Mehr Power durch Prana – von Rod Stryker

Einer der Gründe, warum Yoga es immer wieder schafft, dass man sich kraftvoll, mobil, entspannt und rundum wohl fühlt, heißt Prana. Das yogische Konzept von Lebenskraft und Vitalität steht im Zentrum fast aller Yogastile. Hier liest du, warum es so wichtig ist und wie es funktioniert.

Text: Rod Stryker / Titelbild: Becca Tapert via Unsplash

Mittlerweile gibt es Dutzende, wenn nicht gar Hunderte Yogastile. In manchen kuschelt man sich bei Kerzenlicht sanft in warme Decken und lässt den Körper in eine von Hilfsmitteln gestützte Haltung sinken. Bei anderen treiben sich schweißüberströmte Yogis zu lauter, rhythmischer Musik an die Grenzen ihrer körperlichen Leistungsfähigkeit. Manche achten pingelig genau auf minutiöse Alignment-Regeln, andere wollen vor allem vom Herzen und der Intuition her üben. Man könnte noch endlos viele Beispiele für diese Unterschiede und die Vielfalt der modernen Yogapraxis aufzählen. Dennoch haben alle diese Formen und Stile etwas gemeinsam: Sie funktionieren. Nur aus diesem Grund üben Menschen auf der ganzen Welt Yoga. Sie alle machen eine ähnliche Erfahrung. Vereinfacht ausgedrückt könnte man sagen, dass man sich nach dem Üben besser fühlt als davor. Die Frage ist, warum? Und wie genau funktioniert das?

Die Wirkung von Yoga auf das Nervensystem

Ein häufig genannter Grund für dieses Yoga-Wohlgefühl ist die Tatsache, dass das Dehnen und Kräftigen der Muskulatur im Zusammenspiel mit einem tiefen, gleichmäßigen Atem den Parasympathikus stimuliert. Das ist jener Teil des vegetativen Nervensystems, der der Erholung dient und die körpereigenen Reserven aufbaut. Der so genannte Ruhenerv regt die Muskeln an, sich zu entspannen, er verbessert die Verdauung und das Immunsystem und sorgt für guten Schlaf. Ist der Parasympathikus am Werk, normalisiert sich der Blutdruck und die Herzfrequenz sinkt. Damit wirkt man vielen Stress-Symptomen entgegen und kann die unguten Nebenwirkungen unseres modernen, schnell getakteten und auf Effizienz getrimmten Lebensstils mit mehr Ruhe und Gelassenheit abpuffern.

Lies dazu auch: “Vagus – der Wunder-Nerv”

Prasarita Padottanasana Prana Energie
Foto: © Liveology Yoga Magazine via Unsplash

Allerdings: In Wahrheit tun viele der heute beliebten Yogastile gar nicht so viel für den Parasympathikus, wie man gerne annimmt. Dazu müssten nämlich Asanas im Vordergrund stehen, die eine tiefe Entspannung fördern, zum Beispiel Vorwärtsbeugen und Übungen zur Hüftmobilisierung. Man müsste weniger Stehhaltungen praktizieren und mehr Haltungen im Sitzen und Liegen. Außerdem wäre es wichtig, länger in den einzelnen Haltungen zu verweilen und mehr Zeit darauf zu verwenden, eine langsame, vollständige Atmung zu entwickeln. Temporeiches Vinyasa, Rückbeugen, Handstand und andere armgestützte Haltungen wirken dagegen eher anregend und kräftigend, sie stimulieren kaum den Parasympathikus. Demnach können bei weitem nicht alle positiven Effekte der Yogapraxis der beruhigenden Wirkung auf das Nervensystem zugeschrieben werden.

Die Antwort lautet: Prana

Aber was ist es dann, was dazu beiträgt, dass Sie sich besser fühlen? Die Antwort lautet: Lebenskraft. Fast alle heute üblichen Stile von Hatha Yoga erhöhen den Fluss von Prana im Körper. Mit diesem Sanskrit-Begriff wird etwas beschrieben, das in der chinesischen Kultur und Medizin als Chi bekannt ist – Tai Chi, Qi Gong und Akupunktur beruhen genau so auf Chi, wie Yoga auf Prana. Gemeint ist die Lebensenergie, jene ursprüngliche Kraft, die alles Leben durchfließt, antreibt und erhält. Prana ist der Lebenshauch, der ein totes Objekt von wachsender und wieder vergehender Materie unterscheidet. Auch der Atem von Mensch und Tier heißt im Sanskrit Prana. Daher nennen wir die yogischen Atemübungen Pranayama (Atemregeln).

