Ist weibliche Spiritualität das Gegenstück zur männlichen Praxis? Seit jeher prägten spirituelle Traditionen die Gesellschaft. Aber welche Rolle spielt die weibliche Spiritualität? Was macht die weibliche Übermacht mit Yoga? Und welche Chancen stecken darin?
Text: Diana Krebs, Fotos: Elly Fairytale via Pexels
Die Gesellschaft wurde von der männlichen spirituellen Erfahrung geformt. Das machte den Zugang zum Spirituellen exklusiv. Die Erfahrungen von Frauen, Kindern und Bedürftigen werden ausgeklammert. “Aber es gab doch Frauen, die spirituelle Traditionen mitgestalteten?” – Durften sie dabei ihre eigenen Erfahrungswerte einbringen? Oder wurden ihre Erfahrungen gering geschätzt?
Frauen spielten in Religion und Spiritualität stets eine Rolle. Die katholische Kirche hat mit Maria einen geschickten Schachzug vollzogen. Schließlich ist Maria eine gute Identifikationsfigur. Frau, Mutter und Leidende. Aber das Konzept täuscht es doch darüber hinweg, dass sie selbst keine Göttin ist. Sie ist heilig, aber nicht göttlich. In der christlichen Lehre ist die Erlöserrolle klar verteilt. Maria ist die Trostspenderin, auch wenn sie bei ihren Verehrerinnen mehr als das ist. Damit die Frau in der katholischen Kirche sich nicht zu wichtig nimmt, wurde noch ein Haken eingebaut. Die unbefleckte Empfängnis. Maria wird damit die Körperlichkeit abgesprochen. Ein frauenfeindlicher Zug und ein wichtiges Merkmal des Monotheistismus. Weder kann man als Frau im Christentum die volle Menschlichkeit erlangen. Noch wird man wegen Empfängnis geschätzt.
Yoginis auf dem Vormarsch
Die Partizipation, die Frauen in den meisten spirituellen Traditionen untersagt blieb, ist im Yoga scheinbar vorhanden. Die Praktizierenden und Lehrerinnen sind überwiegend weiblich. Die Yoginis geben dem Yoga ein neues Gesicht. Doch gibt es einen Vormarsch einer weiblichen Spiritualität? Und was ist weibliche Spiritualität?
Wie sieht eigentlich das Leben einer durchschnittlichen Yogini aus? Das ist vollkommen unterschiedlich. Die eine lebt in der Stadt, die andere auf dem Land. Die eine hat Kinder, die andere keine. So lässt sich das unendlich weiterführen. Frauen sind auf den gleichen Bühnen wie ihre männlichen Kollegen. Das Einzige, was sie eint, ist vermutlich folgende Tatsache. Sie haben sich bislang nicht von der Außenwelt zurückgezogen. Sie alle sind tagtäglich dem Alltags konfrontiert. Diese Erfahrungen werden im spirituellen Kontext kaum thematisiert. Lama Christie McNally ist eine der wenigen weiblichen westlichen Lamas. Gerade erst hat sie ein dreijähriges Schweige-Retreat in der Wüste Arizonas beendet und sprach in Berlin und München über ihre Erfahrungen. Vorab kaufte ich mir “Das tibetische Buch der Meditation” über die Formen der Meditation. Beim Lesen ihres Buches stelle ich fest. Im Grunde ist sie eine ganz normale Suchende. Nur hat sie diese Suche etwas ernster genommen. Ihr Vortrag ist interessant.
Extreme Erfahrungen
Aber was haben die spirituellen Erkenntnisse durch dreijährigen Rückzug in die Wüste mit mir zu tun? Sind meine Erfahrungen als Frau, Mutter, Tochter, als Teil der Gesellschaft, politisch Aktive, weibliche Arbeitskraft und beste Freundin nicht spirituell? Ich finde es tief beeindruckend, dass sie sich drei Jahre lang in die Wüste zurückzieht, um mich später mit ihrer bloßen Präsenz zu faszinieren. Allerdings hilft mir das nicht weiter. Denn ich sehe meine Erfahrungen als Teil der Gesellschaft nirgends widergespiegelt. Sollen die Belehrungen von allen, die sich längere Zeit zurückziehen, diejenigen sein, die ich für meinen Alltag benötige?
