Ein Yoga, das zum Konsumartikel für dünne, weiße Akademikerinnen verkommt? Jessamyn Stanley hat es so satt! Wortgewandt und charismatisch verkündet die Yogalehrerin und spirituelle Vordenkerin, dass Yoga für alle ist – und zeigt uns selbstbewusst, wie sie das meint.
Nenne Jessamyn Stanley bitte nicht Yogini! Das ist der selbstbewussten 31-Jährigen sehr wichtig und sie ist allen dankbar, die diese Bitte berücksichtigen. Auch mir macht sie das bei unserer ersten Begegnung gleich klar – obwohl es noch etwas dauern wird, bevor sie mir erklärt, warum das so wichtig ist. Schließlich ist die US-Amerikanerin aus North Carolina seit einiger Zeit eine Frontfrau der amerikanischen Yogaszene, also theoretisch sehr wohl eine Yogini. Aber Jessamyn kämpft mit den Folgen ihrer wachsenden Bekanntheit. Sie hat sich noch nicht recht daran gewöhnt, dass Leute sie plötzlich im Bioladen, am Flughafen, auf Ämtern oder auch einfach auf der Straße ansprechen. “Sind Sie nicht diese Yogalehrerin aus der Tampon-Werbung?”, heißt es oft, seit sie als Testimonial für einen amerikanischen Menstruationsartikel-Hersteller auftrat.
“Hey, bist du nicht diese Yogini von Instagram?”
Manchmal fühlt sie sich davon nicht nur überrumpelt, sondern fast etwas erdrückt. Zwar postet sie fleißig und teilt gerne auch Fotos, auf denen sie in Unterwäsche komplizierte Asanas zeigt, trotzdem spürt sie eine gewisse Zerrissenheit zwischen den Ego-Streicheleinheiten, die Social Media mit sich bringt, und dem Yoga-Lifestyle, den sie eigentlich versucht zu leben. Denn der passt so gar nicht zusammen mit der fast schon hysterischen Bewunderung, die ihr zuweilen entgegenschlägt.
Jessamyn scheut kein Tabu
Innerhalb weniger Jahre hat Jessamyn jede Menge Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Das Forbes Magazine berichtete über sie, USA Today, Brigitte und natürlich auch Yoga-Zeitschriften und Webseiten wie diese. 2018 ist sie sogar zur Yogaexpertin der New York Times avanciert. Derzeit nimmt sie die zweite Staffel ihres Podcast “Jessamyn Stanley Explains It All” auf, außerdem plant sie eine Web-Serie, in der sie tabubehaftete gesellschaftliche und politische Themen aufgreifen will, darunter etwa die Legalisierung von Marihuana oder die Nachteile der Monogamie. Ihr erster Gast wird die Yogalehrerin Dana Falsetti sein, die wie Jessamyn Stanley selbst in der Body-Positivity-Bewegung aktiv ist.
Eine dicke, schwarze Frau, die Asanas zeigt?
Dass ihr so viel Aufmerksamkeit zuteil wird, wundert diesen energiegeladenen neuen Stern am Yoga-Himmel inzwischen überhaupt nicht mehr: Eine dicke, schwarze Frau, die Asanas zeigt? Das gibt einfach ein allzu ungewohntes, wenn nicht gar schockierendes Bild ab. Besonders in den USA, wo Yoga, so drückt sie es selbst aus, “tief verwurzelt ist in der weißen Oberschicht”. Wobei es in Deutschland und überhaupt in Westeuropa kaum anders aussieht. Unverblümt kritisiert Stanley die weit verbreitete westliche Form von Yoga, den damit verbundenen Druck und das Body-Shaming, denen, wie sie es nennt, “patriarchale, an Weißen orientierte Beauty-Standards” zugrunde liegen.
Medialer Kreuzzug: Yoga für jeden Körper
Sich selbst bezeichnet sie konsequent nicht etwa als “kurvig” oder “plus-size”, sondern als “fett”. Zum Beispiel in ihrem 2017 erschienenen Buch “Every Body Yoga” oder auf ihrem Instagram-Account, wo sie vor einiger Zeit bekannte: “Es ist seltsam, plötzlich das fette Kind zu sein, mit dem sich die dünnen Kinder anfreunden wollen.” Indem sie sich das Wort “fett” zu eigen macht, nimmt sie es denen weg, die andere damit beschämen wollen. Unerschrocken und im wahrsten Sinn mit vollem Körpereinsatz zieht sie in einen medialen Kreuzzug. Ihr Ziel: die üblichen Erwartungen an einen “Yogakörper” auf den Kopf zu stellen und damit Menschen Mut zu machen, die sich normalerweise nicht als Teil des Yogakosmos sehen würden.
