Stress als Vata-Störung – Interview mit Ayurveda-Experte Remo Rittiner

Die Grundkonstitution eines Menschen wird in der indischen Weisheits- und Gesundheitslehre Ayurveda durch die drei Doshas beschrieben: das luftige Vata, das feurige Pitta und das erdige Kapha. Besonders Vata steht in Zusammenhang mit dem Stress-Phänomen. Darüber hat die Gesundheits-Expertin Mag. Christina Kiehas mit dem Schweizer Ayurveda und Yogatherapie-Spezialisten Remo Rittiner gesprochen.

Text: Christina Kiehas

Vielleicht hast du schon von den Doshas gehört und davon, dass es im Ayurveda vor allem darum geht, diese im Gleichgewicht zu halten. “Ayur” kommt aus dem Sanskrit und bedeutet Leben. Im Ayurveda – dem Wissen vom Leben – geht es darum, gesund zu bleiben, und zwar auf allen Ebenen, die das Menschsein umfasst. Die Grundlage für die individuelle Heilbehandlung im Ayurveda stellen die sogenannten Doshas dar. Sie kennzeichnen etwa die körperliche, geistige und seelische Beschaffenheit eines Menschen. Man kann auch sagen, dass sie auf eine Art unseren Charakter formen.

Die Doshas und ihre entsprechenden Elemente

Der Mensch wird in der ayurvedischen Lehre als Mikrokosmos der Welt betrachtet. Alle Elemente des Makrokosmos (der Welt) finden sich auch im Mikrokosmos Mensch, so zum Beispiel in seinen fünf Sinnen: Hören (Raum), Sehen (Feuer), Riechen (Erde), Fühlen (Luft) und Schmecken (Wasser). In jedem von uns sind diese Elemente unterschiedlich ausgeprägt, und so ist jeder von uns auch mit ganz individuellen Stärken und Schwächen gesegnet. Die Grundkonstitution eines Menschen wird im Ayurveda über die Doshas beschrieben. Man spricht von Vata, Pitta und Kapha. Die Doshas wiederum setzen sich aus den genannten fünf Elementen zusammen.

Das Typen-ABC

VATA besteht aus den Elementen Luft und Raum und gilt als Lebensenergie. In unserem Körper reguliert es alle Aktivitäten. So ist es verantwortlich für die Atmung, das Nervensystem und die Bewegung. Ist Vata im Gleichgewicht, sorgt es für Flexibilität, Kreativität und Leichtigkeit. Ist es im Ungleichgewicht, kann es Nervosität hervorrufen, Schlaflosigkeit oder Blähungen.

PITTA besteht aus den Elementen Feuer und Wasser und gilt als Energie der Erhitzung. In unserem Körper reguliert es alle biochemischen Vorgänge, ist verantwortlich für den Stoffwechsel und die Verdauung. Ist Pitta im Gleichgewicht, sorgt es für Aufnahmebereitschaft, Verständnis und Lernfähigkeit. Ist es im Ungleichgewicht, kann es Wut hervorrufen, Verdauungsstörungen oder Entzündungen.

KAPHA besteht aus den Elementen Wasser und Erde und gilt als formende Energie. In unserem Körper reguliert es den Aufbau der Körperstrukturen und ist verantwortlich für Gelenkigkeit und Stabilität. Ist Kapha im Gleichgewicht, sorgt es für Ruhe und Liebe. Ist es im Ungleichgewicht, kann es Gier, Erkältungen oder Fettleibigkeit hervorrufen.

Bei den meisten Menschen dominieren ein oder zwei dieser Doshas. Im Idealfall befinden sich diese Doshas im Gleichgewicht, dann fühlen wir uns ausgeglichen, sind gesund und freudvoll. Gerät allerdings ein Dosha ins Übermaß, so führt dies zu einer Imbalance im gesamten Organismus. Vor allem Stress kann die Doshas aus dem Gleichgewicht bringen. Davon betroffen sind vor allem Vata und Pitta. Meist geht uns irgendwann das Feuer aus, dennoch bleiben wir in Bewegung, so manifestiert sich Stress oftmals über den Bewegungsapparat.

