Yogapraxis mit Beinprothese

Steven Medeiros setzt sich für soziale Themen wie die Gefängnisreform, Frauen- und LGBTQ-Rechte in Amerika ein. Obwohl es noch nicht lange her ist, dass er eher als schlechter Einfluss galt, ist Medeiros heute zu einem Vorbild für diejenigen geworden, die am Rande der Gesellschaft stehen. Als er mit 25 Jahren sein Bein verlor, veränderte sich sein Leben komplett. Und ja – Yoga ist eine seiner starken Stützen in schwierigen Zeiten. In diesem Artikel erfährst du, wie Steven zum Yoga fand. Dazu findest du eine Übungsreihe, die Steven Medeiros für Menschen mit Beinprothese entwickelt hat. Diese Yogasequenz ist stärkend, hüftbetont und hilft, Raum im unteren Rücken, in den Schultern und im Brustkorb zu schaffen.

Text und Sequenz: Steven Medeiros / Bilder: Winni Wintermeyer/Robert Sturmann

“Die Leute sagen mir immer: ‘Du bist der ausgeglichenste Mensch, den ich kenne'”, so Medeiros. “Und ich sage dann: ‘Heilige Scheiße! Das ist so weit von der Wahrheit entfernt!'” Aber die Yoga- und Meditationspraktiken, die er in den letzten 20 Jahren entwickelt hat, helfen ihm, in schwierigen Zeiten ausgeglichen und geerdet zu bleiben. “Im Moment gibt es in unserem Land so viele Rückschritte und all die Errungenschaften, für die wir gekämpft haben – für Menschen, die es am meisten brauchen: Farbige, Frauen, LGBTQ-Menschen – gehen verloren”, sagt er. Er weiß, dass es nicht leicht sein wird, Veränderungen herbeizuführen. Wenn die Überforderung ihn zu bremsen droht, helfen ihm seine Heilpraktiken, weiterzumachen. “Gleichmut, mein Lieblingswort, bedeutet Gelassenheit, während die Dinge um einen herum chaotisch und wild sind”, so Steven.

Wie ich zum Yoga kam

Zwischen 18 und 22 war ich wirklich am Boden. Ich hatte schon oft versucht, mein Leben umzukrempeln, aber ich habe immer nur die Symptome meiner Probleme bekämpft, nicht deren Wurzel. Ich hörte auf, mit fragwürdigen Leuten herumzuhängen, konnte endlich einen Job finden und auch behalten, hörte auf zu trinken und zu feiern. Aber ich war immer noch wütend und verletzt. Ich hatte das Trauma meiner Kindheit nicht aufgearbeitet. Da ich ein begeisterter Leser bin, ging ich häufig in Buchhandlungen und stieß dort auf ein Yogabuch. Ich hatte noch nie etwas von Yoga gehört, aber was ich las, faszinierte mich sehr. Ich begann, mich zu Hause selbst zu unterrichten. Es war herausfordernd und das gefiel mir. Ich bin ein sehr körperlicher Mensch. Ich habe Leistungssport betrieben und Karate geübt, also war Yoga eine weitere Challenge für mich. Ich hatte mich die meiste Zeit wie betäubt gefühlt – ich fühlte mich nicht lebendig. Aber jedes Mal, wenn ich Yoga mache, fühle ich mich körperlich besser. Dinge, mit denen ich mich auseinandersetze, vor allem mit den aktuellen Ereignissen, manifestieren sich oft körperlich – in meinem Unterkörper, meinem Kiefer und meinen Schultern. Diese Praxis hat mir geholfen, mich davon zu befreien, und ich weiß, dass sie immer funktionieren wird. 

Was Vergebung damit zu tun hat

Der Tod meiner Mutter hatte einen tiefgreifenden Einfluss auf mein Leben. Ich begann, meinen Selbstwert in Frage zu stellen. War ich dazu bestimmt, so zu enden wie meine Eltern? Als Teenager hatte ich noch nicht begriffen, dass ich die Wahl hatte und welche Rolle sie in meinem Leben spielen würde. Nach dem Tod meiner Mutter geriet ich völlig außer Kontrolle. Ich verlor jegliches Interesse an Schule und Sport. Ich fing an, mit Drogen und Alkohol zu experimentieren und schloss mich den örtlichen Gangs an. Mein Leben sah düster aus. Mit 22 war ich erschöpft und suchte verzweifelt nach einer Veränderung und ich begann, nach Lösungen zu suchen. Da erhielt ich die Botschaft, dass ich meinen Eltern vergeben musste. 

