Welche Bedeutung haben die Atemübungen für den Yoga-Unterricht? Patanjalis Yogasutra kann uns eine direkte Hilfe in unserer Yogapraxis sein. Denn Patanjali erläutert in seinem Yogasutra die Definition und den Inhalt von Pranayama (YS 2.49), also Atemübungen. Er beschreibt die Aspekte, die zum Erreichen des Zieles notwendig sind (YS 2.50 und 2.51), und die zu erwartenden Ergebnisse (YS 2.52 und 2.53).
Wenn der Geist zur Ruhe kommt
Pranayama ist das vierte Glied von Patanjalis Ashtanga Yoga. Im Sutra verweist er auf die Wirkungen, die sich durch Atemübungen erzielen lassen. Sie dienen dazu, einen Zustand zu erreichen, der im zweiten Sutra des ersten Kapitels als “citta vrtti nirodhah” bezeichnet wird: Das Stillwerden der Aktivitäten des Mentalen. Citta bedeutet wörtlich “das Gewordene; das, was sich eingeprägt hat, was angelegt ist” und beinhaltet Gedanken, Konzepte, Werte, Erfahrungen und Emotionen. Je mehr Bewegung, vrttis, desto trüber ist die Linse und desto starrer ist unser Blick auf die Welt. Das Stillwerden der vrttis (vrtti nirodhah) verbessert unsere Fähigkeit, Dinge in und um uns herum mit einem klaren Geist besser und umfassender zu verstehen. Erst wenn alle Prägungen des Egos überwunden sind und Stille einkehrt, ist die Wahrnehmung nicht mehr getrübt. Dann können wir unsere wahre Natur erkennen.
Nicht gut für uns: Unregelmäßige Atemmuster
Wenn unser Geist unruhig ist, drückt sich das in unserem Fühlen, Körper und Atem aus: “Leiden, Gemütsstörung, Körperschwäche, unnatürliches Ein- und Ausatmen sind die Begleiterscheinungen eines zerstreuten Geistes” (YS 1.31, nach Deshpande/Bäumer). Ein solches Atemmuster – eine unregelmäßige, oberflächliche, kurze und unbewusste Atemqualität – nennt Patanjali “svasa-prasvasa”.
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Ruhiger Atem, ruhiger Geist
Der Atem ist also Ausdruck für die Unruhe unseres Geistes. Im Alltag ist unser Atem in der Regel unbewusst, unregelmäßig und rau. Damit der Atem lang, regelmäßig und fein, (dirgha und suksma) werden kann (YS, 2.50), muss zuerst das negative Atemmuster (YS 2.49) durchbrochen werden. Wie der Weg zu einem langen und feinen Atem aussieht, zeigt Patanjali in YS 2.50: Zuerst soll das Ausatmen bewusst vollzogen und dann verfeinert werden. Wenn der Ausatemzug lang ist, kann mit dem Verändern des Einatemzuges begonnen werden. Sind Aus- und Einatemzug gleichermaßen regelmäßig und fein, kann der Atemrückhalt geübt werden, während der Geist sich auf einen gewählten Konzentrationspunkt ausrichtet (beispielsweise den Ton in der Kehle bei der Ujjayῑ-Atmung oder die Bewegung im Bauchraum). Wird der Atem ruhig, beruhigt sich der Geist. Die Ausrichtung des Geistes schließlich öffnet das Tor zur Meditation und ermöglicht die Erfahrung von Samadhi.
Atemwahrnehmung für viele Änfänger nicht besonders attraktiv
Patanjali schreibt in YS 2.49, dass man erst dann (tasmin sati) mit Pranayama beginnen soll, wenn man die Asanas in der beschriebenen Weise ausführen kann. Das bedeutet, dass uns die Asana nicht von der Ausrichtung auf den Atem ablenken darf. Der Körper soll nicht nur nicht stören, sondern auch die Voraussetzung bieten, damit wir uns über längere Zeit der Atemregulierung zuwenden können. In der Unterrichtspraxis mache ich immer wieder die Erfahrung, dass die Atemübungen eine bereits verfeinerte Wahrnehmung erfordern, damit kleinste Unterschiede in der Qualität des Atems überhaupt gespürt werden. Anders als bei den Körperhaltungen ist die Atemwahrnehmung alleine für viele Änfänger nicht besonders attraktiv. Deshalb halte ich die Erfahrungen über den Körper durch eine dynamische und statische Asana-Praxis für einen sinnvollen und wichtigen Schritt: Sie schaffen die Bereitschaft, sich auf die subtile Erfahrung des eigenen Atems einzulassen.
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Atem nimmt Einfluss auf vegetative Prozesse im Körper
Heute weiß man, dass das Atemzentrum eine wichtige Schaltstelle vegetativer Regulationen ist, die sowohl neurale als auch hormonelle Prozesse umfassen. Der Atemrhythmus ist sehr eng mit der Aktivität des Sympathikus und des Parasympathikus verbunden. Deshalb ist der Atem ein sehr wirksames Mittel, um auf vegetative Prozesse im Körper Einfluss zu nehmen: Der Geist wird gesammelt, ausgerichtet und beruhigt (geleert); die Wahrnehmung wird verfeinert; physische und psycho-mentale Blockaden können sich lösen; die Energie kommt in Fluss; die Widerstandsfähigkeit und Belastbarkeit werden erhöht; das Wohlbefinden im Allgemeinen wird verbessert.
Autorin Lucia Nirmala Schmidt ist Yogalehrerin BDY/EYU, Atemtherapeutin, Beraterin für Psychosomatische Medizin (nach Dr. Ruediger Dahlke) und Buchautorin. Sie leitet weltweit Seminare, Workshops und Retreats und unterrichtet an ihrem Ausbildungsinstitut BodyMindSpirit in Zürich.