Zwischen Pflicht und Lust, Erfolg und persönlicher Entwicklung kommt es nicht selten zu Konflikten. Die altindische Lehre der Purusharthas hilft, die vier wichtigsten Aspekte für ein erfülltes Leben besser ins Gleichgewicht zu bringen. Ein yogischer Ratgeber für Selbsterkenntnis und eine clevere Lebensführung.
Führe ich ein erfülltes, ausgeglichenes Leben? Eine wichtige Frage, die sich nicht einfach mit “ja” oder “nein” beantworten lässt. In diesen hektischen, mit Aktivitäten und Verpflichtungen vollgepackten Zeiten verliert man schnell den Blick fürs Wesentliche. Aber lässt man Traumfigur, Kontostand oder den Kampf mit lieben Gewohnheiten mal beiseite, dann kann Raum für einen Ansatz entstehen, der dem Leben eine neue, positive Ausrichtung gibt.
Die Yogaphilosophie hat dafür ein Modell für eine grundlegende Selbstreflexion, die Purusharthas. Unter diesem Begriff sind vier als Lebensziele verstandene Punkte zusammengefasst. Dharma (Pflicht, Ethik), Artha (Wohlstand, Fülle), Kama (Freude, Sinnesbefriedigung) und Moksha (Streben nach Befreiung). Die ausgewogene Kombination dieser vier Punkte ist so etwas wie die Blaupause für menschliche Erfüllung. Daran zu arbeiten, hilft das Leben auf tiefe und ganzheitliche Weise ins Gleichgewicht zu bringen. Beispielsweise Rod Stryker, der 2011 mit “The Four Desires” ein Buch zum Thema veröffentlicht hat, meint: “Die Purusharthas sind eine Art yogischer Ratgeber für eine clevere Lebensführung.”
Was genau sind die Purusharthas?
Die Purusharthas werden ausführlich im Epos Mahabharata behandelt, das auch die Bhagavad Gita enthält. Ursprünglich gehen sie jedoch auf den Rigveda zurück, die älteste und wichtigste Schrift des Hinduismus. “Im Rigveda werden die Purusharthas als dem Universum innewohnende Werte betrachtet”, erklärt Douglas Brooks, Tantralehrer und Professor für Religionswissenschaften. “Der Kosmos gilt als lebendiges Wesen. Die Aspekte Ethik, Wohlstand, Vergnügen und Freiheit sind Teil dieses Kosmos. Also keine psychologischen Konzepte, die nur den Menschen betreffen. Setzt man sich als Mensch mit diesen Aspekten auseinander, dann kann man dazu beitragen, Mikro- und Makrokosmos besser in Einklang zu bringen.”
Um die Purusharthas zu begreifen, rät Stryker, den Sanskrit-Begriff in seine Bestandteile zu zerlegen. Purusha bedeutet so viel wie Seele: das wahre unsterbliche Selbst, das Teil des Universums ist. Artha kann außerdem mit Fähigkeit, Ziel oder Erfüllung übersetzt werden. Zusammengenommen bedeutet Purushartha also in etwa Ziel der Seele. Der Begriff lädt deswegen ein, das Leben in einem größeren Zusammenhang zu betrachten. Inwiefern dient mein alltägliches Tun meinen innersten Zielen? Und wie fördert es auch das kosmische Gleichgewicht?
“Die Purusharthas verhelfen auf intelligente Weise zu einem ausgeglichenen Leben”, sagt unsere Expertin für Yogaphilosophie, Sally Kempton. “Doch das erfordert Reflexion. Man muss sich stetig selbst fragen: Welche Aspekte erhalten zu viel Gewicht? Kurz gesagt: Die Purusharthas können helfen, das Leben auf Stimmigkeit zu prüfen, kluge Entscheidungen zu treffen und praktische Probleme zu lösen. Sally Kempton weiß: “Am Lebensende wird man sich fragen: Habe ich richtig gelebt? Meiner Meinung nach hängt das davon ab, wie gut ausgeglichen die Purusharthas waren.”