“Oh, Yoga ist auch was für Dicke?!”
Aber natürlich hat Jessamyn Stanley ihren Instagram-Account nicht gestartet, um das Aushängeschild einer “Yoga für Fette”-Bewegung zu werden. Sie war schlicht auf der Suche nach Feedback für ihre Yogapraxis, mit der sie 2011 begonnen hatte. Wie viele andere Yoganeulinge fühlte auch sie sich nie wirklich wohl in den typischen Kursen. Meistens verdrückte sie sich in die hinterste Ecke und wünschte sich, unsichtbar zu sein. Genau das Gegenteil von dem, wofür sie heute steht! Damals hatte sie gerade ein Kunstmanagement-Studium beendet, war unsicher und fühlte sich irgendwie verloren. Yoga tat gut, vor allem nachdem sie beschloss, den Studios den Rücken zu kehren und innerhalb ihrer eigenen vier Wände weiterzuüben. Dabei nutzte sie die US-Ausgaben des YOGA JOURNALs sowie Internet-Kurse von Kathryn Budig und Amy Ippoliti. Ihre Fortschritte dokumentierte sie online, in der Hoffnung auf Hilfestellungen und Anregungen. “Allerdings bekam ich kaum echtes Feedback. Vielmehr kommentierten die Leute immer wieder: ‘Oh mein Gott, ich wusste gar nicht, dass Yoga auch was für Dicke ist!’ Mich wunderte das anfangs, denn warum sollte es das denn nicht sein? Dicke machen schließlich die ganze Zeit irgendwelche Dinge, die auch Dünne tun!”
Menschen wollen echte Vorbilder
So erkannte Stanley langsam die Chance, der Welt ihre Vorstellung von “echtem Yoga” mitteilen zu können – mitsamt den Narben, den Unsicherheiten und allem Drum und Dran. Im März 2015 absolvierte sie eine 200-Stunden-Ausbildung zur Yogalehrerin in Asheville, North Carolina. Zuvor hatte das People Magazine einen großen Bericht über die, wie sie sich selbst nennt, “fat femme” (in etwa: “dicke, feminine Lesbe”) veröffentlicht. Darin sprach Jessamyn unter anderem darüber, wie sie das Geld für ihr Teacher Training über Crowdfunding generieren wollte. “Ganz offensichtlich braucht es jemanden wie mich”, argumentierte sie, “die Leute lechzen nach einer Lehrerin, die aussieht wie sie – oder zumindest nicht so aussieht wie alle anderen.”
Jessamyn wollte nie Yogalehrerin werden
Der Erfolg gab ihr schnell Recht. Doch während wir so bei Churros und Latte in ihrer Wohnung in Durham sitzen, wo sie mit ihrer Partnerin und drei Katzen wohnt, erzählt sie mir, dass sie ursprünglich nie Yogalehrerin werden wollte. “Viele Leute haben mich gebeten, es zu tun – aber ich habe lange nicht verstanden, warum ausgerechnet ich die sein sollte, die unterrichtet.” Stattdessen empfahl sie ihren Fans Lehrer, mit denen sie selbst gute Erfahrungen gemacht hatte. Erst als ihr Vater, der ihre Yoga-Ambitionen zunächst mit Skepsis betrachtet hatte, ihr anbot, bei der Finanzierung der Ausbildung zu helfen, nahm sie sich selbst endlich ernst. “Meine Eltern haben 3000 Dollar nicht einfach so herumliegen”, erklärt sie. “Dass mein Papa so einfühlsam war und merkte, wie wichtig es für mich war, gab mir irgendwie das Gefühl, dass da höhere Mächte im Spiel sind und es einfach so sein sollte.”
Übrigens: Auch Tao Porchon-Lynch mischte die Yogaszene auf. Mit 101 Jahren war sie die älteste Yogalehrerin der Welt. Freund und Fotograf Robert Sturman erinnert sich in Bildern.
