Yoga-Mythbuster: Schultern weg von den Ohren!

Im heutigen Mythbuster-Beitrag geht Yogalehrerin Eva der Frage nach, ob es im Yogaunterricht immer sinnvoll ist, die Schultern weg von den Ohren zu ziehen.

Ich weiß nicht, wie es Euch geht… Aber ich höre diesen Satz eigentlich in jeder Yogastunde – häufig auch mehrmals, und ebenso häufig explizit an mich adressiert. Aber bei einem genaueren Blick auf unsere Anatomie wird deutlich, dass der fast schon mantrenhaft wiederholte Cue: „Schultern weg von den Ohren!“ nicht immer und vor allem nicht für jeden Körper Sinn macht. Vielleicht geht es Dir wie mir und Du spürst sofort die entstehende Enge im Bereich des Schultergelenks? 

“Light on Yoga”: Wo hat B.K.S. Iyengar seine Schultern?

Und es ist auch kein Zufall, dass Schulterverletzungen und Sehnenreizungen unter Yogaübenden extrem häufig vorkommen. Ein Großteil von ihnen wäre aber vermeidbar. Auf die deutsche Gesamtbevölkerung bezogen klagt übrigens etwa jede 10. Person über anhaltend Schulterschmerzen. Bei der Betrachtung der Fotos von B.K.S. Iyengar in seinem Buch “Light on Yoga” fällt ebenfalls auf, dass sich seine Schultern deutlich anheben (vgl. u.A. S. 12, 23, 91). Wusste er als also vielleicht schon immer besser? Oder hätte er den Hinweis gebraucht, seine Schultern zu entspannen?

Teamarbeit von Oberarm und Schulterblatt

Was passiert also mit den “Schultern” (anatomisch genauer handelt es sich um ein komplexes Zusammenspiel verschiedenster Strukturen und mehrerer echter, bzw. Nebengelenke), wenn man die Arme hebt? Und eben was passiert, wenn man sie dann “weg von den Ohren” schiebt? Grob vereinfacht rollt beim Heben der Oberarmknochen leicht nach außen, um besseren Kontakt mit dem sich ebenfalls hebenden Schulterblatt zu halten – und eben auch, weil alle diese Strukturen miteinander verwachsen und verbunden sind. Oberarm und Schulterblatt arbeiten quasi immer im Team! Dieser Vorgang wird als “Aufwärtsrotation” bezeichnet. Bei der Elevation des Armes kommt es zu einer Scapularotation um die dorsoventrale Achse durch die Mitte der Scapula und der Angulus
inferior schwenkt nach oben außen. 

Über die genaue Teamarbeit von Schulterblatt und Oberarm können interessierte LeserInnen unter dem Stichwort “scapohumeraler Rhythmus” übrigens haufenweise Infos und sehr anschauliche Animationen finden. Die Scapula ist für die Schultermuskultur eine bewegliche Ursprungs- und Ansatzstelle. Durch die Mitbewegung der Cavitas glenoidale beim Anheben des Armes wird erreicht, dass die vom Oberarmkopf ausgeübten Kraft im gesamten Verlauf der Bewegung optimal auf die Gelenkpfanne übertragen wird, und somit die perfekte Kraftübertragung vom Arm auf den Thorax vorliegt. 

Lesetipp: Mythbuster – Dehnt Yoga die Beinrückseiten?

Achtung: Mechanische Irritation

Folgt man nun aber dem Hinweis, die “Schultern weg von den Ohren” oder die “Schultern zurück ins Gelenk zu ziehen”, nähert man knöcherne Strukturen einander an und stört den oben beschriebenen, natürlichen Rhythmus miteinander verwachsener Strukturen. Dies ist völlig konträr und bedeutet eine mechanische Irritation, was nicht das Ziel gesunder Yogastunden sein darf. Und nicht nur das: Man schafft eine künstliche (zusätzliche!) Enge im Subacromialraum und kann Gewebe- und Bandstrukturen quetschen oder zumindest in eine ungünstige Position zueinander ausrichten. Diese kleine Kompression zwischen Oberarm und Schulterdach kann Bursa, Sehnen, den m. Supraspinatus oder eine Sehne des m. biceps brachii betreffen – und ja, dies sind alles auch Merkmale eines Impingement-Syndroms in der Schulter.

Darüber hinaus sind neuronale Muster nicht außer Acht zu lassen, auch wenn sie in diesem Artikel nur eine untergeordnete Rolle spielen können. Es sollte gelten, immer auch das Zusammenspiel z.B. von Schulterposition und m. obliquus externus zu beobachten und ob bzw. inwiefern die Veränderung der Körperposition im Bereich des Schultergürtels unwillkürlich die Rumpfspannung des Gegenübers negativ beeinflusst.