Dharma – die Pflicht
Des Weiteren ist Dharma ein komplexer Begriff. Denn er kann mit Pflicht, Ethik, Rechtschaffenheit, Arbeit, Gesetz, Wahrheit oder Verantwortung übersetzt werden, genauso aber auch die buddhistische oder hinduistische Lehre bezeichnen, die sich mit diesen Punkten befasst. Dharma ist deshalb gleichbedeutend mit der eigenen Aufgabe im Leben, mit dem, was uns antreibt, jeden Tag erneut aufzustehen und das zu tun, was getan werden muss. “Um Dharma zu begreifen, hilft ein Blick auf den Wortstamm. Er bedeutet im Wesentlichen stärken, begründen oder Struktur schaffen”, erläutert Douglas Brooks. “Es geht also um das, was dem Leben Struktur gibt: sich seinen Aufgaben zu stellen und im Rahmen dieser Struktur so zu handeln, dass man sich selbst und der Gesellschaft dient.”
Der Hintergrund: Die Yogaphilosophie geht von einer kosmischen Ordnung aus, Sanatana-Dharma. Sie bildet die Grundlage jeglicher Lebensstruktur. Neben dieser kosmischen Ordnung unterliegt jeder Mensch aber auch seinem individuellen Dharma, dem so genannten Svadharma. Dieses ist wiederum das Resultat von Geburtsumständen, Karma, Talenten und Entscheidungen, die ein Mensch im Lauf seines Lebens trifft. “Dharma bezieht sich auf die Taten in diesem Leben. Das kann viele Formen annehmen”, erklärt Gary Kraftsow, der Autor des Viniyoga-Buches “Kraftquelle Yoga”. “Als Vater ist mein Dharma, mein Kind großzuziehen. Weil ich Yogalehrer bin, beinhaltet mein Dharma, zum Unterricht zu erscheinen und die Lehre weiterzugeben. Als Staatsbürger bedeutet mein Dharma auch, dass ich Steuern zahlen muss. Was auch immer ansteht. Mein Dharma verlangt deshalb, dass ich mein Bestes gebe, um dem Leben und mir selbst im Hier und Jetzt zu dienen.”
Für manche zeigt sich Dharma als eindeutige Berufung: Landwirt, Lehrerin, Mutter, Dichter oder Präsidentin. Für andere spielt so etwas keine so große Rolle. Dharma bedeutet dann, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, familiären Pflichten nachzukommen, Teil der Gesellschaft zu sein. All das lässt sich allerdings auch mithilfe eines mäßig interessanten Jobs bewerkstelligen. “Ein verhasster Job, der das Leben zur Hölle macht, ist vielleicht nicht dharmisch”, räumt Kraftsow ein. “Aber manchmal bedeutet die Erfüllung des Dharma auch, das anzunehmen, was gerade ist.”
Für Menschen in der westlichen Welt, wo idealerweise Familie, Geschlecht und Hautfarbe keine Rolle spielen, ist der Begriff Dharma manchmal schwer fassbar. John Friend, der Begründer des Anusara Yoga, meint dazu: “Ich verstehe es so: Welche der möglichen Optionen dient einem selbst und der Welt am besten?” Das bedeutet auch, den eigenen Werten treu zu bleiben und sich selbst, seine Familie, sein Umfeld und die Welt entsprechend respektvoll zu behandeln. “Dharma bezeichnet die ethischen Grundsätze, an denen man sein Leben ausrichtet”, erläutert Sally Kempton, “die persönliche Quintessenz. Ich übersetze es gern als ‚Weg des Guten’.” Dieses Dharma sollte jede Handlung und Entscheidung im Leben bestimmen, meint Kempton.
Artha – der Wohlstand
In gewisser Weise sollten alle anderen Purusharthas aus dem Blickwinkel von Dharma betrachtet werden. Das gilt ganz besonders für Artha, das mit Wohlstand, Reichtum, Fülle oder Erfolg übersetzt werden kann. Artha ist zunächst der materielle Wohlstand, der das Leben erleichtert. Es sind aber auch all jene Dinge gemeint, die man zum Leben und zur Erfüllung seiner Aufgaben einfach benötigt. Auch Yoga und Reichtum passen zusammen. Viele Lehrende nennen Artha als erstes der Purusharthas, weil ohne Nahrung, Obdach oder Schutz vor Gefahren alle anderen Purusharthas unwichtig werden. Artha deckt die grundlegenden materiellen Bedürfnisse ab und ermöglicht so erst das Verfolgen anderer Ziele. Ob Wohnung, Auto oder Küchenutensilien. Artha bezieht sich zunächst auf Dinge. Für eine*n Schriftsteller*in sind das vielleicht Stift und Papier, für eine*n Yogi*ni ein Raum für eine ungestörte Praxis. Es kann aber auch für Wissen oder Bildung stehen. Eine Voraussetzung, die zum Beispiel ein Arzt oder eine Ärztin zur Erfüllung des Dharma braucht.