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Ich habe mich mit dem erfahrenen Ayur Yogatherapie-Experten Remo Rittiner unterhalten und ihn gebeten, uns etwas genauer über diese Vata-Störung zu informieren. Wir gehen dabei auch auf die Wirkweisen des Yoga ein, das eine sehr enge Beziehung zum Ayurveda pflegt. Du erfährst, warum Yoga einen so wunderbaren Ansatz bei Stress gewährt und bekommst auch ganz konkrete Übungen, die einen Vata-Überschuss balancieren.

Remo Rittiner im Interview

Christina: Remo, du bist AyurYoga-Therapie Experte. Das Wort “Ayur” unterstreicht bereits die Bedeutung des Ayurveda in dieser Form des Yoga, das du bereits seit 25 Jahren prägst. Aus dieser Erfahrung heraus beschreibst du Stress als Vata-Störung. Kannst du dies für uns näher erläutern?

Remo: Unruhe und Kreisen der Gedanken reizen den Sympathikus – er wird überstimuliert, wohingegen der Parasympathikus unterdrückt wird. Diese sogenannte Wind-(Vata-)störung führt dazu, dass sehr viel Energie verbraucht wird. Man kommt in die Müdigkeit, in die Erschöpfung, leidet unter Konzentrationsschwäche. Sie führt zu sehr viel Anspannung im Körper. Rückenschmerzen, aber auch Schlafprobleme sind typisch für Vata-Störungen.

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Man kommt also aus dem Rhythmus, da man sich in einer Überfunktion befindet: Das Herz schlägt schneller, der Blutdruck ist erhöht – das ganze System ist hochgefahren. Man könnte aus ayurvedischer Sicht sagen, jetzt ist man durch den Wind. Gekennzeichnet ist dieser Zustand durch übersteigertes Denken, viele Emotionen, denen man immer wieder nachgeht. Darüber geht auch die Erdung verloren, man ist dann in einem abgehobenen Zustand. Letztlich landen Betroffene oft jäh. Darum ist es wichtig, sich gut zu erden, sich im Körper zu verankern, und gleichzeitig Ruhe zu finden wie auch Entspannung. Das fehlt vielen, gerade in der jetzigen Zeit. Viele Menschen sind nicht mehr geerdet, sind sehr bewegt von Meinungen und Meldungen, Emotionen, Gedanken, Konzepten – sehr unruhig im Geist. Sie sind quasi nicht bei sich. Fehlende Ruhe und mangelnde Erdung sind eine schlechte Kombination. Und man muss sich vorstellen: 80 % aller Krankheiten sind Luft- also Vata-Störungen.

Tiefenentspannung ist für die Vata-Balance sehr wichtig

Remo Rittiner

Christina: Wie kann ich mir im Falle einer Vata-Störung mit Yoga helfen?

Remo: Entscheidend ist: Wie atmest du, wie bewegst du dich? Schnell? Dann wirst du dein Vata nicht beruhigen. Sehr unrhythmisch? Auch dann wirst du dein Vata nicht ausgleichen. Ist es ehrgeizig? Auch dann findest du keinen Ausgleich. Vata braucht vor allem langsame, ruhige Bewegungen und es braucht Rhythmus, den im Idealfall der tiefe Atem gibt. Es braucht auch Entspannung, wie etwa Shavasana, Meditation, Atemtechniken. Tiefenentspannung ist für die Vata-Balance sehr wichtig. Wenn es uns also gelingt, das Nervensystem mit den Yoga-Techniken zu balancieren, dann ist auch die Gesundheit im Lot. Denn dann aktivieren wir den Vagus-Nerv und Ruhe kann einkehren. Ich selbst habe dazu ein YouTube-Video aufgenommen, das Fokus und Ruhe vereint.

Auf diese Weise kann sich der zerstreute Geist des Vata-Typs – dieser Typus hat ja immer sehr viele Ideen, ist sehr kreativ – zentrieren. Vata-Menschen fehlt manchmal der Fokus, wenn sie nicht in Balance sind, deshalb ist neben Ruhe auch Fokus zentral. Ruhe, Rhythmus, Erdung, Fokus und Struktur unterstützen das vegetative Nervensystem und somit die Vata-Balance und Resilienz.

