Vagus der Wunder-Nerv

“Erstmal tief ausatmen!” – das sagt sich YOGA JOURNAL-Chefredakteurin Stephanie Schauenburg noch viel häufiger, seit sie Bekanntschaft mit dem Vagus-Nerv gemacht hat. Hier erklärt sie, was es mit dem “Selbstheilungsnerv” auf sich hat, wie du ihn stimulierst und wie die moderne Physiologie dabei uraltes yogisches Wissen belegt.

Text: Stephanie Schauenburg

“Das geht mir total auf die Nerven!” Du kennst den Satz, bloß welche Nerven meinen wir da? Einer ist es mit Sicherheit nicht: der Vagus-Nerv. Der zehnte Hirnnerv bewirkt in Körper und Geist das genaue Gegenteil von Stress, Ärger und Aufregung: Er regelt viele wichtige Körperfunktionen in den Ruhe- und Erholungsmodus und ist so etwas wie die physiologische Basis der Entspannung. Vom Stammhirn ausgehend zieht er sich in zahlreichen Verästelungen bis hinunter in den Bauch. Weil er dabei an ganz unterschiedlichen Stellen im Körper anzutreffen ist, nannten ihn die Ärzte der Antike “Nervus Vagus” (von lateinisch vagari, wandern, umherschweifen). Mit “Vagheit” hat das wenig zu tun, denn seine vielfältigen Funktionen (siehe unten) spüren wir im Alltag ganz deutlich. Diese Wirkweisen machen ihn zum wichtigsten Bestandteil des Parasympathischen Nervensystems.

Die Psychologie der Entspannung

Du erinnerst dich vielleicht: Sympathikus und Parasympathikus sind die großen Gegenspieler im autonomen (vegetativen) Nervensystem. Droht Gefahr oder stehen wir vor einer wichtigen Aufgabe, dann stellt der Sympathikus maximale Leistungsbereitschaft her, indem er unter anderem Herzfrequenz und Blutdruck hochfährt, die Muskeln anspannt und die Verdauung hemmt. Kampf oder Flucht, “Fight or Flight”, wird dieser Zustand häufig genannt – und um ihn zu veranschaulichen, stellt man sich gerne einen unserer frühen Vorfahren vor, der in der Wildnis einem Säbelzahntiger gegenübersteht. Ist die Gefahr gebannt und liegt der Urmensch satt und sicher in seiner Höhle, dann tritt der Parasymapthikus auf den Plan: Blutdruck und Herzfrequenz sinken, der Geist kommt zur Ruhe und der Körper regeneriert, indem er Nahrung verarbeitet und Heilprozesse anschiebt. Das Bild ist natürlich grob vereinfacht. In Wirklichkeit laufen diese Regulationsprozesse ständig im Hintergrund und wirken bis in die subtilsten Abläufe hinein. Zum Beispiel beschleunigt der Sympathikus die Herzfrequenz bei jeder einzelnen Einatmung etwas, während der Parasympathikus sie ausatmend leicht verlangsamt. Die Ärzte Ursula Eder und Franz Sperlich vergleichen diese permanente Selbstregulation in ihrem Buch “Das Parasympathikus-Prinzip” mit einem Auto: Während der Fahrt drücken wir abwechselnd aufs Gas (Sympathikus) und die Bremse (Parasympathikus).

„Die drei in der Polyvagal- Theorie beschriebenen Zustände decken sich mit den yogischen Gunas.“

In diesem Bild bleibend kann man auch sehr gut beschreiben, was bei unserer modernen Lebensweise so häufig das Problem ist: Wir stehen viel zu viel auf dem Gas. Der Säbelzahntiger hockt quasi ständig vor der Höhle und dieser anhaltende, oft unterschwellige Stress schädigt den Organismus. Kein Wunder also, dass Entspannungsmethoden boomen und der Parasympathikus verstärkt in den Fokus rückt. Auch sein wichtigster Mitspieler, der Vagus-Nerv ist in den letzten Jahren immer berühmter geworden. Eine große Frauenzeitschrift nannte ihn kürzlich “das neue It-Peace unter den Körperteilen”. Warum das so ist, liegt auf der Hand: Wir wollen besser verstehen, was uns heraushilft aus dem Hamsterrad und hinein in die heilsame Balance.