Genau wie Dharma ist Artha ein wandelbarer Begriff. “Als ich begann, die Purusharthas zu lehren, stand Artha für Nahrung, Kleidung und ein Dach über dem Kopf”, scherzt der Yogalehrer Gary Kraftsow. “Inzwischen gehören auch Handy und Internetzugang dazu.” Was man braucht, hängt immer davon ab, welche Rolle man innehat. Dabei sind materieller Besitz und sogar Reichtum an sich nichts Schlechtes. Wichtig ist nur, Artha nicht überzubewerten. Das fällt besonders in unserem Kulturkreis schwer, in dem Erfolg und Wohlstand einen Selbstwert darstellen. Brooks zufolge kann ein Perspektivwechsel helfen, besser mit Artha umzugehen: “Artha fordert den Menschen auf, sich geschickt in einer Welt voller Objekte zu bewegen, die zu seinem Nutzen existieren. Es geht nicht darum, sich der Welt zu verschließen, sondern zufrieden mit dem zu sein, was man besitzt, leiht oder verwaltet. Und es geht um Selbstreflexion: Was ist in meinen Augen wirklich wertvoll?”
Sally Kempton ist der Meinung: “Artha steht für die Fähigkeiten, die man entwickelt, um ein erfolgreiches weltliches Leben zu führen. Nach meiner Erfahrung sind Menschen, die mit Artha auf die eine oder andere Art nicht umgehen können, unzufrieden. Genug Geld zum Leben und für den Familienunterhalt zu haben, ist Teil der grundlegenden menschlichen Würde.”
Kama – das Vergnügen
Kama oder der Wunsch nach Vergnügen treibt laut Rod Stryker die Menschheit an. “Hinter allem menschlichen Handeln steckt der Wunsch nach Vergnügen”, sagt er. “Kama kann sinnliche Befriedigung meinen. Es umfasst aber auch Kunst, Schönheit, Intimität, Freundschaft und Güte: Was immer das Leben schöner macht. Auch Verzicht kann Freude bedeuten.”
Dass Kama bei vielen ein schlechtes Image hat, hängt sicher damit zusammen, dass es dazu verleiten kann, über die Stränge zu schlagen. Exzessives Kama kann zu Maßlosigkeit, Abhängigkeit, Faulheit, Neid und anderen “Todsünden” führen. Wenn es jedoch zur Erfüllung des Dharma dient, hat es durchaus seine guten Seiten. “Im Kontext des Dharma gesehen repräsentiert Kama die Fülle des Lebens”, erklärt Stryker. “Alles Handeln ist durch Wunschbefriedigung motiviert. Das Leben dient einem höheren Zweck, aber auf dem Weg dorthin erfreut man sich an Familie, Freunden, Kunst, Liebe und Harmonie.”
Wenn man sich die eigenen Wünsche bewusst macht, kann man sich besser auf diejenigen konzentrieren, die wirklich wesentlich sind. “Das bewusste Streben nach Kama ist eine tiefe yogische Praxis”, meint Sally Kempton. “Kama auf yogische Weise zu praktizieren, bedeutet, im Hier und Jetzt zu leben. Ob ein Stück Pizza oder eine herzöffnende Meditation. Freude kann viele Formen annehmen. Als Yogi*ni lernt man zu unterscheiden, welche Freuden göttlich sind und der Seele gut tun und welche ein leeres Gefühl hinterlassen und über die eigentlichen Themen hinwegtäuschen.” Laut Brooks kann achtsam gewähltes Vergnügen helfen, das Dharma mit Leidenschaft zu erfüllen. “Leidenschaft ist nicht das Problem, sie ist die Lösung.”