Einfach so vergab ich ihnen von ganzem Herzen und ich fühlte mich sofort anders – wie ein neuer Mensch. Ich habe nie zurückgeblickt. Ich vergab nicht nur meinen Eltern die Dinge, die sie getan oder nicht getan hatten, sondern auch anderen, die mir ein Trauma zugefügt hatten, einschließlich der Menschen, die meine Mutter getötet hatten. Ich hatte so viel Wut in mir aufgestaut und diese als Treibstoff für einige meiner Verhaltensweisen benutzt. Aber als ich beschloss, zu vergeben, fühlte ich mich völlig befreit und das ermöglichte es mir, mich auf andere Dinge zu konzentrieren. Ich stürzte mich wieder auf Bücher und begann diesen Weg der Selbsthilfe, der tiefen Selbstbeobachtung und der Selbsterkenntnis zu gehen. Ich beschloss, alles beiseite zu legen, von dem ich dachte, dass es mich von meiner Entwicklung als Mensch und Vater ablenken könnte. Ich nahm die Beziehung zu meiner richtigen Familie wieder auf, denn in meiner Jugend war meine “Familie” die Straße geworden. Und wenn man dort ist, denkt man, dass diese Leute deine “Ride-or-Die”-Freunde sind, aber das sind sie nicht wirklich. 

Heute spreche ich mit Jugendlichen und sage ihnen, dass sie mehr sind als die Summe ihrer Fehler. Wegen der Taten der Vergangenheit glauben wir, dass wir angesichts der bestehenden Systeme keine Zukunft haben. Aber ich habe beschlossen, mich davon nicht abhalten zu lassen – dass ich es trotz meiner Fehler wert bin, ein gutes Leben in Liebe zu führen. Also musste ich auch mir selbst vergeben, was es mir ermöglichte, frei in der Gegenwart zu leben, mit einem neuen Bewusstsein für mich selbst und andere.

Vergebung ist eine der wichtigsten Tugenden unserer Zeit. Lies hier mehr zu dem Thema.

Als ich mein Bein verlor

Urdhva Dhanurasana Steven Medeiros Robert Sturmann
Foto: Robert Sturmann

Ich hätte nie gedacht, dass ich es bis zu meinem 18. Lebensjahr schaffen würde. Und dann passierte mein Unfall, als ich gerade gut im Leben stand. Gerade als ich das Gefühl hatte, dass ich es geschafft hatte. Ich war sehr traurig und hatte Angst, dass ich meine Tochter nicht mehr sehen würde, weil ich nicht sicher war, ob ich überhaupt überleben würde. Als ich nach ein paar Operationen wusste, dass ich auf ein Überleben hoffen konnte, begann ich, darüber nachzudenken, wie mein Leben aussehen würde. Ich erinnere mich noch gut daran, dass ich mir extra im Fernsehen eine Sendung über die Biomechanik des Gehens angesehen habe, weil ich wusste, dass ich das Gehen wieder lernen müssen würde. Ich hatte all diese normalen menschlichen Gefühle und Fragen: Werde ich jetzt jemanden finden, der mich um meiner selbst willen liebt? Wie wird der Sex sein? Wie wird es sein, sich fortzubewegen und alltägliche Dinge zu tun? Werde ich in der Lage sein, aufs College zu gehen? Das College erfolgreich abzuschließen? Aber ich wusste, dass ich großes Glück hatte, am Leben zu sein, und ich wusste, dass ich immer noch in der Lage sein würde, Dinge zu tun ich hatte keinen Hirnschaden. Ich war jung. 

Ich hatte eine neue Sichtweise auf das Leben gewonnen. Ich hatte diese Freude, die von mir ausging. Ich spürte eine Art Heiligenschein um mich herum, wie ein Leuchten. Es war spürbar. Die Leute bemerkten es; ich musste es ihnen nicht einmal sagen. Sie wurden von mir angezogen wie von einem Magneten. Überall wo ich hinkam, war ich tief berührt von den Menschen, die ich traf, und sie sagten etwas Nettes: “Du bist wunderschön.” “Ich würde dich sofort heiraten.” Zufällige Dinge. Ich lächelte immer von einem Ohr zum anderen, nur weil ich noch atmete. 

Etwas mehr als ein Jahr nach dem Verlust meines Beins begann ich mit dem Studium. Ich war schon vorher ein guter Schüler, aber danach war ich ein noch besserer. Dadurch habe ich meine Prioritäten ein wenig besser gesehen und verstanden, dass das Leben einfach so vorbei sein kann. In einem Sekundenbruchteil können sich die Dinge ändern. Also habe ich mir überlegt, wie ich meine Zeit verbringe.