Prana Blick auf Berge und Sonnenuntergang
Foto: © Sage Friedman via Unsplash

Nach yogischer Vorstellung ist Prana aber noch mehr als der physische Lebensatem: Der intelligente Einsatz von Prana ist auch der Schlüssel zu spirituellem Erwachen. “Jener, welcher den Ursprung […] und das Wirken von Prana im Körper erfasst, erlangt Unsterblichkeit”, heißt es schon in dem antiken Quellentext Prashna Upanishad. Oder anders ausgedrückt: Die wichtigsten Ziele der körperlichen und der spirituellen Praxis lassen sich realisieren, wenn man Prana wahrnimmt und klug damit umzugehen weiß.

Mit der Asana-Praxis Lebensenergie freisetzen

Prana hat im Hatha Yoga (zu dem bekanntlich jede moderne Form des körperlichen Übens zählt) immer eine entscheidende Rolle gespielt. Antike tantrische Texte wie die Hatha Yoga Pradipika und die Gheranda Samhita nennen eine Reihe von Techniken, die helfen sollen, diese Lebensenergie aufzubauen, zu lenken und zu regulieren. In diesen Schriften werden Asanas als die Basis für die tiefer reichenden Praktiken beschrieben. Der Grund: Die Körperhaltungen sind leicht zugänglich und sie helfen, Lebensenergien auf unkomplizierte und effektive Weise freizusetzen und in Fluss zu bringen. Indem man eine Asana statisch hält und “durch sie hindurch atmet”, kann man Prana-Blockaden auflösen. Dabei setzen verschiedene Haltungen die Lebenskraft auf unterschiedliche Weise frei. Vorwärtsbeugen beispielsweise fördern beruhigende, erdende Arten von Prana, während Rückbeugen eher Prana-Kräfte freisetzen, die vitalisierend wirken.

Eine bewusste Yogapraxis ist das Ziel

Der wichtigste Grund, warum du dich nach dem körperlichen Yogaüben besser fühlst, ist also die Tatsache, dass die Praxis deine Lebenskraft in Bewegung gesetzt hat. Und das nicht einfach irgendwie, sondern im besten Fall auf eine ausgewogene, umfassende und möglichst gut auf deine momentanen geistigen und körperlichen Bedürfnisse zugeschnittene Weise. Daher ist es eines der wichtigsten Ziele einer bewussten Yogapraxis, diese Wirkweisen genau zu beobachten und zu erforschen.

Sowohl in der Hatha-Tradition als auch in den Lehren des Ayurveda finden sich dazu eine Menge wertvoller Hinweise. Je genauer wir diese Lehren kennen und praktisch umsetzen, desto besser werden wir verstehen, warum eine bestimmte Asana zu einem bestimmten Zeitpunkt was bewirkt. Aber es geht auch schon viel einfacher: Wenn du zum Beispiel bemerkst, dass eine bestimmte Übung (oder ein Übungsstil), die/der dir lange gut getan hat, immer weniger dieser positiven Effekte zeigt, dann ist das ein wichtiger Hinweis, deine Praxis abzuwandeln, neue Herangehensweisen auszuprobieren und dabei zu beobachten, welche Auswirkungen das auf energetischer Ebene hat.

“Die ultimative Form der Kraft ist Prana-Kontrolle”

Srimad Bhagavatam

Je mehr du deine Lebensenergien kontrollieren und ausbauen kannst, desto mehr kannst du mit der Yogapraxis erreichen – und zwar auf allen Ebenen. “Die ultimative Form der Kraft ist Prana-Kontrolle”, heißt es in der Srimad Bhagavatam, einer der heiligen Schriften des Hinduismus. Das bewusste Üben der Asanas im Einklang mit dem Atem ist dabei nur der Anfang. Der aufmerksame Umgang mit diesen Lebensenergien wird dich – weiter verfeinert in Pranayama und Meditation – immer deutlicher erkennen lassen, dass das wahre Potenzial dieser Praxis keine Grenzen kennt.


Rod Stryker

ROD STRYKER ist einer der bekanntesten Yoga- und Tantralehrer der USA. Mehr zu Rod und ParaYoga unter www.parayoga.com.

Oder lies dir dieses Interview durch, das wir mit Rod Stryker zum Thema Tantra und ParaYoga geführt haben.

Titelbild: Becca Tapert via Unsplash


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