Ein Vagus oder mehrere

Besonders spannend ist in diesem Zusammenhang eine neuere Sichtweise des autonomen Nervensystems: die Polyvagal-Theorie. Ihr Urheber, der Arzt Stephen Porges, ist der Auffassung, dass es sich bei den beiden Hauptästen des Vagus-Nervs eigentlich um voneinander getrennte Nerven handelt, die im Zusammenspiel mit anderen Nerven jeweils eigene Kreisläufe bilden. Statt dem binären Yin und Yang der Gegenspieler Parasympathikus und Sympathikus beschreibt die Polyvagal-Theorie drei Kreisläufe: Neben dem aktivieren- den Kampf- oder-Flucht-Mechanismus des Sympathikus gibt es demnach den stark verlangsamenden Kreislauf des hinteren (dorsalen) Vagus-Astes, der Rückzug und Passivität, im Extremfall sogar Schock und ein völliges Abschalten bewirkt.

Illustration: Vanessa Schöne

Dagegen fördert die Aktivität des vorderen (ventralen) Vagus-Astes im Zusammenspiel mit anderen Hirnnerven einen wachen Entspannungszustand. Mehr noch: Aus einem Gefühl von Sicherheit heraus ermöglicht dieser Nervenkreislauf Kommunikation, Zugewandtheit und Verbindung. In seinem Buch “Der Selbstheilungsnerv” beschreibt der Körpertherapeut Stanley Rosenberg den vorderen Vagus-Ast als unser wichtigstes Regulativ für Entspannung und Gesundheit. Darin hebt er auch hervor, dass in diesem Verständnis eine wichtige, bislang nicht berücksichtigte Dimension dazukommt: Das autonome Nervensystem reguliert demnach “nicht nur die Funktion der inneren Organe, diese drei Kreisläufe hängen auch eng mit unseren emotionalen Zuständen zusammen, die wiederum unser Verhalten steuern.”

So arbeitet der Vagus im Parasympathischen Nervensystem

Auf der körperlichen Ebene

  • ist er beteiligt an Kauen, Schlucken und Speichelfluss
  • verlangsamt Atmung und Herzschlag
  • stimuliert die Verdauung in Magen, Leber, Galle und Darm
  • und hemmt die Produktion von Stresshormonen in der Nebenniere

Auf der ganzheitlichen Ebene

  • ermöglicht er Erholung und Regeneration
  • lindert die Auswirkung von Stress
  • fördert Konzentration und Kommunikation
  • und weckt Gefühle von Zufriedenheit und Verbundenheit

Und immer wieder Yoga!

Ist dir etwas aufgefallen? Die drei in der Polyvagal-Theorie beschriebenen Zustände decken sich ziemlich genau mit den drei Gunas, also den energetischen Grundeigenschaften, die die traditionelle indische Weisheitslehre schon vor Jahrtausenden umrissen hat: Die spannungsgeladene Aktivität des Sympathikus entspricht dabei dem feurigen Rajas. Wenn der hintere Vagus-Kreislauf dagegen Blutdruck und Muskeltonus senkt, die Psyche zum Rückzug und bei anhaltender Aktivität womöglich in die Depression bringt, dann sehen wir das träge, schwere Tamas am Werk. Und in der wachen, aufmerksamen Ruhe, der empathischen Zugewandtheit und dem “Genau-Richtig” eines gut balancierten Organismus erkennen wir Sattva.

Eine weitere Parallele: Genau wie die Lehre von den Gunas geht auch die Polyvagal-Theorie davon aus, dass die drei Kreisläufe nicht scharf voneinander getrennt wirken, sondern ineinandergreifen und hybride Zustände hervorrufen: Immer dann, wenn der Mensch das Grundgefühl von Sicherheit hat und der vordere Vagus-Ast, also Sattva, mit am Werk ist, kommt es zu einem eher harmonischen, positiven Zustand. Rosenberg nennt den Hybrid-Kreislauf aus Sympathikus und vorderem Vagus “Mobilisierung ohne Angst”: Wir sind so aktiv, dabei aber zugewandt, wie zum Beispiel bei einem freundschaftlichen Tennis-Match, einer angeregten Diskussion oder beim Sex. Vertrautes Kuscheln oder ein tief entspanntes Savasana wäre dagegen Ausdruck einer “Immobilisierung ohne Angst”, bei der vorderer und hinterer Vagus-Kreislauf zusammenwirken.