Wie ich meine Yogapraxis angepasst habe

Ushtrasana Steven Medeiros Robert Sturmann
Foto: Robert Sturmann

Nach dem Verlust meines Beins hatte ich Bedenken, jemals wieder Yoga machen zu können. Natürlich war meine Praxis nie mehr dieselbe, aber sie wandelte sich. Ich interessierte mich sehr für Restorative-Yoga. Am Anfang meiner Praxis dachte ich, alles müsse perfekt sein. Darum geht es aber überhaupt nicht. Heute sehen wir die unterschiedlichsten Menschen mit den unterschiedlichsten Fähigkeiten Yoga praktizieren – und meine Praxis sieht vielleicht nicht so anmutig aus wie eure oder auch nur im Entferntesten so wie eure, aber das ist trotzdem okay. Meine Praxis ist meine Praxis. 

So verstehe ich Körperbewusstsein

Mein Unfall liegt 17 Jahre zurück und, abgesehen von den letzten Jahren, hatte ich in dieser ganzen Zeit keine Shorts getragen. Ich war sehr verunsichert, weil ich meine Prothese nicht zeigen wollte. Ich machte mir Sorgen, die Leute würden mich anstarren – was würden sie sagen, was würden sie denken? Immer wenn ich nach Hawaii fuhr, war es in Ordnung. Ich konnte kurze Hosen tragen, ohne diese Unsicherheiten zu spüren. Aber hier in der Bay Area war es ein Kampf. Ich wollte diese Unsicherheit endlich überwinden und wusste nicht so recht, wie ich es anstellen sollte. Ich hatte jahrelang mit Menschen, die mir nahe standen, darüber gesprochen und mir diese Geschichten über die Unsicherheit selbst durch den Kopf gehen lassen. Und eines Tages machte ich hier in der Bay Area eine Wanderung in kurzen Hosen. Niemand war auf dem Weg. Danach gingen wir zum Mittagessen in die Innenstadt von Berkeley. Anstatt meine Jogginghose wieder anzuziehen, um im Restaurant zu essen, entschied ich mich, meine Shorts anzubehalten. Und ja, die Leute haben geguckt und die Kinder haben Kommentare abgegeben, aber das ist normal. Letztendlich war es keine große Sache. Das war nur in meinem Kopf. Es ging nicht von heute auf morgen, aber danach trug ich hier und da kurze Hosen und es wurde immer leichter und leichter. Heute bin ich sogar an dem Punkt, an dem ich es jetzt sogar lieber mag. Das, was mich früher entmachtet hat, macht mich jetzt stark.


Powered Practice – Energetisierende Praxis

Diese stärkende, hüftbetonte Sequenz hilft, Raum im unteren Rücken, in den Schultern und im Brustkorb zu schaffen. Sie wurde von Steven Medeiros entwickelt, um dich zu befähigen, trotz der Herausforderungen des Lebens voranzukommen.

1. PASHCHIMOTTANASANA (sitzende Vorwärtsbeuge)

Yoga mit Beinprothese Pashchimottanasana Steven Medeiros
Foto: Winni Wintermeyer

Beginne bequem auf deinen Sitzknochen. Halte mit beiden Händen einen Gurt und beuge dich dann mit geradem Rücken aus der Hüfte nach vorn. Du solltest eine angenehme Dehnung in den Beinrückseiten und im unteren Rücken spüren.

Hier erklärt dir Dr. Ronald Steiner das richtige Alignment von Pashchimottanasana.

2. UPAVISHTHA KONASANA, VARIATION (weitwinklige sitzende Vorwärtsbeuge)

Yoga mit Beinprothese Upavistha Konasana Steven Medeiros
Foto: Winni Wintermeyer

Strecke die Beine weit aus und drücke die Handflächen zusammen. Beuge dich aus der Hüfte nach vorne und halte den Rücken gerade. Wenn dein Rücken rund ist, setze dich auf einen Yogablock oder eine gefaltete Decke.

3. UPAVISHTHA KONASANA, VARIATION (weitwinklige sitzende Vorwärtsbeuge)

Yoga mit Beinprothese Upavistha Konasana Steven Medeiros
Foto: Winni Wintermeyer

Weite die Dehnung aus, indem du die Arme bis zu den Knöcheln streckst. Wenn du die Knöchel nicht mit geradem Rücken erreichst, lehne dich nach vorne und greife nach den Schienbeinen oder irgendwo anders näher am Körper.

