Sally Kempton über Karma, Tantra und Shakti

Als eine der bekanntesten amerikanischen Meditations-Lehrerinnen blickt Sally Kempton auf eine vier Jahrzehnte lange Erfahrung zurück. Neben den Lehren des Vedanta und Yoga ist die tantrische Tradition des kaschmirischen Shivaismus in ihrer spirituellen Entwicklung wichtig.

Fast zehn Jahre wurde Sally Kempton persönlich von dem indischen Meister Muktananda unterrichtet. Zwanzig Jahre lang führte sie ein klösterliches Leben, bis sie sich 2002 für ein “weltlicheres” Dasein entschied. Weil sie ihren Schülern bei den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zur Seite stehen wollte. YOGA JOURNAL traf die Lehrerin der Lehrer zu einem Gespräch über Meditation, den tantrischen Pfad und natürlich über Shakti.

Sallys Yoga(philosophie)-Tradition

YOGA JOURNAL: Sally, du unterrichtest seit Jahrzehnten Yoga und Meditation. Weshalb und auf welche Weise folgst du einem tantrischen Pfad?

Sally Kempton: Ich bin bereits seit etwa vierzig Jahren auf einem tantrischen Weg. Mein Guru war ein erleuchteter Meister, dessen Lehren auf dem kaschmirischen Shivaismus basierten. Diese Philosophie besagt, dass das gesamte Universum die Manifestation einer großen kosmischen Energie ist – die Shakti Kraft. Diese Energie wird zu unseren Körpern, unserer Lebensenergie und zum physischen Universum. Dabei verschleiert sich Shakti in der Welt, indem sie unseren Geist und unsere Sinne nach außen lenkt und uns das Gefühl des Getrenntseins voneinander und vom großen Ganzen vermittelt.

Tantra lehrt, dass sich das alles ändert, sobald der enthüllende Aspekt der Shakti in uns geweckt wird. Traditionell wird dieses Ereignis häufig als Erwachen der Kundalini bezeichnet. Im kaschmirischen Shivaismus spricht man von “Shaktipat” oder Übertragung von Shakti. In dem Augenblick, in dem diese Erweckung stattfindet, beginnt man, all die subtilen Energien im Körper in sämtlichen wundervollen Formationen zu erleben, welche die Yoga- und Meditationspraxis führen. Ich bezeichne dies als den wahren tantrischen Pfad. Eine innere Reise, auf der meine Praxis und meine Erfahrung von Yoga und Meditation von der Kundalini geführt werden.

Wie sieht die tantrische Annäherung an die Meditation aus?

Tantra lehrt viele Meditationsformen. Auch viele der beliebten modernen Meditationsarten, die buddhistischen eingeschlossen, kommen aus dem Tantra. Mantra-Rezitationen und Chakra-Meditationen stammen von tantrischen Praktiken ab, die den Atem und Visualisation nutzen, um die inneren Zentren zu öffnen und die Stille zu entdecken. Das Herz tantrischer Meditation ist die Erkenntnis, dass sich Shakti als unser Körper, unser Atem und selbst als die Energie hinter unseren Gedanken und Emotionen manifestiert. Das bedeutet, dass unser Körper, unser Atem und sogar unsere Emotionen Türen in erleuchtete Zustände sein könne. Wenn wir erkennen, dass unsere Lebensenergie von Natur aus göttlich ist.

Tantra unterscheidet sich vom klassischen Yoga, weil es darauf abzielt, die Energie von Körper, Geist und Emotionen zu nutzen anstatt Verstand und Emotionen zu unterdrücken und das Körperliche abzulehnen. Das Ziel ist, die Energien derart zu unterstützen, dass sie sich von ihrem relativ dichten, nach außen gerichteten Zustand in eine subtilere Form verwandeln. Diese dehnt sich letzten Endes in eine Erfahrung der Einheit aus. Dies wird mithilfe der aktiven Kundalini möglich, die uns die Fähigkeit schenkt, während der Meditation tiefer in unser eigenes Innenleben zu blicken.

