In der kalten Jahreszeit gibt es nur wenige Gelegenheiten Sonnenstrahlen zu tanken. Daher müssen wir uns immer öfter unserer inneren Sonne bewusst werden. Und was bietet sich da besser an als den Sonnengruß zu üben. Doch was hat es damit überhaupt auf sich?
Ich stehe am vorderen Ende meiner Matte, spüre meinen Körper und die Atmung und weiß: Gleich wird mich der Fluss der vertrauten Bewegungen wieder mit sich davontragen. Ausatmen, Hände aneinanderlegen, einatmen, die Arme heben und meine Körpervorderseite weiten, dann Vorwärtsbeuge, Ausfallschritt, Bretthaltung, Acht-Punkt-Haltung, Kobra, Hund – und so weiter, immerzu so weiter. Ich liebe Surya Namaskar, den Sonnengruß!
Auch wenn er in vielen Yogastunden auf die Funktion eines praktischen Aufwärmprogramms reduziert wird, wissen wir doch alle: Der Sonnengruß ist sehr viel mehr als das. Nicht umsonst heißt er auch „Sonnengebet“: Seine tiefere Bedeutung ist die dankbare Hinwendung sowohl an den großen, leuchtenden Himmelskörper als auch an das spirituelle Licht in uns selbst. „Du grüßt die äußerliche Sonne für ihre lebensspendende Kraft und deine innere Sonne, weil sie Bewusstsein schafft“, erklärt der Yogalehrer und Buchautor Richard Rosen. Dabei kann eine bewusstere Verbindung entstehen zwischen mir selbst als Individuum und dem großen Ganzen des Kosmos, zwischen Materie und Energie. Aber es geht noch viel konkreter: Marianne Vidya Scherer schreibt in ihrem Buch „Sonnenyoga“, dass die traditionelle Vorstellung darin bestand, beim morgendlichen Üben „das strahlende Licht der aufgehenden Sonne sowohl körperlich als auch geistig in sich aufzunehmen“. Im wahrsten Sinne des Wortes also: Sonne tanken!
Zwar weiß niemand so genau, wann Yogis damit begannen, die Sonne mit rituellen Bewegungen zu verehren und wie diese ersten Sonnengrüße überhaupt aussahen, aber für viele steht fest: Die Tradition des Sonnengrußes reicht viele Tausend Jahre zurück und wurzelt in einer rituellen Sonnenanbetung, wie sie in vielen alten Kulturen verbreitet war. Für die Grundform des heute praktizierten Surya Namaskar führt die Spur nach Ansicht der meisten Forscher allerdings „nur“ zurück bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts. In einem damals entstandenen Kommentar zur Hatha Yoga Pradipika findet sich der erste schriftliche Nachweis. Konkrete Beschreibungen und Anleitungen wurden sogar erst im 20. Jahrhundert aufgezeichnet – in der Zeit des großen Yogapioniers Krishnamacharya und des Raja von Aundh, die beide überliefertes indisches Wissen auch mit einer westlichen Vorstellung zur „körperlichen Ertüchtigung“ in Verbindung setzten.
Vielleicht ist genau diese Kombination aus traditionell spirituellen und rein physischen Aspekten einer der Gründe dafür, warum der Sonnengruß aus dem modernen Yoga nicht mehr wegzudenken ist: Fast alle seine frühen Protagonisten haben eine oder mehrere Varianten unterrichtet, von Sivananda über B.K.S. Iyengar und Patthabi Jois bis hin zu Dhirendra Brahmachari oder Yogi Bhajan. Entsprechend gibt es Dutzende verschiedene Varianten – und jedes Jahr kommen neue dazu: regenerative Sonnengrüße und akrobatische, stille, behutsame und schweißtreibende. Am bekanntesten und verbreitetsten sind mit Sicherheit die eingangs beschriebene Abfolge von Sivananda und die für Ashtanga Yoga typischen Surya Namaskar A und B nach Patthabi Jois.
Aber egal, ob Sie eine sehr bekannte oder Ihre ganz individuelle Variante üben: Irgendwo entsteht im Lauf der Monate und Jahre eine feine Grenze zwischen wohltuend fließender Routine und völlig unbewusstem Autopiloten-Modus. Dass der einsetzt, merken Sie vielleicht daran, dass Sie spätestens während der dritten Runde in Gedanken Ihre To-do-Liste durchgehen. Um dem vorzubeugen und die Aufmerksamkeit zu halten, kann man das Tempo variieren, man kann verschiedene Intentionen oder Schwerpunkte für die Aufmerksamkeit setzen, zum Beispiel mithilfe von Mantras. Oder man versucht sich ab und zu mal an etwas ganz Neuem.
Der renommierte Ashtanga Yogi Tim Miller fühlte sich nach einem Iyengar-Workshop bei Roger Cole dazu inspiriert, eine typische Abfolge von Stehhaltung aus dem Iyengar Yoga in den ihm vertrauten Ashtanga-Sonnengruß B hineinzuweben. „Ich nenne es Sun Salutation C“, sagt Miller. „Es ist so etwas wie ein Riff in einer Jazz-Improvisation: Die bekannte Struktur von Surya Namaskar B wird immer wieder aufgenommen, aber erweitert durch neue, interessante Elemente.“ Mit seinen anspruchsvollen Gleichgewichts- und Drehhaltungen ist diese Variation sicher eher etwas für erfahrene Yogis – so schnell kommt man hier jedenfalls nicht in den Autopiloten. Unser Model Constanze Witzel hat es ausprobiert und sagt: „Ich mag die Intensität dieses Sonnengrußes sehr – man fühlt sich danach kraftvoll und gestärkt. Außerdem sagt man ja, dass intensive Twists wie diese einen Detox-Effekt haben, und das motiviert mich natürlich noch mehr.“
Dem genau entgegengesetzten Prinzip folgt die Sonnengruß-Variation der Viniyoga-Lehrerin Robin Rothenberg). Als Yogatherapeutin hat sie viel mit Menschen zu tun, die sich erschöpft und kraftlos fühlen. Ihnen bietet sie einen Sonnengruß an, der bewusst nicht zum Auspowern einlädt und stattdessen auf die Verbindung zu einem tiefen, nährenden Atem setzt. Auch bei Schulter- und Armverletzungen oder generell bei instabilen Gelenken (zum Beispiel im Zusammenhang mit hormonellen Umstellungen) kann diese Variante genau das Richtige sein: Sie geht vom Kniestand aus, enthält keine armgestützten Haltungen und entlastet konsequent die Gelenke.
Aber auch wenn Sie am liebsten bei Ihrem vertrauten Sonnengruß bleiben: Erinnern Sie sich ab und zu daran, was er bedeutet, und genießen Sie die Kraft und Vitalität, die er Ihnen jeden Tag aufs Neue schenken kann.
Foto: Jeremy Bishop