Wackelig oder stabil? Schräg oder gerade? Ob wir gut im Gleichgewicht sind oder im nächsten Moment umzufallen drohen, spüren wir meistens ganz genau – aber wie funktioniert das eigentlich, dass der Körper sich in Bezug zu Raum und Schwerkraft ausrichtet und stabilisiert?
Text: Ann Swanson
Jeder Yogi und jede Yogini kennt diese Tage, an denen man schon in einem schlichten Baum herumkippelt oder aus der dritten Heldenhaltung buchstäblich herausfällt. Aber selbst wenn das passiert: Wir sind immer noch dabei zu balancieren. Ein gutes Gleichgewichtsgefühl hilft uns bei den kleinsten Alltagsverrichtungen, zum Beispiel wenn wir eine Einkaufstasche tragen oder nach einer Vase ganz oben im Schrank greifen. Erst recht ist es bei komplexeren Bewegungen gefragt, etwa beim Tanzen, Fahrradfahren oder Stand-Up-Paddling. Umso wichtiger ist es, diese wichtige Fähigkeit nicht verkümmern zu lassen: Jedes Mal, wenn du in einer Yogahaltung um die Balance ringst, trainierst du jene Körpersysteme, die dir helfen, aufrecht und stabil in einer bestimmten Haltung zu bleiben – und letztlich auch durchs Leben zu gehen. Dabei sind vor allem drei von Bedeutung: das visuelle, das vestibuläre und das somatosensorische System – oder auf Deutsch: der Sehsinn, der Gleichgewichtssinn und der Tast- beziehungsweise Körpersinn.
Leben in Bewegung
Die Fähigkeit, aufrecht und mit guter Haltung stabil zu bleiben – etwa im Baum (Vrikshasana) – nennt man statische Balance. Ausschlaggebend für diese gut geerdete Aufrichtung ist neben den eben genannten Sinnen die sogenannte Propriozeption, also die Fähigkeit zu wissen, wo sich deine einzelnen Körperteile im dreidimensionalen Raum gerade befinden. Kleine Sensoren im gesamten Körper, vor allem in Muskeln und um die Gelenke herum, senden dazu ständig Informationen ans Gehirn. Indem wir uns achtsam bewegen und fordernde Gleichgewichtshaltungen üben, können wir diese Sensoren schärfen.
„Genau wie Muskeln erst durch Beanspruchung stärker werden, profitiert auch der Gleichgewichtssinn davon, wenn du ihn immer wieder herausforderst.
Ann Swanson
Dynamische Balance kommt immer dann zum Einsatz, wenn wir während einer Bewegung das Gleichgewicht halten müssen, etwa beim Gehen, wenn wir von einem kleinen Absatz herunter – springen oder durch den Sonnengruß fließen. Aber auch die Übergänge von einer statischen Haltung in eine andere, zum Beispiel von der Berghaltung (Tadasana) in die Heldenhaltung 3 (Virabhadrasana 3), erfordert dynamische Balance. Sobald wir nämlich einen Fuß von der Matte lösen, wird es tricky: Weil wir weniger Kontakt zum Boden haben (also weniger somatosensorische Information), müssen das visuelle und das vestibuläre System ausgleichend wirken, um den Wechsel von einer Position in eine andere zu meistern.
Jeder weiß: Die meisten Stürze passieren genau in diesen Übergängen, Richtungswechseln oder schnellen Bewegungen – und zwar nicht nur im Yoga, sondern auch im Alltag. Leben geschieht in ständiger Bewegung und Yoga hilft, uns an diesen ewigen Wandel anzupassen und ihn geschmeidiger zu meistern.
Dabei entstehen, wie neuere Forschungen zeigen, neue neuronale Verbindungen nicht nur in den fürs Gleichgewicht zuständigen Gehirnregionen, sondern auch dort, wo die kognitiven Fähigkeiten angesiedelt sind. Indem wir die Balance im Yoga gezielt trainieren, beugen wir also nicht nur Stürzen vor, wir erhalten auch auf lange Sicht die Plastizität des Gehirns, verbessern das Körpergefühl, Selbstvertrauen und Mut.
Drei Sinne für mehr Balance
Das Nervensystem integriert die Informationen von visuellem, vestibulärem und somatosensorischem System und übermittelt sie ans Gehirn. Dort werden diese Reize gebündelt, verarbeitet und die passenden Bewegungs- und Haltungsantworten gefunden. Das kannst du gezielt fördern.
Sehsinn
Die von den Augen ans Gehirn gelieferten visuellen Informationen helfen dir, dich im Raum zu orientieren.
Die von Augen und Sehnerven ans Gehirn übermittelten visuellen Informationen helfen uns dabei, die Lage des Körper im Raum zu bestimmen und ihn auszurichten. Im Yoga machen wir uns das mit einer besonderen Technik zunutze: Drishti. Indem du einen bestimmten, vor dir liegenden Punkt fixierst, kannst du dich in anspruchs- vollen Gleichgewichtshaltungen besser stabilisieren. Der Grund: Ist der Blick fest, dann hat das Gehirn einen statischen Referenzpunkt, an dem er die nötigen Haltungsanpassungen ausrichten kann.
