„Der Handstand – wie erlernt man ihn am Besten?“
1.21. tivrasamveganamasannah
“Je stärker wir das Vertauen in uns spüren und je intensiver unsere Bemühungen sind, desto näher rückt das Ziel.”
In diesem Yoga Sutra von Patanjali finden sich zwei wesentliche Voraussetzungen, um Adho Mukha Vrikshasana, den Handstand, zu erlernen: Vertrauen und Üben.
Ein Kleinkind, das nach dem Krabbeln irgendwann laufen lernt, steht vor einer Herausforderung. Das Laufen auf zwei Beinen erscheint erst einmal ungeheuer schwierig: Die Schwerkraft wirkt und lässt das Kind nur mühsam die Balance finden. Dennoch meistert es die Situation – mit Vertrauen und Mut. Es lässt sich nicht entmutigen! Was liegt näher, als sich beim Üben einer Umkehrhaltung an die Zeit zu erinnern, in der das Erlernen elementarer Dinge unser ganzes Bemühen, unsere Leidenschaft und unser Vertrauen in das Leben forderte?
Nach einigen vorbereitenden Übungen, die gleichermaßen Kraft und Flexibilität in Schultern und Armen sowie eine gute Körperspannung aufbauen, kann der Kick nach oben in den Handstand gewagt werden. Wenn meine Schüler diesen alleine an der Wand beherrschen (also die Prinzipien der Übung verstanden und umgesetzt haben), motiviere ich sie, den Abstand zur Wand schrittweise zu vergrößern. Dadurch tritt nach und nach die Sicherheit der Wand in den Hintergrund.
Da Yoga eine Erfahrungswissenschaft ist und es so viele Handstände gibt wie ausführende Menschen, muss jeder seinen eigenen Weg in die Stellung finden. Jeder Yogi kennt das Phänomen: Manche Hinweise des Lehrers, die sich auf ganz verschiedene Aspekte einer Asana beziehen, gehen einfach an einem vorbei, als hätte man sie gar nicht gehört. Zu diesem Zeitpunkt sind Verstand und Körper noch nicht bereit. Es kommt jedoch der Tag, an dem man die Instruktionen aufnehmen und umsetzen kann. Vielleicht ist man in der letzten Yogastunde im Handstand umgekippt und hat dabei festgestellt, dass nichts Schlimmes geschieht. Man hat Vertrauen gefunden. Dieses Mal kommt vielleicht ein tief vergrabenes Potential ans Licht und plötzlich hält man mit spielerischer Leichtigkeit die Balance. Manchmal geht es einfach darum, in den Raum der Möglichkeiten zu treten und sich von sich selbst überraschen zu lassen.
Zur korrekten Ausrichtung gibt es viele Anleitungen, beispielsweise die exakte Ausrichtung der Gelenke oder der richtige Abstand zwischen den Händen. Der absolute Aha-Effekt tritt allerdings meist nach längerer Übung ein, wenn man die Möglichkeit des Fingereinsatzes entdeckt. Die Finger können den Rest des Körpers ausbalancieren, wenn sie effektiv eingesetzt werden und eine stabile Verbindung zur Erde entsteht. Wenn man von einem „Geheimnis“ des Handstandes sprechen kann, ist es sicher auf der körperlichen Ebene der Kontakt der Hände zum Boden – und auf der psychischen Ebene das (Ur)vertrauen und die damit verbundene positive Einstellung der Umwelt gegenüber.
Beim Erlernen fortgeschrittener Asanas brauchen wir immer eine Mischung aus Beharrlichkeit (abyasa) und Gleichmut (vairagya). Gemäß dem Motto: „Niemand ist ein besserer Mensch, weil er einen freien Handstand beherrscht“, sollte beim Üben vor allem die Freude am Tun dominieren. Yoga dient immer einer größer werdenden Bewusstheit. Sich selbst beim Erlernen des Handstands zu beobachten ist aufschlussreich. Auf einer gewissen Ebene kann es Wachstum bedeuten, wenn die äußere Form der Asana weniger vordergründig ist und man versteht, worum es eigentlich geht. Wenn wir voller Vertrauen und Mut üben, nach jedem Umfallen lachend wieder aufstehen und weiter probieren – wie das Kleinkind beim Laufen lernen – schenkt uns Adho Mukha Vrikshasana Leichtigkeit, Lebensfreude und Energie. Das sind die Qualitäten unserer Kindheit. Dann ist es gleichgültig, ob wir einen oder 25 Atemzüge lang im Handstand stehen. Also: Entdecke das Kind in Dir und spiele!
Nana Merz ist seit vielen Jahren begeisterte (Handstand-)Übende, Yogalehrerin und Yoga Coach. Sie wirkt als Dozentin bei Ausbildungen mit und leitet das Institut für Yoga in Darmstadt (www.satyayoga.de).