3 Übungen, um aufgewühltes Vata zu beruhigen

Christina: Remo, du hast bereits dein Video erwähnt, das sich sicher gut als Ansatz eignet. Hast du eine konkrete Übung, die du unseren Leser*innen ans Herz legen kannst, um das Vata-Dosha zu beruhigen? Eine Übung, die bei dir gut wirkt, wenn Vata aus der Balance kommt.

Remo: Für mich ist es am besten, mich hinzulegen und mich ganz aufs Fallenlassen zu konzentrieren. Dann spüre ich zum Kontakt mit dem Boden hin – von den Fersen bis zum Kopf. Damit komme ich im Körper und in der Erdung an. Gleichzeitig geht es darum, nichts zu tun – nicht zu denken, nichts zu machen, also wirklich in die Ruhe zu kommen. In diesem Fall ist es Shavasana ohne Affirmation oder Mantra, es ist einfach ein Fallenlassen und die Ruhe in sich finden. Das ist für mich eine sehr gute Übung, um Vata sofort zu beruhigen.

Shavasana
Foto von fizkes via Canva

Ein etwas aktiveres Beispiel ist die Bauchatmung, wo ich ganz bewusst den Ausatem verlängere. Wenn man das Atmen mit Zählen kombiniert, kommt man auch gut in einen Rhythmus. Dazu kann man auch die Hände auf dem Bauch auflegen, um sich und die Atmung besser zu spüren.

Was auch sehr wichtig ist und ich empfehlen kann, ist, sich einen Moment hinzusetzen, ruhig zu werden und zu schauen, was will ich wirklich? Diese Übung kann man gut in den Alltag einbauen. Da sprechen wir wieder die Bedürfnisse des Ruhigwerdens und des Spürens an: Was brauche ich jetzt? – darum geht es.

Also: Entspannung, Atmung oder das in die bedürfnisorientierte Ruhe gehen, das sind drei Top-Übungen für mich, die ich auch selbst praktiziere, vor allem wenn ich merke, jetzt war ich nicht so in meiner Balance, jetzt bin ich zu stark ins Pitta gegangen oder ich war nicht fokussiert. Diese Übungen bringen mich wieder in die Mitte.

Warum Yoga ein Wundermittel gegen Stress ist

Christina: Aus deinen Ausführungen geht ganz klar hervor, Yoga bietet einen idealen Ansatzpunkt hinsichtlich Stressbewältigung und Stressmanagement. Warum wirkt Yoga in diesem Fall so gut?

Remo: Das wichtigste ist eigentlich die Atmung – das ist die eine Seite. Denn mit der Atmung können wir wirklich sofort das Nervensystem beeinflussen – willentlich! Wir können sie steuern. Indem wir den Atem sanft und langsam führen, verändern wir sofort die Gefühle, die Gedanken, aber auch den Muskeltonus und die Verdauung. Sicher, man kann sich auch mit Yoga stressen – im Druck, der Anspannung verhaftet bleiben, wenn du zum Beispiel zu fest presst, etwa bei der Ujjayi-Atmung. Wirklich fließen lassen – das ist elementar.

Und das zweite: Durch die Bewegung, durch die Asanas kommt man ins Lösen: Anspannung, gestaute Energie, Muskelverspannungen, blockierte Atmung, wodurch Druck im Herzbereich entsteht, all das darf sich im Körper lösen. Durch die Asanas kommt man auch ins Spüren, man kommt in Kontakt. Man steigt quasi vom Kopf aus und in den Körper ein – das sich wieder Wahrnehmen wird geschult. Das hilft enorm, beispielsweise in die Erdung zu kommen, zu entspannen, präsent zu sein, in der Achtsamkeit und dabei im Jetzt anzukommen.

Hier geht’s zu einer schönen Mini-Yogapraxis für Ruhe und Erdung.

