Das Prinzip des Gleichgewichts
Scheinbare Gegensätze prägen unser Leben und der erster Impuls ist oft, sich für eine Seite entscheiden zu müssen. Diese Sehnsucht nach einem einfachen Richtig-falsch ist eine zutiefst menschliche, aber sie grenzt wesentliche Teile des Meinungsspektrums zwangsläufig aus. “Jeder hat recht, aber nicht ganz”, heißt es dagegen in der integralen Theorie von Ken Wilber. Auch im Yoga kennen wir das Prinzip des Gleichgewichts gegensätzlicher Kräfte, zum Beispiel in Sthira Sukham Asanam, dem Ausgleich von Anstrengung und Mühelosigkeit, von Stabilität und Weichheit. Dabei geht es nicht um ein schulterzuckendes “Mir doch egal” – ganz im Gegenteil. Wir lernen, die Balance zu halten, unsere Mitte zu finden und uns aus dieser inneren Balance heraus vom Richtig und Falsch aller anderen nicht beeindrucken zu lassen.
Jeder Mensch kann und darf für sich selbst stehen. Nicht im Sinn einer starren Beharrung, sondern im Sinne von Viveka:
Wir bemühen uns um Klarheit und Unterscheidungsfähigkeit, erforschen unsere eigenen Antreiber und Glaubenssätze. Das ist keine kleine Sache. Auch unter Druck, inmitten von Angst, Polemik und Krisen, die Antriebe unserer Handlungen zu verstehen und darüber Rechenschaft ablegen zu können – sie aus unserem ganzen Sein heraus begründen können, das fordert uns sehr viel ab. Wenn wir das nicht können, dann folgen wir einem Kollektiv und machen uns Meinungen zu eigen, die in Resonanz mit irgendetwas sind, das wir meist gar nicht genau verstehen. Wir tun, was “richtig” genannt wird, weil es sich besser anfühlt, dazu zu gehören.
“Inmitten von Angst, Polemik und Krisen die Antriebe unserer eigenen Handlungen zu verstehen und sie begründen zu können, fordert uns viel ab.”
In diesem Sinn wäre eine ernsthafte Yogapraxis zutiefst politisch: Wir schaffen Raum zwischen Impuls und Handlung, wir hinterfragen unsere inneren Impulse und Motive, statt Headlines, Bildern und Wortführer*innen hinterherzulaufen. Wir halten inne, spüren nach und merken, was gerade jetzt wirklich von uns verlangt wird. Wir können (und in diesem Fall, finde ich, wir müssen) uns fragen: Wofür stehe ich eigentlich wirklich ein – was bedeutet für mich Demokratie, was bedeutet für mich “rechts” und wo in meinem Umfeld erlebe ich tatsächlich Umstände, gegen die ich mich wenden möchte?
“Bewusstheit ist die Grundlage, um abwägen zu können, wo ich mich einsetze und wo ich mich zurückhalte. Es geht ja auch darum, ein anpassungsfähiges Gehirn zu entwickeln”, sagte uns Anna Trökes im Interview zu ihrem Statement. Und sie zitierte den Dalai Lama: “Ich gebe niemandem das Recht, die Ruhe meines Geistes zu stören.” Die brauche man, um klar abwägen zu können. Als Yogi*ni nehmen wir also ruhig und bewusst unsere Haltung ein und wissen: Wie ich mich zur Welt stelle, hat immer einen Bezug zur Gemeinschaft und ist damit ein Politikum.
Und dann ist da noch Ahimsa

Gandhi, der den ihm zugewiesenen Ehrentitel “Mahatma” nie selbst führte, war wohl der bekannteste Vertreter der Gewaltlosigkeit und hat die yogische Idee von Ahimsa im Westen bekannt gemacht. Für viele Yogaübende ist sie eine wichtige Basis auf ihrem Yogaweg, und auch ich chante nach dem Üben das “Om Shanti Shanti Shanti”, das uns zu umfassendem Frieden aufruft. Wenn wir Politik als die Kraft verstehen, die das Zusammenleben der Gemeinschaft regelt, dann wäre ein friedliches Zusammenleben wohl das Ziel erfolgreicher Politik.