Ich fühle mich getäuscht. Meine Yogapraxis war keine Immunität für schwierige Situationen. Dabei hätte sich Yoga doch wie eine Bannmeile um mein Leben legen sollen. Schwierigen Situationen und unangenehmen Menschen bliebe der Zutritt untersagt. Wenn ich mich in meinem Leben umschaue, dann fällt mir auf. Same same – but different. Bietet Yoga Lösung aller Probleme?
Bezüglich schwieriger Lebensumstände muss ich leider feststellen: Bislang ist der Mose-Effekt ausgeblieben. Meine Yogapraxis gleicht nicht jenem Stab, der es Mose ermöglichte, trockenen Fußes durch das Rote Meer zu waten. Ich übe Nörgelei und Enttäuschung darüber, dass ich trotz komplexer Armbalancen immer wieder mit den Untiefen des Lebens konfrontiert werde. Darin gleiche ich eher Hiob, der vom gottesfürchtigen und ehrenwerten Mitbürger zum Lamentierer mutierte. Hiob und ich haben eigentlich nichts gemeinsam. Die Geschichte des Alten Testaments zeigt aber, dass selbst die stärkste Gottesfürchtigkeit oder Yogapraxis einknicken können. Mir geht es mit Letzterem ganz oft so. Warum ist das in der Yogaszene kein wirkliches Thema?
Mit einem strahlenden Lächeln…
Liest man die Biographien von Yogis, dann handelt es sich meist um Lebensläufe. Diese bewegen sich in einer kontinuierlichen Aufwärtsspirale. Ausgangspunkt war bei vielen die Krise. Diese scheint aber ein für alle Mal überwunden. Kein Blick mehr zurück. Ganz nach dem Motto: Vorwärts immer, rückwärts nimmer. Alle scheinen unentwegt glücklich.
Zugegeben: In einer vollen Umkleidekabine spart man das eine oder andere weniger erfreuliche Lebensdetails aus. Wenn man von einer schmerzhaften und unlösbaren Veränderung im Leben spricht, sind die wenigsten Yogis um einen schlauen Spruch verlegen. “Das zahlt sich irgendwann einmal aus. Es ist eine Phase, die Dich weiterbringt.” Diese Sätze höre ich zu oft, zu schnell und zu häufig. Spätestens dann habe ich das Gefühl, als hätte ich etwas wichtiges nicht verstanden. Kommt das von aufgelöster Dualität? Dass wir jede Situation und jede Schwierigkeit in ihren schönsten Farben strahlen sehen? Wenn wir unser ganzes Bewusstsein, unsere Sprache und unsere Haltung auf harmonischen Konsens bürsten, ist dann nicht zu befürchten, dass wir gegenüber den wahren Hiobsbotschaften dieser Welt abstumpfen?
Gerade in der westlichen Yogawelt herrscht die Tendenz, sich auf die freundlichen, guten und schönen Seiten des Lebens zu konzentrieren und diese zu stärken. Das kommt besonders in der Betonung der Körperlichkeit zum Ausdruck. Sicher haben die Lifestyle-Magazine ihren Teil dazu beigetragen, dass Yoga viel zu oft als reines Körperstyling vermarktet wird. Aber auch dort, wo keine Paparazzi vor den Yogastudios warten, um Stars nach ihrer Yogastunde Wasserflasche tragend abzufotografieren, fehlt mir oft die kritische Auseinandersetzung und Konfrontation mit dem Leben. Und dem Teil von Yoga, der sich nicht auf die Körperlichkeit konzentriert. Warum geben wir uns konstant dem Kraftakt hin, mit jedem und allem um uns herum im Einklang sein zu müssen und dabei noch gut aussehen zu wollen? Das hat beinahe schon “Klum”esque Züge.
Ich kann nichts dafür, es ist mein Gehirn!
Ich weiß, dass es ein Wiederspruch ist, aber wenn ich tatsächlich einmal einen meiner Yogalehrer jammern höre, bin ich verunsichert. Mein geschätzter Lehrer, meine geliebte Lehrerin schienen immer über allem zu stehen. Aber sind sie auch nur ein Mensch mit den üblichen weltlichen Problemen? Also: Ärger mit dem Finanzamt, mit dem Arbeitgeber. Probleme in der Partnerschaft oder verhaftet in einem lähmenden Verhaltensmuster mit einer eingebauten Rewind-Taste. Bietet dabei Yoga Lösung? Warum scheint der Graben zwischen yogischer Erkenntnis und richtigem Handeln so unüberwindbar groß?