Ich suche also weiter nach Identifikationsfiguren. Mir fallen meine Großmutter und sämtliche Frauen meiner Familie ein. Meine Großmutter war eine unglaubliche Frau, die sich während des Zweiten Weltkriegs um einen Bauernhof und drei kleine Kinder kümmerte. Später pflegte sie ihren an den Rollstuhl gebundenen Ehemann. Sie war eine kleine Person von nicht mal 1,60 Metern. Ihr Ehemann war doppelt so groß und schwer. Doch sie wuchtete ihn in den Rollstuhl, von dort auf die Toilette und abends wieder ins Ehebett. Und jeden Tag dankte sie ihrem Schöpfer für ihr Leben. Sie war bis ins hohe Alter fit. Nur ihren Hausschlüssel verlegte sie ab und zu. Wenn sie ihn wieder einmal suchte, dann legte sie einfach eine Pause ein und sagte. “Herr Jesus, du weißt, wo sich mein Schlüssel befindet. Bitte zeige mir, wo er liegt.” Selbstredend, dass jeder Schlüssel wieder auftauchte. Sie ist die spirituellste Frau, die mir je begegnet ist.
Der Alltag zählt
Damit möchte ich die Erkenntnisse von Lama Christie nicht abwerten. Nur sind die Erfahrungen meiner Großmutter nie aufgewertet oder als spirituell betrachtet worden. Doch es sind diese Erfahrungen, die die andere Hälfte der Menschheit gemacht hat. Während die Männer das Leben bestritten und daraus Lehren ableiteten. Es sind die Praktiken der Männer, die im Christentum oder im Yoga Bedeutung hatten. Früher beruhte Spiritualität auf den Erfahrungen der “ausgezogenen” Männer. Wenn wir von einer weiblichen Spiritualität sprechen, dann von einer der “Daheimgebliebenen”. Was kennzeichnet eine weibliche Spiritualität im Yoga? In ihrem sehr spannenden Buch “Yogini – The Power of Women in Yoga” gibt Janice Gates eine Übersicht, wie Frauen Einfluss auf die Yogaphilosophie genommen haben. Und es noch immer tun.
Die Verbannung der Frau aus dem Yoga
Die ersten yogischen Zeugnisse belegen, dass Frauen eine aktive Rolle im spirituellen Kontext einnahmen. Sie waren dabei nicht ausgeschlossen, sondern wurden gleichgesetzt mit Fruchtbarkeit, Wachstum, Überfluss und Wohlstand. Im frühen Yoga, etwa 2600 bis 1600 v. Chr., gab es keine Trennung zwischen dem Menschlichen und dem Göttlichen. Auch die heiligen Schriften weisen darauf hin, dass eine weibliche Göttin ebenso wichtig war wie ein männlicher. Frauen waren dabei als Lehrerinnen, Priesterinnen und Heilige wichtiger Bestandteil. Sie waren aktiv involviert und gleichberechtigt.
Aber wie in den meisten Traditionen wurden sie auch im Yoga aus diesem Bereich verbannt. Der Brahmanismus (etwa 900 bis 600 v. Chr.), der zu Hinduismus und dem Kastenwesen führte, leistete der patriarchalen Spiritualität Vorschub. Frauen wurden in der vedischen Gesellschaft zunehmend als unrein betrachtet. Weibliches wie Menstruation, Schwangerschaft und Geburt bedrohten die brahmanischen Priester.
Ein Gleichgewicht?
Die Upanishaden verschoben den Fokus von den exklusiven Ritualen der Brahmanen hin zur inneren Spiritualität. Doch erst mit der Bhagavad Gita wurde den Frauen der Wiedereintritt gewährt. Darin ist zu lesen, jeder könne am spirituellen Leben teilhaben und es mitgestalten. Zwar betonte die Bhagavad Gita nach wie vor Jnana Yoga, das Yoga des Wissens. Das Besondere aber war die dargestellte Verbindung zwischen spiritueller Praxis und Alltagsleben durch Karma und Bhakti Yoga. Für Erleuchtung war nicht der Rückzug nötig, sondern genau das Gegenteil. Was war spirituell und was nicht? Das entschieden nicht länger die Priester, die sich auf ihre einseitig männlichen Erfahrungen beriefen und diese als universell verkauften.