Moksha – die Freiheit
Moksha oder Befreiung gilt als das höchste aller Purusharthas. “Im Grunde genommen geht es immer um Freiheit”, erläutert John Friend: “Man will frei sein von bestimmten Dingen und frei, um etwas Bestimmtes zu tun. Frei von Leid und von allen Blockaden, die einen daran hindern, die eigene Stärke und Lebendigkeit zu spüren.” Im allerweitesten, höchsten Sinn ist Moksha gleichbedeutend mit Nirvana, der endgültigen Befreiung aus dem ewigen, Leid stiftenden Kreislauf von Geburt, Tod und Wiedergeburt. “Moksha steht für den Ausstieg aus diesem leidvollen Kreislauf”, so Kempton. “Auch wenn man ein dharmisches Leben führt, gut für sich und seine Familie sorgt, sein Berufs- und Familienleben genießt, wird all das letztlich unbefriedigend bleiben ohne die Praktiken, die zu Moksha führen.”
Dennoch darf man Moksha nicht als einen abgehobenen Zustand verstehen, den es ultimativ und unter Ausschluss der menschlichen Erfahrung zu erreichen gilt. “Hier stellt sich die Frage: Ist Moksha Ziel oder Wesen des Menschen?”, sagt Brooks. “Das heißt, muss man erst frei werden oder wird man frei geboren? Die einen sehen Moksha als etwas Jenseitiges, das Gegenteil von Dharma. Andere argumentieren, dass jeder Mensch vom Wesen her frei ist, hier und jetzt.” Anders gesagt: Die bloße Rückbesinnung auf die uns innewohnende Freiheit verleiht Dharma und allem, was man im Leben tut, Sinn. Es geht um die innere Freiheit. Yoga ist ein ganz praktischer Weg, Moksha zu üben. “Man ist so frei, wie man sich fühlt”, so Brooks. “Wie wäre es mit einem kleinen Perspektivwechsel: Man ist so unendlich frei, dass man Bindung braucht. Woran bindet man sich?” Und hier kommt wieder Dharma ins Spiel.
Zu viel Hamsterrad? Zu viel Freizeit? Auf die Ausgewogenheit kommt es an
Um das Purusharthas-Modell auf das eigene Leben anzuwenden, ist es nicht nur wesentlich, immer wieder die einzelnen Aspekte und ihre Bedeutung zu betrachten, sondern vor allem auch ihr Gleichgewicht. Arbeitest du so viel, um deinen Kindern eine gute Ausbildung zu ermöglichen, dass dein Leben zum Hamsterrad wird? (Zu viel Dharma, zu wenig Kama.) Sind Privatvergnügen für dich so wichtig, dass Familie und Freunde zu kurz kommen? (Zu viel Kama, zu wenig Dharma.) Ist der Gelderwerb so vordergründig, dass keine Zeit zum Meditieren bleibt? (Zu viel Artha, zu wenig Moksha.) Verbringst so viel Zeit mit Yoga, dass du die Miete nicht zahlen kannst? (Zu viel Moksha, zu wenig Artha.)
Die Gewichtung der einzelnen Purusharthas wird immer verschieden sein. Der Schwerpunkt einer jungen Mutter liegt in erster Linie auf dem Dharma der Kindererziehung und dem dafür benötigten Artha. Ein älterer Mann am Ende seines Lebens ist dagegen bereit, Dharma und Artha weitgehend hinter sich zu lassen und wird sich Moksha zuwenden. Ein*e Unternehmer*in in Vertragsverhandlungen wird sich auf Artha und Dharma konzentrieren. Ein*e Student*in in den Semesterferien hingegen gibt sich in den Semesterferien eher Kama hin. Das hat alles seine Richtigkeit. Das Gleichgewicht der Kräfte ist nicht wörtlich zu nehmen. Es geht um den Versuch, ein bewusstes Leben zu führen, das alle Anteile integriert und dem eigenen Wesen entspricht.
Diese Aufgabe beginnt, wie so oft, auf der Matte. “Yoga ist die Kunst, Mensch zu sein”, schließt Brooks. “Die Purusharthas fordern auf, über seine Aufgabe in dieser Welt, seine Werte, Beziehungen und Leidenschaften zu meditieren. Es gilt nicht, diese Aspekte zu heilen, auszulöschen oder zu transzendieren. Sie sind einfach Teil des Lebens. Deshalb bedeutet sie zu integrieren, das Leben zu lieben.”
Mache hier den Purushartha-Check und finde raus, wo du persönlich noch Wachstumspotential hast.
Hillari Dowdle, ehemalige Redakteurin für das amerikanische YOGA JOURNAL, lebt und schreibt in Knoxville, Tennessee.
Foto: Jordan Ladikos/ www.unsplash.com