Interview mit Jah9

Wurzeln, Reggae, Rastafari

Jah9 aus Jamaika gilt als eine der stärksten Stimmen des modernen Reggae. Die Songs auf ihrem aktuellen Album „9“ gehen weit über den weltweit in Strandbars aufgelegten Chill Sound  hinaus: Die ausgebildetete Yogalehrerin trennt nicht -zwischen Musik, Praxis, Philosophie und Leben.

Als Künstlerin bist du daran interessiert, Grenzen zu verschieben. Wie spiegelt sich das in deiner Arbeit als Yogalehrerin und Aktivistin?

Am meisten spiegelt sich das im Grunde in meinem persönlichen Leben – in der Arbeit an mir selbst. Die Grenzen des Selbst sind die wichtigsten, aber auch am schwersten zu bewegenden Beschränkungen. Yoga zu unterrichten sehe ich als Aufgabe, die auch mir selbst zugute kommt, und der Aktivismus ist ein natürliches Resultat der Praxis.

Du bist tief in Jazz und Lyrik verwurzelt. Was hat dich sonst zu der Persönlichkeit gemacht, die du heute bist?

Vor allem ein großer Verlust. Kurz vor meinem neunten- Geburtstag starb mein Bruder. Eine sehr tiefe -Erfahrung, die mich auch künstlerisch beeinflusste. Sie hat mich regelrecht nach innen geschickt. Im -gleichen Jahr zog meine Familie aus der ländlichen Idylle von Falmouth Trelawny in die Hauptstadt Kingston – und ich hatte die schwerste Asthma-Attacke -meines -Lebens. Diese Erlebnisse bildeten den -Beginn einer Reise, die bis heute andauert. Sie sind Wurzel und Quelle für alles, was ich heute zu geben habe.

Welche Rolle spielte und spielt die Yogapraxis in diesem Prozess?

Je mehr ich über Yoga erfahre, desto mehr merke ich, wie natürlich es in mein Leben passt. Als ehemalige Asthmatikerin habe ich eine intensive Beziehung zu meinem Atem entwickelt. Außerdem bin ich im sehr spirituellen Jamaika aufgewachsen. In meiner sehr religiösen Familie gab es immer Bewusstsein über die Dualität des Selbst, auch von Disziplin und Opferbereitschaft als Schlüssel zur geistigen Entwicklung. Umfassende Liebe und ein einfaches, gesundes -Leben sind Kernelemente unseres Glaubens, des Rastafari. Aus all dem hat sich mein ganz persönliches Yoga entwickelt.

In einer Beschreibung über dich steht: „Jah9 singt mit einer Stimme, die die Grenzen ihres physischen Körpers sprengt, und aus einer Seele, die deutlich älter ist als ihre derzeitige Hülle.“

Ich fühle mich in der Tat als alte Seele. Uralt, aus einer anderen Epoche vor der Zeit, die wir „Realität“ nennen. Manchmal etwas schlecht für diese aktuelle Realität gerüstet. Aber ich versuche, sie wie ein Kind zu umarmen.

Als spirituelle Systeme scheinen Rastafari und Yoga eine natürliche Verbindung zu haben. Welches sind ihre wichtigsten Gemeinsamkeiten? 

Rastafari repräsentiert spirituelle Befreiung, Entwicklungspotential für die Black Community und -damit alle Menschen der Gegenwart. Ich sehe es als allumfassende Bewegung in Richtung unserer höchsten -Fähigkeiten, beispielhaft gelebt und verkörpert von -Haile- -Selassie. Yoga ist einfach eine andere Bezeichnung, die diesen Weg definiert. Es entspringt aus der gleichen Quelle und ist beispielsweise auf den Hieroglyphen und Tempelwänden des alten Ägypten -dokumentiert. Alle Kulturen haben diese Übereinstimmungen und Namen, mit denen sie diese wichtigste spirituelle Arbeit beschreiben.

Wie würdest du die Yoga-Community auf Jamaika beschreiben?

Als einen spannenden, schönen und sehr vielfältigen Schmelztiegel von Menschen mit den verschiedensten Hintergründen. Die Gemeinschaft existiert bereits seit Jahrzehnten, aber in den letzten fünf Jahren hat sie sich stark vergrößert.

Wie hast du selbst zum Yoga gefunden?

Meine erste Lehrerin war Subhadra Bowman von den Yoga Angels, die vor zehn Jahren begann, auf Jamaika Lehrer auszubilden. Bei ihr absolvierte ich mein erstes Iyengar Teacher Training. Seither habe ich mich in Ashtanga, Yin und seit neuestem im Kemetic Yoga weiter gebildet.