Yoga ist sanft, meditativ, achtsam und nicht auf Leistung ausgerichtet, es unterstützt das In-Kontakt-Kommen und -Sein mit sich selbst. Die “glückliche Anstrengung” ist sehr wichtig, denn sehr ehrgeiziges Yoga, quasi Yoga als Gymnastik oder Work-out, kann Stress sogar noch verstärken. Wenn man Krankheiten hat oder Störungen, kann es sogar das Ungleichgewicht verstärken. Wir sollten darauf schauen, das Maß beim Yoga zu finden, das uns in die Mitte bringt. Ein Mensch, der es ein bisschen feuriger braucht, steigt aus, wenn es zu sanft ist. Wichtig ist also zu schauen, welches Yoga passt heute am besten – das ist der Hauptsatz von Krishnamacharya:

“Finde das Yoga, das jetzt für dich passt.”

– Krishnamacharya

Das, was du gestern gemacht hast, muss heute nicht stimmig sein. Schaue: Wie ist das Wetter heute, wie geht es deinem Körper, merkst du etwas in deinen Gelenken, wo hast du Verspannungen – dann wähle Übungen und Techniken, die dich genau da abholen und dich da hinbringen, wo du hinwillst, nämlich in die Balance. Bei Yoga bedeutet das von der Dysbalance in die Balance zu kommen: zu viel Denken, zu schnelles Atmen, zu viel Bewegung im Geist bedeutet Imbalance. Um in die Balance zu kommen, geht es also um weniger.

Yoga hat auch psychisch – durch die Entspannung und Meditation – die absolute Topwirkung. Yoga bringt den Geist zur Ruhe, das ist eigentlich der Schlüssel: Je ruhiger dein Geist ist, desto entspannter bist du. Ein leerer Geist kennt keine Sorgen. Ein entspanntes Herz ist zufrieden, ist glücklich. Ein angespanntes Herz, das unter Druck ist, beschreiben die Thailänder als ein “heißes Herz”, als jemanden, der heißblütig ist. Im Herzen, dem Sitz der Gefühle sind dann Gefühle wie Zorn stark, auch Ärger und Wut, und das schlägt sich letztlich auf den Bauch, die Galle, die Leber und es wird eng ums Herz. Yoga bringt uns aus der Enge wieder in den Raum – Raum in den Gelenken, in der Atmung und vor allem im Geist.

Die Weisen wie Buddha oder Patanjali sagen auch, es bringt uns aus dem Leiden. Es gibt keine Methode, die ich kennengelernt habe, die so ganzheitlich ist wie Yoga, weil es eben alles aus der Enge führt. Auf der Körperebene etwa gelangt man zu mehr Raum in der Dehnung, im Gelenk zu mehr Beweglichkeit. Auf der Ebene der Atmung, zeigt sich der Raum für das langsame Verlängern der Atmung. “Ayama” (Pranayama; Prana und ayama) heißt ja verlängern. Wenn man Yoga regelmäßig praktiziert, bleibt man einfach beweglicher, gesünder und geistig fit.


Christina Kiehas Remo Rittiner

Mag. CHRISTINA KIEHAS ist mehrfach zertifizierte Yogalehrerin, spezialisiert auf Gesundheitsyoga & Ayur Yogatherapie wie auch Ausbildungsleiterin bei der Yoga Akademie Austria. “Yoga ist mein Lebensweg, Patanjali ist mein Lehrmeister, Meditation ist mein Ort der Ruhe, Anatomie ist mein Lernfeld, ferne Länder sind meine Passion, Musik ist mein Tanzfeld, Natur mein Kraftraum.” Mehr zu Christina unter www.yogena.at.

REMO RITTINER ist mehrfacher Buchautor und einer der führenden Experten für Yogatherapie. Er ist der Gründer von Ayur Yogatherapie. Diese verbindet Yoga mit Ayurveda, westlicher Anatomie und Psychosomatik zu einem ganzheitlichen Konzept. Mehr zu Remo unter www.ayuryoga.ch.


Titelbild: Anthony Tran via Unsplash.


Du möchtest noch mehr über Ayurveda erfahren? Höre dir gerne unser Podcast-Interview mit Dr. Annette Müller-Leisgang an:

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