Auf der Suche nach einer Erklärung gibt die Neurodidaktik aufschlussreiche Hinweise. Eines wird dabei sofort klar. Wir haben es mit einem starken Gegner zu tun. Nämlich unserem Gehirn. Die Neurodidaktik führt verschiedene Ansätze didaktischer und pädagogischer Konzepte mit Erkenntnissen der Neurowissenschaften zusammen. Insbesondere aus der Hirnforschung. Ob wir eine Erkenntnis in die Tat umsetzen und uns dafür auf den steinigen Weg des Umdenkens begeben, hängt davon ab, wie attraktiv uns ein Lernprozess erscheint. Was wir lernen oder nicht, ist multifaktoriell bedingt. Manche Faktoren können wir nicht beeinflussen. Etwa die Motivation und Glaubhaftigkeit unserer Lehrer, den kognitiven und emotionalen Lernvorraussetzung und dem Umfeld, in dem wir aufwachsen und leben.
Am Ende untersteht der Lernprozess aber dem Profanen, und weniger den höheren Werten. Ob wir wirklich bereit sind, etwas Neues zu lernen, hängt davon ab, ob das Gelernte auch belohnt wird. Folgendes Beispiel soll diesen Mechanismus erklären. Ich habe einmal von der folgenden Antwort des Musikers Billy Joel in einem Interview gehört. Warum wollte er unbedingt Klavier spielen lernen wollte? “Um die Mädchen zu beeindrucken.” Zu Highschool-Zeiten konnte Joel nämlich mit den sportlichen Football- und Basketballspielern nicht mithalten. Er hatte aber festgestellt, dass Frauen ganz hingerissen waren, wenn man für sie Klavier spielte. Auf jeder Party, die ein Klavier zur Verfügung hatte, stand er fortan im Mittelpunkt. Das Piano war umringt von den Schönheiten seiner Schule, die schmachtend sein Spiel verfolgten.
Eine Lernsituation muss dem Lernenden attraktiv vorkommen. Das Gehirn reagiert auf extrinsische Belohnungen. Setzen wir uns aber mit Yogaphilosophie auseinander. Man stellt fest, dass Yoga von einer Tugend getragen wird, die auf Innerlichkeit setzt. Und wer applaudiert mir denn, wenn ich es schaffe, beim Anblick des Briefes vom Finanzamt ruhig und gelassen zu bleiben oder ich bei der Aufforderung zur Steuernachzahlung nicht in Panik gerate? Wer klopft mir auf die Schulter, wenn ich in der heißen Phase einer Diskussion gelassen abwarte und nicht darauf abziele, am Ende die besseren Argumente vorzuweisen? Habe ich die Kraft, mir ständig meine eigene Schulterklopferin zu sein? Ein schrecklicher Gedanke!
Die westliche Yogawelt geht widersprüchlich mit den yogischen Erkenntnissen um. Das ist nicht zu übersehen. Einerseits werden auf jedem Yogaflyer innere Qualitäten wie Ruhe und Gelassenheit hervorgehoben. Zusätzlich setzt die Yogakultur genau wie alle anderen auf schicke Yogaklamotten, einen schlanken Körper und eine gewisse Ästhetik bei der Einrichtung der Studios. Diese erinnern vielerorts eher an hippe Lounges. Werden uns die yogischen Tugenden also Anreiz genug sein, dass wir uns mit aller Wucht gegen alte Handlungsmuster stemmen? Auch, wenn uns eine Belohnung im konventionellen Rahmen eventuell verwehrt bleibt? Unser Gehirn entscheidet.
Yoga Lösung nur bei Erwerbstätigkeit?
Im Herbst 2008 auf der Brooklyn Bridge geriet ich in den berühmten Avon Walk gegen Brustkrebs. Tausende Frauen mit glühenden Gesichtern und entschlossenem Marschschritt brachten die Brücke beinahe zum Erbeben. Sie trugen T-Shirts mit Aufschriften wie “We will win the war against breast cancer”. Oder “Fight breast cancer”. Am Ende auf der Manhattan-Seite angekommen, war der Strom der Aktivistinnen noch nicht schwächer geworden. Unter diesen gefühlten zehntausend Frauen befanden sich exakt zwei Frauen of Color Herkunft. Ich war in eine Veranstaltung geraten, die vorgab, sich mit allen Frauen in den USA zu solidarisieren. Aber sie hatte es nicht geschafft, die nicht-weiße Bevölkerung mit ins Boot zu holen.
