Pratyahara – der Rückzug der Sinne in der Praxis

Überreizt, gestresst, unkonzentriert – so fühlt man sich im Alltag viel zu häufig. Seltsam eigentlich, dass wir Yogi*nis uns nicht viel bewusster einer alten Praxis zuwenden, die genau darauf eine Antwort kennt. Pratyahara, der Rückzug der Sinne. In dieser Beispiel-Sequenz lernst du, deine Sinne bewusst nach innen zu richten.

Text & Sequenz: Jennifer Rodrigue / Titelbild: RF._.studio _ via Pexels

So bereitest du dich auf die Pratyahara-Sequenz vor

Wärme zuerst den Körper auf und stimme dich innerlich ein, indem du Kind und Hund einige Male im langsamen Wechsel übst. Als Vorwärtsbeugen haben beide Asanas eine beruhigende Wirkung. Du regst die Sinne dazu an, sich von der äußeren Welt abzuwenden. So kannst du nach innen schauen und beobachten, wie du dich zu Beginn der Praxis fühlst. Wenn es dir schwer fällt, dich gleich am Anfang zu entspannen, dann versuche, mit ein paar Runden sanft und langsam geübtem Sonnengruß etwas überschüssige Energie loszuwerden. Wenn deine Atmung ganz von selbst lang und weich wird, bist du bereit für die folgende Übungsstrecke.

Halte während der Sequenz jede Position für 7 bis 10 Atemzüge, bevor du zur nächsten übergehst. Mit der Zeit kannst du auf 15 bis 25 Atemzüge erhöhen.

1. Balasana – Stellung des Kindes

Ziehe jetzt im Fersensitz die Knie etwas breiter als den Rumpf auseinander. Die Zehen berühren sich. Lass den Oberkörper für die Stellung des Kindes nach vorn auf die Oberschenkel sinken. Die Stirn ruht auf dem Boden, auf den Händen oder einem Kissen.

Spüre, wie die Oberschenkel schwer auf die Waden sinken und wie der gesamte Körper sein Gewicht an den Boden abgibt. Beobachte die Atembewegungen, ohne den Atem beeinflussen zu wollen.

Wie lange dauert wie Einatmung?
Wie lange die Ausatmung?
Und wie fühlen sich die Pausen dazwischen an?
Ist der Atem eher flach oder tief? Beginnen irgendwann die Gedanken zu rattern?
Empfindest du die aufgezwungene Ruhe als friedvoll oder eher als unangenehm?

Nach diesen Untersuchungen hebst du den Kopf kurz für einige Zentimeter an. Ziehe das Kinn etwas dichter zur Brust und lege die Stirn in dieser Haltung wieder ab. Dann löst du das Kinn wieder, so dass die Haut auf der Stirn sanft etwas Richtung Augen geschoben wird. In dieser Haltung richtest du die Aufmerksamkeit nach innen und folgst der Atembewegung.

Bleibe 7 bis 10 Atemzüge lang hier.

2. Adho Mukha Shvanasana – Herabschauender Hund

Strecke die Arme aus der Stellung des Kindes nach vorn und verwurzle die Hände in etwas mehr als schulterbreitem Abstand am Boden. Die Haut auf der Stirn ist zunächst noch sanft Richtung Augen geschoben, wenn du nun langsam Flanken und Arme lang machst, die Zehen aufstellst und dann das Becken nach oben steigen lässt in die Stellung des herabschauenden Hundes. Rolle die Schultern weg von den Ohren und halte den Nacken lang und weich. Entspanne deine Augen, indem du dir vorstellst, dass die inneren Lidränder zur Mitte des Kopfs hin schmelzen. Dabei sind die Augen sanft auf einen Punkt gerichtet oder geschlossen.

3. Shalabhasana – Heuschrecke

Lege dich auf den Bauch. Die Beine sind etwa hüftbreit voneinander entfernt, die Arme liegen mit nach oben zeigenden Handflächen längs des Körpers. Strecke dich vom Bauch bis in die Füße in die Länge. Spreize für die Heuschrecke die Zehen und weite die Fußsohlen. Mach den unteren Rücken lang, indem du das Steißbein sanft zum Boden ziehst und die Haut am unteren Bauch Richtung Nabel bewegst. Gleichzeitig wächst der Oberkörper durch die Schädeldecke lang nach vorn. Mit jeder Ausatmung schenkst du dem unteren Rücken erneut Länge. Mit jeder Einatmung streckst du die Beine nach hinten und den Oberkörper nach vorn. Dabei kannst du Kopf, Brust und Arme wie in der klassischen, aktiven Form der Heuschrecke heben oder am Boden liegen lassen.

4. Chandrasana – Halbmond

Du beginnst in Utthita Trikonasana (gestrecktes Dreieck) mit dem rechten Bein vorn und einem Block etwa 30 Zentimeter vor dem rechten Fuß. Mit einer Ausatmung beugst du das rechte Knie, verlagerst das Gewicht auf dieses Bein und setzt die rechte Hand auf dem Block ab. Mit einer Einatmung streckst du beide Beine und lässt das hintere Bein steigen. Wenn sich das sehr wackelig anfühlt, stelle dich mit dem Rücken zur Wand. Finde dein Gleichgewicht und beobachte dabei die Empfindungen in Haut, Muskeln und den Regionen um die Gelenke.