Die wahre Bedeutung von Tantra

Tantra wird auch als Kult der Weiblichkeit bezeichnet. Warum werden die weiblichen Energien als wichtig angesehen?

Shakti ist das weibliche Antlitz des Göttlichen. Shakti ist mächtig. Im Tantra ordnet man Bewussheit Shiva zu, dem männlichen Göttlichen, die Schöpferkraft hingegen dem weiblichen. Daher sind alle Kräfte von Natur aus weiblich. Die tantrische Philosophie personifiziert die unterschiedlichen Formen göttlicher Kraft als individuelle Gottheiten. Jede von ihnen repräsentiert eine unterschiedliche Qualität. In der tantrischen Göttinnen-Praxis stimmen wir uns auf diese Kräfte in uns selbst ein, indem wir uns auf die personifizierten Energien beziehen.

Welche konkreten Techniken empfiehlst du, um die Göttinnen- Kraft in uns zu erwecken? Wie können wir unsere Verbindung mit der weiblichen Energie vertiefen?

Beginne, indem du dich auf die energetischen Ströme in deinem Körper einstimmst und lernst, ihnen zu folgen. Bemerke, wie sich deine Energien verändern und bewegen, wie dynamisch sie sind. Benenne diese Energien als Shakti, als göttlich-weibliche Kraft. Ehre deinen eigenen Energiefluss und deinen eigenen Atem als Verbindung zur Weiblichkeit. Dein Körper selbst ist Shakti. Und seine Göttlichkeit hängt nicht davon ab, wie du aussiehst oder wie du dich fühlst. Sobald du anfängst, deinen Körper, Atem und deine Gedanken als Shakti zu erkennen und zu ehren, bemerkst du, dass eine neue Leichtigkeit in dir entsteht. Das ist ein sehr natürlicher Prozess.

Atme und denke daran, dass du von Shakti geatmet wirst, von der göttlichen Weiblichkeit. Wenn du unter der Dusche stehst, fühle, dass du von der göttlichen Weiblichkeit in Form von Wasser gebadet wirst. Wenn du isst, fühle, dass die Nahrung Shakti und ein Geschenk der Weiblichkeit ist. Eine weitere Technik ist es, auf bestimmte Göttinnen-Energien zu meditieren, beispielsweise Durga, Lakshmi, Saraswati oder Kali. Du sitzt und stellst dir eine Göttin vor dir vor. Entweder als Figur oder als Energie. Atme mit dem Gefühl, dass du die Energie der Göttin einatmest. Bitte sie um ihre Weisheit, Einsicht oder Liebe. Das ist weibliche Mystik.

Hingabe an den Wandel

In der tantrischen Philosophie ist die weibliche Energie für alle Veränderung verantwortlich. Welche Verbindung besteht zwischen der Hingabe an das Weibliche und der an den Wandel? Wie lässt sich diese Verbindung leben?

Sich dem Wandel hinzugeben, ist die große Aufgabe des Lebens. Wir beginnen, indem wir das akzeptieren wollen, was ist. Dann bitten wir das Göttliche, uns den Weg aufzuzeigen, der vor uns liegt. Ich mache das auf die Art, dass ich mir alle paar Stunden ein wenig Zeit dafür nehme, die Präsenz der göttlichen Weiblichkeit in meinem Körper, in der Luft, und in allen Ereignissen, die in meinem Leben auftauchen, wahrzunehmen. Ich versuche, sie in allem, was mir begegnet, zu ehren. Auch wenn mir das gerade nicht gefällt. Indem du das machst, wird dir ein Pfad gezeigt werden, der dich fließender und entspannter durch die Situationen deines Lebens führen wird. Diesen Zeichen solltest du folgen.

In deinen Seminaren sprichst du häufig darüber, dass gerade in Zeiten des Wandels schwierige Emotionen wie Angst oder Trauer hochkommen. Wie sollen wir diesen Emotionen begegnen? Was sind unsere Werkzeuge?