Apropos Ängste – folge dem Link und erfahre, mehr zu “Yoga gegen Ängste”.

Das Ziel des Organismus ist immer eine gesunde, also lebenserhaltende Selbstregulierung auf einen möglichst ausgeglichener Zustand hin. Die ganzheitliche Medizin nennt diesen Zustand “Homöostase”. Damit wir im ständigen Auf und Ab des Lebens immer wieder in diese Balance finden und unsere Gesundheit lange erhalten können, sind zwei Dinge besonders wichtig: Eigenwahrnehmung und Selbstfürsorge. Das betrifft nicht nur den Körper, seine energetischen Zustände und Bedürfnisse, sondern auch die subtileren Ebenen der Gedanken und Emotionen. All das scheinen die alten Yogis schon gewusst zu haben, als sie die Praxis entwickelten, die wir bis heute pflegen: Sie enthält eigentlich alles, was den Vagus-Nerv freut – auch wenn die alten Yogaschriften kein Wort über ihn verloren haben.

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Amiena Zylla macht eine Katzenbuckel-Variante für die Faszien – die ganze Übung findest du hier.

Praxis: So stimulierst du den vorderen Vagus-Ast

  1. Atmung
    Der Atem ist unsere wichtigste Hintertür ins autonome Nervensystem, denn diese eigentlich vegetative Körperfunktion können wir auch willentlich ansteuern. In- dem du die Ausatmung betonst und sanft verlängerst, aktivierst du den Parasympathikus. Im Pranayama üben wir das u.a. bei Ujjayi (Meeresrauschen-Atmung). Wegen der beim Ausatmen sanft geschlossenen Stimmritze stimuliert diese Technik zugleich den mit dem Vagus verbundenen Rachenraum.
  2. Yoga
    Jede Art von Bewegung unterstützt die Regulationsmechanismen des vegetativen Nervensystems, erst recht wenn dabei die achtsame Selbstwahrnehmung fördern. Besonders wohltuend für den vorderen Vagus-Ast sind Yogaübungen, die Schultern und Wirbelsäule mobilisieren (z.B. Katze-Kuh), und solche, die Kehle und Herzgegend weiten (z.B. passive Rückbeuge). Es geht also um Herz- und Kehl-Chakra.
  3. Lächeln
    Schon mal probiert? Auch ein künstlich aufgesetztes Lächeln hebt nachweislich die Stimmung und macht uns offener für unsere Umgebung. Allerdings: Damit ist kein krampfig-starres Dauergrinsen gemeint! Entspanne zunächst bewusst Augen und Gesicht und lasse dann nur ein sanftes Lächeln entstehen. Auf physiologischer Ebene stimulierst du damit die mit den Gesichtsmuskeln verbundenen Nervenenden des vorderen Vagus.
  4. Singen, Summen, Brummen
    Im Rachen- und Brustraum ist der vordere Vagus-Ast besonders präsent. Immer dann, wenn wir hier atmende Töne erzeugen, wird er durch die Vibrationen gestreichelt. Unser Tipp neben Mantra-Chanten und Tönen: Brahmari Pranayama (Bienenatmung) mit sanft summender Ausatmung. Und natürlich: Oooomm!
  5. Ruhe und Bewusstheit
    Klingt am selbstverständlichsten, ist aber häufig am schwierigsten – und dabei der eigentliche Kern der Yogapraxis. Besonders empfehlenswert im Zusammenhang mit dem vorderen Vagus-Ast ist die herzöffnende Metta-Meditation. Außerdem gut: das tief entspannende Yoga Nidra. Eine einfache Anleitung zu “Yoga Nidra in 10 Schritten” findest du hier.

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