Natürlich macht es für viele KursbesucherInnen Sinn, sie immer mal wieder daran zu erinnern, grundsätzlich die Schultern “weg von den Ohren” zu nehmen, wenn die Arme sich neben dem Körper befinden. Aus den oben genannten Gründen sollte dieser Cue bei gehobenen Armen nicht gelten.

Lesetipp: Mythbuster – Detox im Yoga

Übungen gegen Schmerzen durch Computerarbeit

Und nicht vergessen darf man auch meinen letzten Hinweis: Wer z.B. viel Computerarbeit leisten muss und daraufhin ohnehin bereits eine ungünstige Schulterposition mitbringt, dem helfen keine zig Yogastunden, “Schulteröffner” oder Rückbeugen, sondern hier sollte in erster Linie gezieltes Krafttraining der Rotatorenmanschette und des oberen Rückens mit Hilfe von Zugbewegungen angesagt sein, die normalerweise kein Bestandteil klassischer Yogastunden sind.

Yogacycle by eva

Unsere Mythbuster-Kolumnistin und Yogalehrerin Eva kommt ursprünglich aus dem Leistungssport. Aufgrund einer gesunden Neugier liebt sie es, sich mit anatomischen Fragen auseinanderzusetzen und so den eigenen Körper besser zu verstehen. Zusätzlich nutzt sie ihr Wissen, um die Yogawelt immer inklusiver zu machen. Mehr Infos auf Instagram: @yogacycle_by_eva. Porträtbild: Sonja Netzlaf www.sonjanetzlaf.com

1 Kommentar

  1. Ein schöner Beitrag zu dem Satz Schultern weg von den Ohren. Als Lehrer/in ist es oft hilfreich die Formulierung zu ändern, wenn die Teilnehmer eine Anleitung nicht so umsetzen wie ich es mir für eine Übung Vorstelle oder auch einmal zu überlegen ob diese Anleitung Sinn macht. Mit der Formulierung: erlaube deinen Schultern sich nach hinten und unten zu entspannen, lass die Bewegung im Schulterblatt beginnen, dein Schulterblatt gleitet nach hinten und unten um die Bewegung einzuleiten habe ich gute Erfahrungen gemacht. Zur Vorbereitung gehören dann Übungen zur Wahrnehmung der Schulterblätter um den Übenden ein Gefühl für diese Bewegung zu ermöglichen.

Kommentieren Sie den Artikel

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein!
Bitte geben Sie hier Ihren Namen ein

Das Neueste

Ayurvedische Herbstrezepte – so hältst du dein Vata in Balance

Ayurveda_to_go Der Herbst wird von der starken Energie des Vata Doshas dominiert. „Vata“ bedeutet „das, was Dinge bewegt“, setzt sich aus den Elementen Luft und Äther zusammen und steht grundsätzlich für die Bewegung im Organismus. Zeit für Erdendes!

Eine Welt auf Probe: Über Verbundenheit und Verbindlichkeit

Schafft Verbindlichkeit einen Raum, in dem Verbundenheit überhaupt erst möglich wird? Oder ist es vielmehr so, dass die (gerade...

Die Mandukya Upanishad – Aller guten Dinge sind vier!

Dieses Mal stellt euch unsere Autorin Sybille Schlegel die Mandukya Upanishad vor, einen kurzen Text, der es ganz schön...

YogaWorld Podcast: #120 Praxisreihe: Body Face Yoga – mit Amiena Zylla

Willkommen beim "YogaWorld Podcast"! Die Idee dahinter: Zugang zu echtem Yogawissen, ohne stundenlangem Bücherwälzen. Hier erfährst du einfach alles...

#120 Praxisreihe: Body Face Yoga – mit Amiena Zylla

Strahlend schön: Integriere Face Yoga in deine Asana-Praxis Von unseren mehr als 650 Muskeln liegen sage und schreibe 50 im...

Auf Buddhas Spuren: Die Parallelen zwischen Yoga und Buddhismus

Dass in vielen Yogastudios Buddha-Figuren thronen, ist kein Zufall: Zwischen den beiden Lehren gibt es viele Parallelen. Timo Wahl...

Pflichtlektüre

Astrologie: September-Vollmond in den Fischen und partielle Mondfinsternis

Wann ist Vollmond? Am 18. September um ca. 4:35 Uhr steht der Vollmond im Zeichen Fische. Zudem findet eine...

Ayurvedische Herbstrezepte – so hältst du dein Vata in Balance

Ayurveda_to_go Der Herbst wird von der starken Energie des Vata Doshas dominiert. „Vata“ bedeutet „das, was Dinge bewegt“, setzt sich aus den Elementen Luft und Äther zusammen und steht grundsätzlich für die Bewegung im Organismus. Zeit für Erdendes!

Das könnte dir auch gefallen
Unsere Tipps