Unser erstes Werkzeug die Emotion zu fühlen. C. G. Jung hat gesagt. “Was du nicht fühlen kannst, kannst du nicht heilen.” Finde also heraus, wie sich die Emotionen in deinem Körper anfühlen. Dann tauche in dieses Gefühl mit Akzeptanz ein. Erforsche es und nimm solche Regungen wie Druck oder Hitze wahr. Wie ist die Energie in und um die Emotion? Welche Gedanken tauchen in Zusammenhang mit dieser Emotion auf? Stelle dir dann eine Präsenz darum herum vor. Halte die Empfindung der Emotion im Inneren dieser Präsenz. Lass den unendlichen Raum mit der gefühlten Emotion verschmelzen. Lass alle Gedanken über diese Emotion immer wieder los. Bemerke, wie sich die Emotionen verändert, verlagert oder entspannt. Bleibe bei der Emotion und du entdeckst, dass sich selbst die schwierigsten Emotionen verwandeln, öffnen und auflösen können.

Sally Kempton über karmische Beziehungen

Was ist eine karmische Beziehung? Und wie erkenne ich, ob ich eine führe?

Sally Kempton: In gewisser Hinsicht ist jeder in unserem Leben mit uns durch Karma verbunden. Aber von einer echten karmische Beziehung spricht man, wenn wir ein starkes, fast schicksalhaftes Gefühl zu einem anderen Menschen spüren. Vielleicht hast du das Gefühl, dass du den anderen Menschen gut kennst, obwohl du ihm gerade erst begegnet bist. Oder wenn du dich ihm verpflichtet oder auf unerklärliche Weise zu ihm hingezogen fühlst, wenn ein Mensch einen starken Einfluss auf dein Leben hat oder wenn du dich vergeblich aus einer Beziehung lösen willst.

Wenn es um Liebesbeziehungen geht, kann plötzliches Verlieben ein Anzeichen für eine karmische Beziehung sein. Meist ist das Gefühl der Verliebtheit der Anlass, der uns in eine Situation bringt, in der das Karma wirken kann. Nach einigen Jahren, wenn das Verliebtheitsgefühl nachlässt, fragst du dich vielleicht, wie du mit deinem Partner in diese Situation geraten bist. Die Antwort lautet: ihr beide müsst zusammen etwas herausfinden. Karma ist der Magnet, der Menschen zusammenführt, und der Klebstoff, der sie zusammenhält.

Ein weiteres Anzeichen ist ein Gefühl der Verpflichtung. Manchmal fühlt es sich so an, als ob wir dem anderen Menschen etwas schulden. Oder wir glauben, dass der andere Mensch uns etwas schuldet. Eine der alten Definitionen des Wortes Karma ist “Verpflichtung”. Beispielsweise erzählte mir meine Schülerin Jenny, dass sie sich verpflichtet fühlte, ihrer jüngeren Schwester Lisa zu helfen. Zum Beispiel indem sie ihr Geld lieh. Dann kam der Zeitpunkt, an dem Lisa sagte: “Ich glaube, du hast genug für mich getan, und ich bin dir wirklich dankbar. Ab jetzt will ich diejenige sein, die dich zum Essen einlädt.” Lisa hatte die yogischen Lehren des Karmas studiert und gespürt, dass die Karma-Arbeit zwischen ihr und Jenny erfüllt war. Nun wollte sie eine Beziehung auf Augenhöhe beginnen.

Wenn du eine Beziehung als karmisch empfindest, versuche, die zugrundeliegende Dynamik zu verstehen. Ganz egal, ob zu einem Elternteil, einem Kind, einem Partner oder dem Chef. Bei den beiden Schwestern verstärkte Jennys Hilfsbereitschaft Lisas Hilflosigkeit. Beide mussten sich für eine erwachsene Beziehung zueinander ändern. Wenn du auch die negative Dynamik in einer Beziehung erkennst, kannst du dich entscheiden, die alten Kreisläufe zu durchbrechen. Beginne, indem du eine klare Absicht formulierst, um dein Verhalten zu ändern. Dann finde heraus, welche Schritte du gehen kannst, um diese Veränderungen umzusetzen.

Sally Kempton lebt in Kalifornien, schreibt regelmäßig für das amerikanische YOGA JOURNAL und unterrichtet weltweit Workshops und Retreats.

Titelbild: David Martinez

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