Vipassana bedeutet “Einsicht” und bezieht sich darauf, die Dinge so zu sehen, wie sie sind. In diesem Sinn wird Vipassana auch als “offenes Gewahrsein” verstanden. Diese Technik empfand unser Autor Ulrich Hoffmann besonders hilfreich während seiner Krankheit, die er im ersten Teil dieses Artikels beschreibt.
Text: Ulrich Hoffmann / Titelbild: Maddy’s Art via Canva
1. Nimm deine Meditationshaltung ein und stelle einen Timer auf 10 bis 20 Minuten. Schließe die Augen, wenn dir das angenehm ist, oder richte den Blick ohne Fokus in eine mittlere Entfernung. Lege die Hände entspannt auf die Oberschenkel oder in den Schoß. Achte darauf, dass dein Rücken entspannt aufgerichtet ist. Die sogenannte Krone des Kopfes, der höchste Punkt, zieht ein wenig nach oben.
2. Lasse einige Atemzüge ruhig kommen und gehen. Ab jetzt benennst du, was geschieht. Eine einfache Variante besteht darin, sich auf den Atem zu konzentrieren. Du sagst beim Einatmen stumm im Geiste “ein”, beim Ausatmen “aus”. In der Vipassana-Praxis wird geraten, sich auf das Heben und Senken der Bauchdecke zu konzentrieren. Dabei wird das entsprechende Wort dann jeweils zweimal im Geiste wiederholt. Also: Heben – “ein, ein”. Senken: “aus, aus”. Heben: “ein, ein”. Senken: “aus, aus”. Du kannst auch die Worte “heben, heben” und “senken, senken” verwenden.
3. Wenn du in der Ferne einen Hund bellen hörst, kannst du es auch benennen: “bellen, bellen”. Danach richtest du die Aufmerksamkeit wieder auf den Atem: “ein, ein … aus, aus …” Juckt es irgendwo, denkst du: “jucken, jucken”. Wenn du bemerkst, dass du über etwas nachdenkst, benenne auch dies: “denken, denken”, und dann kehrst du wieder zurück zum Atem. Deine Gedanken und Gefühle kannst du so differenziert beobachten und benennen, wie du willst: Es ist ausreichend, wenn du bei “denken, denken” bleibst, du kannst aber auch “Wut, Wut” oder “Angst, Angst” oder “Sehnsucht, Sehnsucht” nehmen.
4. Es kann gut sein, dass du anfangs erschreckst, wie intensiv und häufig gerade Gefühle wie Ärger, Wut, Angst und Trauer sind. Keine Sorge. Du erzeugst keine Gefühle, du bekommst nur das zu Gesicht, was ohnehin in deinem Unterbewusstsein ist. So erlangst du die Möglichkeit, dich besser kennenzulernen, bist dazu jedoch keineswegs gezwungen.
5. Anfangs wirst du vielleicht gar nicht genau sagen können, was du spürst, oder du glaubst, nichts zu fühlen. Auch das ist in Ordnung. Vielleicht benennst du diesen Gedanken, wenn er auftaucht, mit “Zweifel, Zweifel”, und dann kehrst du wieder zum Atem zurück. Warte darauf, dass der Timer piepst. “Ungeduld, Ungeduld … ein, ein … aus, aus …”.
6. Beende die Meditation, indem du dir vornimmst die Augen zu öffnen – “vornehmen, vornehmen”, dann öffne sie – “öffnen, öffnen”. Wenn du Lust hast und dich dazu in der Lage siehst, kannst du die Meditation auch noch etwas mit in den Alltag nehmen: “aufstehen, aufstehen”, “gehen, gehen”, “sehen, sehen”, “ein, ein”, “aus, aus” und so weiter. Du kannst die Meditation jederzeit mit “beenden, beenden” zum Abschluss bringen.
Das Benennen soll deutlich machen, dass schon zwischen unserer unmittelbaren Wahrnehmung und unserer Reaktion darauf stets ein Abstand besteht, in dem wir die Wirklichkeit deuten und interpretieren. Dieser Abstand ist mal größer und mal kleiner. So können wir die Wahrnehmung und unseren Umgang damit immer weiter schulen, bis wir hoffentlich möglichst nah an die Wirklichkeit herankommen. Zugleich lernen wir, uns nicht so schnell mit den eigenen Empfindungen zu identifizieren: Ich bin nicht ängstlich, sondern ich empfinde “Angst, Angst”. Die Krankheit ist nicht unerträglich, sondern ich verspüre “Ungeduld, Ungeduld”.
Ulrich Hoffmann ist mehrfacher Bestsellerautor. Er schrieb u.a. den Longseller Mini-Meditationen. Vor kurzem erschien von ihm 50 philosophische Erkenntnisse, die das Leben leichter machen. Mehr über den Autor findest du auf seiner Website.
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