Übung:
Anstatt mit Drishti zu üben, kannst du auch einmal das genaue Gegenteil versuchen: Schließe im aufrechten Stand (Tadasana) einfach mal deine Augen. Ohne den visuellen Input wirst du dich sofort weniger stabil fühlen. Dabei kannst du auch beobachten, wie vestibuläres und somatosensorisches System versuchen, die fehlende Information auszugleichen.
Gleichgewichtssinn
Das vestibuläre System arbeitet mit einem kleinen, sehr komplexen Organ im Innenohr: dem Gleichgewichtsorgan (vestibulärer Apparat). Es besteht zum einen aus drei mit Flüssigkeit gefüllten, annähernd kreisförmigen Kanälen, den Bogengängen. Verändert der Kopf seine Lage, dann setzt das die Flüssigkeit in den Bogengängen in Bewegung.
Das Organ und die Nerven im Innenohr registrieren jede Lageveränderung des Kopfes.
Je nachdem, ob es nach oben, unten, rechts, links oder seitwärts geht, biegt die Flüssigkeit auf bestimmte Weise die feinen Sinneshärchen (Cilia) an einem oder mehreren Bogenausgängen um. Bewegen wir uns beispielsweise aus Tadasana in Virabhadrasana 3, also von der Senkrechten in die Horizontale, dann wird diese Lageveränderung im Innenohr in einem der Bogengänge die Flüssigkeit stärker bewegen als in den anderen, die Sinneshärchen nehmen diesen Reiz auf und geben ihn über den Gleichgewichtsnerv ans Gehirn weiter. Ob das langsam und kontrolliert geschieht, oder in einem beherzten Sprung oder Sturz, wird ebenfalls im Innenohr registriert: Die beiden unterhalb der Bogengänge liegenden, ebenfalls mit Flüssigkeit gefüllten Vorhofsäckchen (Otholitenorgane) reagieren auf Beschleunigungs- und Bremsbewegungen, die sie ebenfalls über den Gleichgewichtsnerv ans Gehirn melden.
Übung:
Nimm den vestibulären Input wahr, indem du mal bewusst mit den verschiedenen Reizen des Gleichgewichtsorgan spielst. Bewege dich zuerst langsam von Tadasana in die Heldenhaltung 3. Beim nächsten Mal stimulierst du die Sensoren zusätzlich: Bewege den Kopf in kleinen nickenden und verneinenden Bewegungen, während du zwischen dem aufrechten Stand und der Standwaage hin- und herwechselst. Vermutlich wirst du es so deutlich schwieriger finden, die Balance zu halten – ein super Training: Genau wie Muskeln erst durch Beanspruchung stärker werden, profitiert auch der Gleichgewichtssinn davon, wenn du ihn immer wieder herausforderst.
Körpersinn
Der Tastsinn, mit dem wir Berührungen an der Oberfläche des Körpers wahrnehmen, ist ein wesentlicher Teil eines viel komplexeren Systems: Das somatosensorische System erfasst nicht nur Druck, Schmerz, Bewegung und Temperaturveränderungen an der Haut (Oberflächensensibilität), es registriert Reize im gesamten Körper (griechisch: soma).
Die Empfindungen an der Oberfläche und in der Tiefe der einzelnen Körperteile informieren über ihre Position in Bezug auf den übrigen Körper und den Raum und helfen uns bei der Ausrichtung.
Bei den Informationen aus dem Körperinneren, vor allem an Muskeln und Gelenken, spricht man von Tiefensensibilität oder Propriozeption: Sie ermöglicht es uns, die Lage der einzelnen Körperteile zueinander und im Raum zu bestimmen und zu steuern.
Übung:
Auch dieses System kannst du durch bewusste Beanspruchung trainieren. Das geht ganz einfach: Statt auf einem festen, stabilen Untergrund übst du auf einer dicken Decke, im Sand oder auf einem Wackelbrett. Das trainiert insbesondere die neuromuskuläre Wahrnehmung und hilft dir, Unsicherheiten leichter auszugleichen und dich zu stabilisieren.
ANN SWANSON ist eine wissenschaftlich ausgerichtete Yogatherapeutin. Ihr Buch “Yoga verstehen. Die Anatomie der Yogahaltungen” (Dorling Kindersley, 20 Euro), gilt längst als Referenz zum Thema Anatomie.
Dieser Artikel ist aus der Yoga Journal Print Ausgabe Nr. 77 05/21
Ich gehöre zu der Art von Yogalehrerin, die es einfach nicht fertig bringt, Balanceübungen ohne zu wackeln auszuführen, geschwiegen denn vorzuzeigen. Doch auch wenn es meistens peinlich ist, verzichte ich nicht darauf, weil ich merke wie wichtig es ist Balance zu üben.
Der wissenschaftliche Hintergrund und die erwähnten, heranführenden Übungen gehören fortan zu meinen persönlichen Fortbildungstools. Besten Dank!