Genau das gleiche Bild liefert mir die urbane Yogaszene, zumindest in Deutschland. Von außen betrachtet suggeriert dieser Zirkel, dass jeder willkommen ist. Dass in Yogastudios Gegensätze – auch soziale – überwunden werden. Für Gleichheit im Yoga gibt es aber weit und breit noch keinen Beweis. Die Eintrittspreise zur Yogastunde können sich nur wenige leisten. 10er-Karten, Halbjahres-Abos, Workshops oder gar Retreats. Alles ist kostspielig und setzt einen monetären Spielraum voraus. Der durchschnittliche Yogi ist weitgereist, mehrsprachig, gesundheitsbewusst und verfügt über ein regelmäßiges Einkommen. Also muss sich die Yoga-Community Fragen stellen. Setzt das Erlernen von Spiritualität eine Erwerbstätigkeit über dem Hartz IV-Niveau voraus? Dringt Yoga zu den Außenrändern der Gesellschaft vor? Oder hören wir sein Echo nur in bessergestellten Vierteln?
Momentan muss ich feststellen: Wir Yogis bleiben unter uns. Yoga verbindet Gleichgesinnte mit unterschiedlichen Persönlichkeiten. Das große Ziel ist jedoch, die Auflösung des Dualismus. Das beschränkt sich bislang bei viel zu vielen Yogis auf das Private. Denn immer noch hält sich hartnäckig eine Vorstellung. Yoga wird eben noch nicht gesellschaftsübergreifend praktiziert. Diese “guten Vibes” täuschen über die Realität hinweg. Für die Weiterentwicklung des Yoga brauchen wir LehrerInnen aus verschiedenen Gesellschaftsschichten. Natürlich sind Lebensläufe immer hochindividuell. Allerdings sind sich die Eckdaten der yogischen Hauptklientel bisher bezüglich Herkunft und Bildung zu ähnlich.
Feige, dreckig und gemein. Auch ein Teil von mir, trotz der scheibaren Yoga Lösung.
Die Öffnung hin zur Außenwelt geht neuerdings zum Glück voran. Viele Yogastudios bieten Yogaklassen auf Spendenbasis an. Organisationen wie “Off the Matt into the World” möchten die Qualitäten, die Yoga in uns weckt, in Aktivismus umsetzen. Ein großer Schritt ist getan, Yoga allen zugänglich zu machen. Auch denen, die nicht zum üblichen Klientel gehören.
Es gibt aber immer wieder Tage, an der Yoga Lösung zweifeln werde. Natürlich ist mir bewusst, dass alles in meiner Hand liegt und Yoga nur das Werkzeug ist. Doch beim Lesen der verheißungsvollen Botschaften der Yogaszene vergesse ich das manchmal. Für mich persönlich bedarf eines regelmäßigen Abgleichs meiner Vorstellung von Yoga und der Wirklichkeit. Denn wie ein Schaf hinter einer Lehre her zu trotten ist gefährlich. Wir können viel mehr sein als nur Schafe, um es mit einem Gary-Larson-Comic auszudrücken.
Mehr zum Thema spiritueller Aktivismus als Yoga Lösung gibt’s hier.
Mit Yoga akzeptierte ich meinen Skeptizismus als eine nötige Triebkraft in meinem Leben. Die Liebe zum Hinterfragen und Anzweifeln schleift Pranayama nicht ab. Zweifellos hilft mir Yoga dabei, das Unangenehme besser zu ertragen. Oder die richtigen Fragen zu stellen. Am Ende des Tages rolle ich auch während persönlicher Krisenzeiten immer meine Yogamatte aus. Machen wir uns nichts vor. Außer dem Duft meines Kindes, einem regelmäßigem Einkommen, Antibiotika zum richtigen Zeitpunkt und den Simpsons, ist ein Satz Sonnengrüße für mein Wohlbefinden unschlagbar.
Über die Autorin! Diana Krebs arbeitet als freie Texterin in Berlin. Das Foto von Yan Krukov von Pexels.