation. Dieser Mann wird von mehreren Millionen Menschen als Guru, ja fast als ein Heiliger verehrt: Sri Sri Ravi Shankar.
Fast lautlos betritt Sri Sri Ravi Shankar den Raum – und ich bin plötzlich allein mit ihm, dem Guru, dem spirituellen Popstar, der die Massen begeistern kann. Er ist kleiner als erwartet, hat dafür eine umso größere Ausstrahlung. Geräuschlos lässt er sich im Schneidersitz auf einem Sessel nieder und blättert in einer Ausgabe des Yoga Journals. „Sehr schön, sehr schön“, sagt er und lächelt mich sanft an.
Sie scheinen das zu verkörpern, wovon Sie oft sprechen –
Gewaltlosigkeit. Wie können wir die Welt von Gewalt befreien?
Sri Sri Ravi Shankar: Durch Yoga und Erziehung kommen wir dahin. Wahre Yogis werden nie Gewalt anwenden, denn die erste und wichtigste Regel ist Ahimsa, die Gewaltlosigkeit. Wenn wir Yoga verbreiten, werden die Menschen ruhiger und zentrierter werden. Plötzlich wird klar sein, wie wir verhandeln und Konflikte lösen können. Dann wird es weniger Kriege und Streitereien geben. Und selbst wenn Konflikte ausbrechen, werden wir besser damit umgehen können.
Sie meinen, eine tägliche Yogapraxis genügt, um die Welt zu verbessern?
Durch die Praxis, durch die Erziehung zur Aufmerksamkeit und die Erfahrung der Menschen, wie sie durch Pranayama, durch Atemübungen Stress vermindern können.
Ist das Ihre Empfehlung an die Politiker, die Sie besuchen? Fragen Sie: „Haben Sie heute schon Yoga gemacht, Mr President“?
Ja, denn ich sage, wir müssen die wahren menschlichen Werte in der Gesellschaft stärken. Die wurden zu lange nicht beachtet. Heute geben wir in Europa 180 Milliarden Euro für psychologische Behandlungen aller Art aus. Psychische Probleme sind die häufigsten Krankheiten heutzutage. Darum betone ich gern, dass Yoga nicht nur aus Asanas besteht. Durch Bhakti Yoga, Karma Yoga und Jnana Yoga können wir noch weiterkommen. Alles, was wir machen, ist eigentlich Jnana Yoga, wir wollen Wissen und Bildung vermitteln. Nur durch einen ganzheitlichen Yoga-Ansatz können wir Veränderungen erreichen.
Ist das eine Sache, die sich der Westen vom Osten abschauen sollte?
Nicht nur der Westen kann hier etwas lernen. Auch der Osten kann aus seiner eigenen Tradition lernen. Wie immer sind viele Menschen davon überzeugt, sie wüssten schon Bescheid, haben aber keine Ahnung. Hier müssen wir etwas ändern, wir müssen uns auf unser altes Wissen zurückbesinnen.
Stehen uns die neuen Technologien der modernen Welt dabei im Weg?
Technologie kann helfen, wir müssen sie nur richtig nutzen. Das Leben ist wie ein Baum. Die Wurzeln können alt sein, aber die Sprösslinge sind frisch. Wir müssen komplett werden. Ich kann nicht einfach sagen, ich will keine Technologie, ich beachte den wissenschaftlichen Fortschritt nicht. Das wäre nicht richtig. In der Bhagavad Gita sagt Krishna, die Seele des Menschen kann nur mit zwei Dingen befriedigt werden, mit dem wahren Wissen vom Selbst und der Wissenschaft. Erst wenn wir beides haben, ist die Seele zufrieden. Das kann der Osten vom Westen lernen.
Welche Unterschiede gibt es noch zwischen Osten und Westen?
Diese Einteilung in Ost und West kommt aus dem letzten Jahrhundert. Ich sehe hier keine großen Unterschiede mehr. Nehmen Sie Italien und Deutschland. Hier bestehen große Unterschiede, obwohl beides westliche Länder sind. Dasselbe sehen wir in Indien, wenn wir etwa Kerala und Panjab vergleichen. Somit hat jede Region ihre Besonderheiten. Und trotzdem ist jeder Teil verbunden mit etwas Universellem, das alles verbindet. Und Yoga verbindet uns mit allem.
Darum unterrichten Sie auch Yoga…
Genau. Wir nennen den Stil, den wir unterrichten, Sri Sri Yoga. Wer die alten Schriften liest, weiß, dass Yoga ja nicht nur körperlicher Natur ist. Doch in den meisten Yogastunden stehen die Asanas im Vordergrund. Bei unseren Art of Living-Kursen ist es anders, wir stellen Pranayama, die Atemschulung, in den Vordergrund. Und Meditation.
Welche tägliche Praxis empfehlen Sie?
Zehn Minuten Pranayama – und dann 20 Minuten Meditation.
Ist das auch Ihre eigene Praxis?
Jeden Tag zwischen 19 und 21 Uhr meditiere ich, singe Bhajans und halte einen Satsang, egal wo ich bin. Für mich ist das die wichtigste Zeit des Tages. Alle anderen Aktivitäten sind einfach Beilagen.
Wer ist Sri Sri Ravi Shankar?
Als Sohn einer angesehenen Kaufmannsfamilie wurde Ravi Shankar am 13. Mai 1956 in der südindischen Großstadt Bangalore geboren. Bereits als Vierjähriger, so wird berichtet, konnte er Verse aus der Bhagavad Gita zitieren. Mit acht Jahren studierte er klassische vedische Literatur. Mit 17 schloss er dann eine Ausbildung in modernen Naturwissenschaften ab. In den 70er Jahren war Ravi Shankar Schüler von Maharishi Mahesh Yogi und wurde Lehrer für Transzendentale Meditation.
Favorit für den Friedensnobelpreis
Schon früh entwickelte er seine Vision von einer stress- und gewaltfreien Welt und fand zahlreiche Anhänger und Helfer, die ihn dabei unterstützen. 1981 mündeten seine Aktivitäten in der Gründung einer gemeinnützigen, konfessionsübergreifenden Stiftung, der „Art of Living Foundation“. In Indien gehört Ravi Shankar inzwischen zu den fünf einflussreichsten Menschen, erklärte das US-Magazin „Forbes“ 2009. Außerdem wird er seit einigen Jahren als Geheimfavorit für den Friedensnobelpreis gehandelt. Sein Terminkalender ist randvoll. Unermüdlich reist er rund um den Globus und hält auf zahlreichen Großereignissen Reden über seine Idee von einer Welt ohne Stress und Gewalt. So sprach er zum Beispiel schon vor dem Europaparlament, wurde mehrfach als Redner zum Weltwirtschaftsforum eingeladen und war einer der Mitbegründer des Internationalen Führungskräfte Symposium zu Ethik in der Wirtschaft, welches 2010 in Brüssel erstmals stattfand. Als Schlüssel für ein besseres Miteinander empfiehlt Sri Sri Ravi Shankar Spiritualität, Yoga, Meditation – und eine speziell entwickelte Atemtechnik namens Sudarshan Kriya.