Feines Kräftespiel: Prana und Nerven

Die Abläufe in der Yogapraxis werden nicht nur von physikalischen Nervenimpulsen, sondern auch von der umfassenderen Lebensenergie, dem Prana, getragen. Yoga Acharya Swami Sivadasananda über ein ganz besonderes Wechselspiel.

Nervenimpulse sind klar definiert: Sie beginnen an einer spezifischen Stelle im Körper und laufen in einer Richtung zu einer anderen spezifischen Stelle. Man kann sie in folgende Kategorien unterteilen:

  • Motorische Impulse: Diese kann man (zum Beispiel um eine Muskelkontraktion zu bewirken) willentlich steuern. Motorische Nervenimpulse ermöglichen es, eine Asana einzunehmen, zu halten oder aufzulösen.
  • Sensorische Impulse: Ob man sie wahrnehmen kann, hängt vom Grad der Wachheit und Bewusstheit ab. Der be- deutendste sensorische Impuls für die Asana-Praxis ist der Tastsinn. Wenn man Muskeln und Gelenke von innen her spüren kann, nennt man das Propriozeption.
  • Sympathische Impulse: Von ihnen gehen die so genannten „Fight-or-Flight-Stressreaktionen“ aus.
  • Parasympathische Impulse: Sie helfen dem Körper, sich auszuruhen und zu entspannen.

Es heißt, eine direkte Kontrolle der unwillentlichen, so genannten vegetativen (sympathtische und parasympathische) Nervenimpulse sei nicht möglich. Andererseits bewirkt die Praxis von Asana und Pranayama ein effektives Gleichgewicht zwischen diesen beiden Impulsen. Die Yogapraxis ist also sowohl stimulierend (sympathisch) als auch entspannend (parasympathisch).

Das Wort „Prana“ bedeutet Lebenskraft. Genau wie die physikalischen Nervenimpulse bezieht sich auch der Begriff Prana auf die aktive Kontrolle und auf die Bewusstheit von Körperempfindungen. In der Zeit, als der Begriff entstand, waren die heutigen wissenschaftlichen Erkenntnisse über Nervenimpulse natürlich noch nicht zugänglich. Aber offensichtlich hatten die damaligen Hatha-Yogis schon eine sehr genaue Vorstellung von der Funktion von motorischen, sensorischen, sympathischen und parasympathischen Nervenimpulsen. Wie sonst hätten sie ein so ausgeklügeltes Übungssystem entwickeln können, das in der Lage ist, sämtliche Funktionen des Nervensystems ins Gleichgewicht zu bringen?

Ausgehend von diesen Überlegungen könnte man sagen, dass Prana-Impulse alle Nervenimpulse beinhalten. Aber worin bestünde dann der Hauptunterschied zwischen Prana-Impuls und Nervenimpuls? Nervenimpulse werden entweder von Bewusstsein und Willen oder vom unterbewussten Geist kontrolliert. Die Intensität von Prana-Impulsen unterscheidet sich von der von Nervenimpulsen, zudem kann sie von zweierlei kontrolliert werden: vom physischen Atem oder von mentalen Prozessen wie Visualisierung, Konzentration und Willenskraft.

Ein einfaches Beispiel: Wenn Sie in Shavasana (Totenstellung) ein Bein heben, dann ist diese Bewegung nur dank motorischer Nervenimpulse möglich, die eine Kontraktion in verschiedenen Beinmuskeln hervorrufen. Wenn Sie das Bein plötzlich wieder fallen lassen, rührt das daher, dass diese Nervenimpulse unvermittelt enden.

Ganz unwillkürlich werden Sie sehr wahrscheinlich beim Anheben des Beins einatmen, beim Halten die Luft anhalten und beim Fallenlassen ausatmen. Diesen Aspekt kann man dem Prana-Impuls zuschreiben. Welcher Impuls wird bei dieser kleinen Übung klarer wahrgenommen: der Nervenimpuls oder der Prana-Impuls? Da beide gleichzeitig ablaufen, sind sie schwer auseinanderzuhalten. Indem man die Übung etwas abwandelt, wird der Unterschied aber sehr deutlich:

Abwandlung 1

Mit einer Einatmung heben Sie ein Bein. Dann atmen Sie aus, halten das Bein aber weiter in der Luft. Erst wenn die Ausatmung vollständig beendet ist, las- sen Sie das Bein fallen. In diesem Fall haben Sie den Atem, also den Prana-Impuls, zuerst gelöst und erst später den motorischen Nervenimpuls gestoppt, was dazu führte, dass die Beinmuskeln sich entspannten und das Bein nach unten fiel. Ist es nicht erstaunlich, wie sehr die motorische Kapazität, das Bein gegen die Schwerkraft in der Luft zu halten, geschwächt wurde, nachdem Sie ausgeatmet hatten? Das verdeutlicht den Unterschied zwischen Prana- und Nervenimpuls und es unterstreicht, wie sehr der Nervenimpuls vom Prana- Impuls abhängig ist.

Abwandlung 2

Heben Sie das Bein wieder mit der Einatmung. Dann halten Sie den Atem an und lassen das Bein fallen, ohne dabei auszuatmen. Atmen Sie erst aus, wenn Sie deutlich wahrnehmen, dass das Bein bereits am Boden liegt. Hier haben Sie zuerst den auf die Beinmuskeln wirkenden motorischen Nervenimpuls gelöst und erst danach den zum Prana-Impuls gehörenden Atemim- puls. Erstaunlicherweise werden Sie hier festgestellt haben, dass die eigentliche Empfindung des Lösens sich erst eingestellt hat, nachdem Sie auch den Atem, also den Prana-Impuls, losgelassen haben.

Verbindung zwischen Nerven und Prana

Wie ist es möglich, dass der motorische Nervenimpuls, der bei der Einatmung das Zwerchfell zusammenzieht und es bei der Ausatmung wieder entspannt, einen Prana-Impuls erzeugen kann, der sehr verschiedene Grade von Kontrolle und Empfindung in allen Teilen des Körpers ermöglicht? Eine Antwort darauf könnte lauten: Der Zwerchfellnerv, der die motorischen Impulse vom Gehirn an den Zwerchfellmuskel leitet, verfügt über eine Verzweigung zum Solar Plexus. Dieses Nervengeflecht hat eine Vielzahl an Funktionen, sowohl auf sensorischer wie auch auf sympathischer und parasympathischer Ebene.

Schwieriger mit den Begriffen des Nervensystems zu erklären ist dagegen die Tatsache, dass die Effekte dieses Prana-Impulses sowohl ganz lokal begrenzt sein können als auch weit im Körper verbreitet – je nach mentaler Visualisierung.


Swami Sivadasananda

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