Weniger eine Karriere als eine Mission
Laut Jessamyn lässt sich ihr Leben ziemlich gut einteilen in eine Zeit vor der Lehrerausbildung und eine danach: “Während der Ausbildung hatte ich einige Erlebnisse, die meiner Seele sozusagen geholfen haben, auszubrechen und sich zu befreien. Plötzlich bemerkte ich, wie viel ich verdrängt hatte, und dass Unterrichten für mich der Weg war, Yoga wirklich zu leben und so viel Licht wie möglich dorthin zu bringen, wo die Welt noch dunkel, hässlich und kompliziert ist – und das kann natürlich abfärben auf die Leute, die dort leben. Darum geht es beim Unterrichten nämlich wirklich für mich: Es ist weniger eine Karriere als eine Mission. Ein ‘Call to Action’ sozusagen. Etwas, das dem Leben Sinn gibt.”
Auch Yogastar Kathryn Budig ist von Jessamyn begeistert
“Als ich mit der Ausbildung fertig war, hatte ich das Gefühl: ‘Okay, nun ist es an der Zeit, dass ich die Leute erreiche, die mich darum gebeten haben, sie zu erreichen.'” Und das tut sie! Fast jedes Wochenende ist Jessamyn Stanley auf Achse, um dort zu lehren, wo man sie ruft, wo Schüler hungrig sind nach ihrer Spontaneität, Ehrlichkeit und ihrem frechen Unterrichtsstil. “Sie hat eine unglaublich authentische, erfrischende und witzige Art, die ich sehr an ihr bewundere”, lobt Yogastar Kathryn Budig. “Ich glaube, wir erreichen langsam ein Zeitalter, in dem Menschen weniger Plattitüden hören wollen und sich stattdessen Ehrlichkeit wünschen. Und Jessamyn verkündet ihre Botschaften schnörkellos und pur.”
“Yoga ist für alle!”
Jessamyn Stanleys Hauptziel ist es, dass mehr Menschen mit den unterschiedlichsten Körpern sich in Yogaklassen trauen – auch die, denen bislang vielleicht gar nicht bewusst war, wie gut ihnen Yoga tun würde. Dafür müssten wir nur alle endlich begreifen und leben, was Yoga eigentlich im Kern ausmacht. “So viele wagen sich bislang nicht in Yogakurse, weil sie darin die einzige Schwarze sind, der einzige Mann, die größte oder dickste Frau, der einzige Hauptschüler oder was auch immer. Das gibt ihnen das Gefühl, nicht dazuzugehören, und das ist so traurig, denn Yoga ist für alle!”
Mittlerweile ist auch Stanleys App “The Underbelly” auf den Markt. Damit will sie ihre Yogaklassen für alle zugänglich machen, die über ein Smartphone oder einen Computer verfügen. Ihr ist klar, dass auch der Kauf einer App schon ein gewisses Privileg darstellt, doch sie bekennt: “Auch ich habe natürlich Rechnungen zu zahlen.”
Mehr Sein als Schein
An unserem letzten gemeinsamen Tag frage ich sie nach den Tattoos, die ihre Arme zieren. Eines davon ist das Staatsmotto von North Carolina: “Esse quam videri”, ein lateinischer Spruch, der so viel heißt wie “Mehr Sein als Schein”. Das Motto drückt genau das aus, wofür sie steht. Sage Rountree, die Mitinhaberin der Carolina Yoga Company, an der Jessamyn Stanley eine Weile unterrichtet hat, bringt es auf den Punkt: “Ihr geht es nicht darum, wie jemand oder etwas aussieht oder darum, sich in die fotogenste Pose zu werfen. Sie will wirklich echt sein und nicht ein makelloses Bild entwerfen, das möglichst echt wirkt.”
Und genau das ist auch der Grund, warum Stanley nicht gerne Yogini genannt wird. Echte Yogis und Yoginis, so ihre Überzeugung, leben in einem permanenten Zustand der Losgelöstheit – von materiellem Besitz, Sorgen, Vorurteilen. Nichts, was sie mit sich selbst in Verbindung bringt: “Es wäre vermessen und wirklich seltsam, würde ich behaupten, dass ich einen Weg gefunden habe, mich von solchen Bindungen zu lösen”, gibt sie zu. Aber hey – sie arbeitet daran!
Mehr Info: jessamynstanley.com
Die Autorin: Lindsay Tucker ist Redakteurin bei der US-Ausgabe des YOGA JOURNAL, doch sie schreibt auch für Hochglanzmagazine wie Glamour und Allure – Jessamyn hätte auch darin einen Platz.