Auch Patanjalis Yoga-Sutren stärken das Bhakti Yoga und damit das Weibliche. Mit dem Tantra war schließlich auch die spirituelle Wiedergeburt der Frau möglich. Tantra stand im Gegensatz zu den Lehren der Brahmanen. Der Körper war nicht mehr Hindernis auf dem Weg zur Erleuchtung. Sondern vielmehr eine Manifestation von Shakti, der göttlich-femininen Kraft. Der Körper wurde als Vehikel auf dem Weg zur Erleuchtung betrachtet. “Diese revolutionäre Spiritualität lehrte, dass Erleuchtung nirgendwo anders erlangt wird als im Hier und Jetzt”. So Gates in ihrem Buch. Tantra wurde dann zum Vorläufer des Hatha Yoga.
Frauen prägen das Bild des zeitgenössischen Yoga
Gates’ Buch über das Wirken dieser außergewöhnlichen Frauen zeigt. Weiblichkeit ist nicht an einer Sache festzumachen. Sondern an einer Vielfalt von Erfahrungen. Die Alltagserlebnisse bilden dabei die Basis ihres Yogaunterrichts. Wie etwa Schwangerschaft und Geburt. Oder Angela Farmer, die ihren Körper nicht in starren Yogahaltungen gefangen sehen wollte. Oder Sharon Gannon, die den Unterschied zwischen Demut und Erniedrigung aufzeigen möchte. Da im Yoga ein Oberhaupt fehlt, können Frauen hier mit Spiritualität experimentieren. Denn ihre (Alltags-)Erfahrungen unterscheiden sich von den männlichen. Im Yoga kann eine Geschlechterdemokratie gelebt werden, wie sonst kaum in spirituell-philosophischen Kreisen.
Lehrerinnen wie Indra Devi waren Wegbereiterinnen für ein neues Yoga. Sie bringen weibliche Erfahrungen ein. Viele weibliche Stimmen sind verloren, weil sie als unwürdig galten. Die Frauen agierten am Rand. Sie hielten die Gemeinschaft zusammen, kochten und kümmerten sich um Kinder und Alte. Diese Erfahrungen allerdings kommen in den heiligen Schriften nicht vor. Sie waren Gegenteil zu Sakral-Männlichen. Dabei sollten wir unsere Erfahrungen selbstverständlich einbringen. Denn jeder Augenblick ist heilig. Weibliche Spiritualität ist Alltagsspiritualität.
Yoga als Alternative, Weiblichkeit zu leben
Lass uns beginnen, das aufzuschreiben und auszulegen. Und die bestehenden Schriften mit unseren Erfahrungen interpretieren. Doch wie soll das funktionieren? Was ist am morgendlichen Gedrängel in der U-Bahn yogisch-spirituell? Daraus kann man eine Menge herausholen! Wir können darüber schreiben. Wir können uns diese Erfahrungen mit der Yogaphilosophie ansehen. Denn die wenigsten werden sich länger meditativ zurückziehen. Weil die Yoga uns menschliche Ganzheit bietet. Was viele Feministinnen im Christentum vermissen, ist das A und O im Yoga.
Weibliche Spiritualität birgt tiefe Veränderung. Sie trägt zudem einen revolutionären Geist. Außerdem spricht sie wütend und liebevoll bisher verschwiegenes aus. Sie passt in kein Schema. Davon profitieren auch die Männer. Weiblichkeit ist so vielfältig und wandelbar wie Frauen selbst. Davon profitiert jede spirituelle Praxis. Wenn sie den Mut hat, undogmatische Vielfalt anzuerkennen. Hört sich irgendwie nach Yoga an, oder?
Danke für diesen wunderbar interessanten und ermutigenden Artikel ❤️
Wunderschöner Artikel! Danke! Ich habe Lust auf mehr Infos bekommen 🙂