4. PARSHVA UPAVISHTHA KONASANA (seitliche sitzende Weitwinkelstellung)

Yoga mit Beinprothese Parshva Upavistha Konasana Steven Medeiros
Foto: Winni Wintermeyer

Sitze aufrecht und beuge dich dann aus der Taille, strecke den rechten Arm nach oben und zum linken Fuß hin. Konzentriere deinen Atem auf die rechte Seite deines Körpers, wo du die Dehnung spürst. Wiederhole dies auf der anderen Seite.

5. BHEKASANA (Frosch)

Yoga mit Beinprothese Bhekasana Steven Medeiros
Foto: Winni Wintermeyer

Bringe aus dem Vierfüßlerstand deine Ellenbogen zum Boden. Bewege von hier deine Knie langsam und weit auseinander für eine bequeme, angenehme Dehnung. Lass dabei deine Hüfte direkt über oder ein Stück hinter deinen Knien.

6. USHTRASANA (Kamel)

Yoga mit Beinprothese Ushtrasana Steven Medeiros
Foto: Winni Wintermeyer

Lehne dich im Knien zurück und greife die Ferse oder die Fußsohle. Verwende einen Block, falls du zusätzliche Stabilität brauchst. Wiederhole dies auf der anderen Seite.

7. UTTANA SHISHOSANA (Welpenhaltung)

Yoga mit Beinprothese Anahatasana  Steven Medeiros Uttana Shishosana
Foto: Winni Wintermeyer

Gehe aus dem Vierfüßlerstand mit den Händen nach vorne und lasse die Brust zum Boden hin schmelzen, während du die Stirn auf die Matte legst. Spreize deine Finger weit und drücke sie in die Matte – oder beuge die Ellenbogen, um deine Hände hinter den Kopf zu heben.

8. ARDHA BHUJANGASANA (Sphinx)

Yoga mit Beinprothese Ardha Bhujangasana Steven Medeiros
Foto: Winni Wintermeyer

Stütze dich auf die Ellenbogen und strecke die Beine hinter dich. Probiere aus, was sich besser anfühlt – die Beine zusammen oder auseinander. Atme in den Bereich, in dem du die Dehnung am meisten spürst und visualisiere, wie sich die Muskeln und Faszien entspannen.

9. SUPTA MATSYENDRASANA (Wirbelsäulendrehung in Rückenlage)

Yoga mit Beinprothese Supta Matsyendrasana Steven Medeiros
Foto: Winni Wintermeyer

Lege dich flach auf den Rücken und bringe die Knie Richtung Brust, mit Beinen und Füßen zusammen. Lass die Beine nach links fallen, beide Arme strecken zur Seite und der Kopf zeigt in die entgegengesetzte Richtung der Beine. Bleibe so lange, wie es angenehm ist, dann wiederhole die Übung auf der anderen Seite.

10. MATSYASANA (Fisch)

Yoga mit Beinprothese Matsyasana Steven Medeiros
Foto: Winni Wintermeyer

Lege zwei Yogablöcke waagrecht auf den oberen Teil deiner Matte, einen zur Unterstützung der Schultern und einen für den Kopf. Lege dich zurück, so dass die Schultern zuerst auf ihrem Block landen und dann der Kopf. Richte dich so ein, bis es bequem ist.

11. APANASANA (Knie-zur-Brust-Haltung)

Yoga mit Beinprothese Apanasana Steven Medeiros
Foto: Winni Wintermeyer

Lege dich flach auf den Rücken und ziehe die Knie zur Brust. Das hilft, den unteren Rücken zu dehnen. Falls es nicht mit beiden Beinen gleichzeitig klappt, versuche es mit jeweils einem Bein, wobei du das gestreckte Bein flach auf dem Boden hältst.

12. SUPTA BADDHA KONASANA (gebundene Winkelstellung im Liegen)

Yoga mit Beinprothese Supta Baddha Konasana Steven Medeiros
Foto: Winni Wintermeyer

Mit dem Rücken flach auf dem Boden, bringe Knie nach oben und stelle die Füße auf. Lege die Fußsohlen zusammen, öffne die Beine weit und überlasse der Schwerkraft die Arbeit. Versuche, einen Klotz zwischen die Füße zu legen, falls das bequemer ist.


Titelbild: Robert Sturmann


Dieser Artikel ist ein Auszug der US Ausgabe des Yoga Journals September/Oktober 2020. In unserem aktuellen Heft Yoga Journal 06/2022 lautet das Titelthema “Heilung”.

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