Versuche, das Becken etwas oberhalb des rechten Oberschenkelknochens schweben zu lassen. Entspanne dann bewusst den Atem und löse jedes krampfende Festhalten der Kiefergelenke. Über das gestreckte Dreieck und den Hund gelangst du wieder in die Stellung des Kindes. Erst wenn du dich wirklich bereit fühlst, übe die andere Seite.

5. Ardha Setu Bandha Sarvangasana – Halbe Schulterbrücke

Lege dich flach auf den Rücken und stelle die Füße etwa hüftbreit voneinander entfernt an, dabei sind Knie und Füße parallel zueinander ausgerichtet. Ziehe nun den unteren Rücken in die Länge, bevor du mit einer Ausatmung langsam und vom Bauch ausgehend das Becken hebst. Mit einer Einatmung lässt du sanft auch die Brust steigen und stellst dir dabei vor, Schultern und Oberarme vom Herzen aus nach außen zu drehen. Ist die Haltung vollständig eingerichtet, geht es wieder um die Entspannung der Sinnesorgane. Stell dir vor, du könntest die Ohrläppchen durch den Gehörgang zur Mitte des Kopfes hin schmelzen lassen.

Löse die Position, ruhe dich einige Minuten in Shavasana aus und nimm die bisherige Wirkung deiner Praxis wahr.

6. Janu Shirshasana – Kopf-Knie-Haltung

Du beginnst aufrecht sitzend in Dandasana (Stabhaltung). Schmiege die Sohle des rechten Fußes an die Innenseite des linken Oberschenkels und verwurzle beide Sitzknochen am Boden. Stütze die linke Hand seitlich neben der linken Hüfte am Boden ab und lege den rechten Arm lang auf das linke Bein. Nun beginnst du langsam, den Rumpf nach vorne sinken zu lassen, dabei gleitet die rechte Hand mit nach vorn Richtung linker Fuß und die linke folgt, sobald du dich vom Boden löst. Entspanne die Schädelbasis weg vom Nacken und lass die Stirn auf einem Hocker, einem Block oder dem linken Schienbein ankommen.

Dabei schiebst du die Haut der Stirn wie schon in Balasana Richtung Augen. Sobald du bemerkst, dass du dich in die Vorwärtsbeuge hineinstreckst oder -ziehst, entspanne bewusst die Haut, den Atem, die Kehle und jeglichen Ehrgeiz, tiefer in die Haltung zu kommen. Bevor du die Seiten wechselst, atme einen Moment lang in Dandasana.

7. Pashchimottanasana – Vorwärtsbeuge im Sitzen

Verwurzle anschließend in Dandasana erneut die Sitzknochen am Boden und richte die Sitzhaltung sorgfältig ein. Lass beide Beine von den Leisten aus nach vorne lang werden, bevor du dich aus den Hüftgelenken nach vorn sinken lässt. Entspanne Hüften, Oberschenkel und Bauch. Widerstehe auch hier dem Ehrgeiz, möglichst tief in die Haltung zu kommen. Stattdessen lässt du deine Stirn wieder auf einem Hocker, einem Block oder einer gefalteten Decke ruhen. Lege dafür deine Arme lang nach hinten ab und runde dich nach innen. Wenn du spürst, dass du tiefer gehen kannst, schiebe die Unterlage für den Kopf weiter nach vorn und mach sie niedriger.

Beobachte genau, ob dieser Impuls nicht vielleicht vom Geist ausgeht. Gib deshalb jeglichen Gedanken daran auf, dich anzustrengen und die Vorwärtsbeuge zu intensivieren. Stattdessen entspannst du den Nasenrücken und lässt deine Sinne im Rhythmus des Atems zur Ruhe kommen.

8. Shavasana – Totenstellung

Staple am oberen Ende deiner Matte zwei Blöcke übereinander. Lege dich auf den Rücken, die Blöcke ungefähr 7 bis 8 Zentimeter hinter dem Kopf. Lege ein längliches und etwas schwereres Kissen (oder einen kleinen Sandsack, falls du hast) auf die Blöcke, so dass ein Drittel auf deiner Stirn liegt und die Haut in Richtung Augen schiebt. Das beruhigt die Nerven. Das Gewicht des Kissens sollte gleichmäßig auf der rechten und linken Seite deines Kopfes ruhen und nicht auf die Nasengänge drücken.

Stell dir mit geschlossenen Augen vor, dass du direkt auf die Stelle siehst, wo das Kissen auf deiner Stirn ruht. Von diesem Punkt aus lass den Blick nach innen wandern. Stell dir vor, du bist unter Wasser, mitten im Meer, und siehst der Strömung deines Atems zu. Lassen den Atem ganz natürlich fließen und beobachte ihn einfach nur. Sinke immer tiefer in die Wahrnehmung deines Körpers und deines Atems hinein und bleibe 5 Minuten so liegen – oder auch länger.


Diese Sequenz stammt von Jennifer Rodrigue. Sie ist Yogalehrerin und Autorin in San Francisco und war bis 2013 Redaktionsleiterin beim amerikanischen YOGA JOURNAL.

In ihrem Intro-Artikel erfährst du noch mehr über Pratyahara und wie du den Körper in die Praxis miteinbeziehst:

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