Wie verbindest du diese Stile und welche Rolle spielt vor allem Kemetic Yoga, in der Kurzbeschreibung das „Yoga des alten Ägyptens“?

Ich bin dankbar, dass ich mein Fundament im Iyengar Yoga aufbauen konnte und Yoga dadurch vor -allem als heilende Therapie begreifen und einzusetzen lernte. Ashtanga gab mir ein System, eine Abfolge, die vor allem für junge Menschen und Gruppenkurse wertvoll ist. Als ich Kemetic Yoga entdeckte, erfüllte es einen Teil von mir, der sich ohnehin bereits mit der Spiritualität des alten Ägyptens beschäftigte. Es bietet mir ein Asana-Ritual, das ich auf einer tieferen -persönlichen- Ebene praktizieren kann. Es ist ein junger, sich neu entwickelnder Stil, der die Yoga-Community bereits intensiv beeinflusst und auch Menschen erreicht, die Yoga traditionell ablehnen.

Auf welche Weise geht es in Resonanz mit deiner -afrikanischen Herkunft und den wiederkehrenden Themen in deinen Songs wie Kolonialismus und kollektives Trauma?

Ganz sicher auf heilende Weise – und zwar nicht nur für mich als Individuum, sondern für die Gesellschaft als Ganzes. Ohne ein Wettkampf zu sein, ist es physisch herausfordernd, gleichzeitig nährt es Selbstliebe und Selbstwahrnehmung. Als Yogalehrerin und Aktivistin bemühe ich mich daher, dieses Wissen sehr früh mit Jugendlichen zu teilen.

Was hat es mit deinem Programm „Yoga on Dub“ auf sich? 

Das ist ein sehr flexibles Element, das ich mit meiner Musik kombinieren kann – ein kurzes, intimes Mini-Festival. Es handelt sich um eine Yogaklasse zu instrumentalen Dub (Anm.d.Red: klassischer Reggae-Stil), den meine Band oder ein speziell ausge-wählter– DJ live spielt. Ich unterrichte die Stunde -gemeinsam mit -einem lokalen Lehrer, sehr wichtig sind mir auch die begleitenden Diskussionen, Workshops und der Austausch mit den Beteiligten.

Oft baust du Atemübungen und Asanas auch direkt in deine Konzerte ein. Welche Erfahrungen hast du damit gemacht – und vor allem dein Publikum? 

Die Botschaft meiner Musik kann sehr intensiv wirken, also biete ich Yoga als Tool an, damit sich die Zuhörer nach dem Verklingen der Schwingungen wieder in ihre Balance bringen können. Der Effekt ist immer unglaublich sichtbar und fühlbar, egal, ob es sich um 100 oder 10.000 Menschen im Publikum handelt.

Auf deinem aktuellen Album „9“ lautet eine sehr -einprägsame Songzeile „A spiritual woman is the greatest threat to the status quo“. Inwiefern bedroht eine spirituelle Frau welchen Status Quo?

Den unterdrückenden, unmenschlichen – in welcher Form er auch immer eintritt. Wenn du darauf hinaus willst, ob ich mich selbst als Feministin sehe …

… das wäre in der Tat meine nächste Frage gewesen …

Dazu nur so viel: Das tue ich nicht. Ich glaube auch nicht, dass es eine separate weibliche Spiritualität gibt, aber spreche in meinen Songs auf jeden Fall über Bereiche, zu denen nur Frauen Zugang haben, allein durch ihre Beschaffenheit.

Viele Yogalehrer nutzen Reggae als Soundtrack für ihre Klassen. Tust du das auch? Praktizierst du zu Musik oder trennst du für dich beide Bereiche voneinander?

Manchmal, nicht zu oft. Ich finde, dass Musik besonders Anfängern hilft, beim Üben ihren eigenen geistigen und körperlichen Raum zu bewahren – ihren individuellen -Fokus. Bis es aus eigener Kraft geschehen kann, die Sinne beim Üben zurück zu ziehen, kann Musik wunderbar als eine Art Drishti funktionieren.


Ihre Musik stammt aus der Karibik, ihre Praxis aus dem alten Ägypten: Jah9 beim Kemetic Yoga.

Intuiting of the essence
awareness of the presence
Of the whole beyond each individual part
Master of the mind space
mason of the landscape
With intelligence she access from the heart
A spiritual womAn is the greatest threat
To the status quo

– Jah9, „Greatest Threat To The Status Quo“ vom Album „9“

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