Mythen erklären uns in Bildern und Symbolen das Leben. Problematisch wird es nur, wenn sie nicht dazu dienen, der Wahrheit auf die Spur zu kommen, sondern selbst als Wahrheit ausgegeben werden. Mark Stephens geht beliebten Yogamythen auf den Grund.
Yoga Rituale
Yoga ist in einer Zeit entstanden, in der die Natur für die Menschen noch ein Mysterium war. Sonnenauf- und -untergang, Regen und Dürre, Geburt und Tod wurden verstanden als Ausdruck göttlichen Wirkens. Yoga bestand damals wahrscheinlich zum größten Teil aus ritualisierten Handlungen, die die Götter gnädig stimmen sollten: Besorgt, dass die Sonne am Morgen nicht wieder aufgeht? Wende dich nach Osten, führe 108 Sonnengrüße aus und bitte den Sonnengott Surya, auch heute zuverlässig zu erscheinen. Und doch: Auch vor 3500 Jahren gab es Menschen, die versuchten, den natürlichen Gang der Dinge mithilfe methodischer Beobachtungen und Versuche genauer zu verstehen. Die alten Yogis experimentierten mit ihrem Atem, ihrem Körper und mit ihrem Bewusstsein – denn sie waren auf der Suche nach klareren und einfacheren Wegen zur Befreiung von Leid. Dieses Bekenntnis zu Wissen (Jnana) und sachkundigem Handeln (Kriya) wird in Patanjalis Yogasutra festgeschrieben. Ein verwirrter Geist gilt hier als Hauptursache von Leid und Wahrheit (Satya) als einer der wichtigsten Werte. Sie stellt sicher, dass die eigene Praxis von moralischer Integrität (Yama) getragen wird.
Alternative Fakten im Yoga – Mythos oder Wahrheit?
Das hat viele Yogis nicht davon abgehalten, Wahrheiten zu verkünden, die schlicht unwahr sind. Zum Beispiel die Behauptung, Patanjali sei kein Mensch, Gelehrter oder Yogi gewesen, sondern eine Gottheit. Solche Abweichungen von der Wahrheit würde ich „Yogamythen“ nennen. Mythen können wunderschön sein, inspirierend und kraftvoll. Wenn wir in Homers Ilias die Geschichte von Achill lesen, die von Lakshmi im Athara Veda oder Hanumans in der Ramayana, dann wachsen unserer Einbildungskraft Flügel: Wir setzen diese Dramen mit unseren eigenen in Beziehung. Zwar wissen wir, dass die Geschichten Mythen sind, aber dennoch können sie uns zu Einsichten führen, die unser Leben klarer, bewusster und gesünder machen. Wenn Mythen aber als wahr oder real dargestellt werden, dann verwirren sie den Geist. 2017 lernte die Welt „Alternative Fakten“ kennen: Der Apfel des einen soll für den anderen eine Orange sein können, die Schwerkraft wird hinterfragbar und die Wahrheit selbst, na ja, langweilig. Es ist doch viel interessanter, mehrere Wahrheiten zu haben! Und wenn man nicht mag, was die anderen sagen, dann wischt man es einfach als „Fake News“ beiseite.
Trotzdem – oder umso mehr: Ein Yogalehrer schuldet seinen Schülern die genaueste, aufschlussreichste und wahrhafteste Information. Natürlich kann er ihre Praxis mit alten und neuen Geschichten aus den Kulturen der Welt bereichern, aber dabei sollte er klar unterscheiden zwischen Wahrheit und Mythos. Als moderne Yogis sind wir mit einem Schatz an Methoden und Quellen des Lernens gesegnet – und die sollten wir auf möglichst wahrhafte Weise nutzen, anstatt zur Mystifizierung beizutragen. Denn nur indem wir uns bemühen, immer klarer zwischen Mythos und Wahrheit zu unterscheiden, würdigen wir das Erbe unserer yogischen Vorgänger. An vier beliebten Yogamythen möchte ich das deutlich machen.
4 beliebte Yogamythen – und was es wirklich damit auf sich hat
Mythos 1: Der laut Om und der Urknall
In jeder Kultur gibt es Schöpfungsmythen. Unter den Yogamythen besonders beliebt: Das Universum aus dem Laut Om entstanden ist. Demnach hat das Om Bewusstsein (Purusha) und Materie (Prakriti) miteinander verbunden und jene Kategorien (Tattvas) manifestiert, aus denen die gesamte Existenz bis hin zu uns Menschen besteht. Dieser Mythos ist umso schöner, als er sich gar nicht so grundlegend von dem unterscheidet, wie Astrophysiker die Ursprünge des Universums erklären: Hier vereinen sich Energie und Materie im sogenannten Urknall.
Wenn wir zu Beginn und Abschluss einer Yogastunde den Laut Om anstimmen, dann also nicht, weil wir glauben, dass dies der tatsächliche Urlaut des Universums ist, sondern weil wir uns damit den symbolischen Beginn einer neuen Reise ins Leben vergegenwärtigen. Häufig wird der Laut Om auch unterteilt in die Laute A-U-M. Hier symbolisiert jeder Buchstabe einen Teil des universellen spirituellen Zyklusses: A steht für Brahma, den Schöpfer; U für Vishnu, den Erhalter; und M für Shiva, den der Zerstörer. Bezogen auf die Yogapraxis können sie symbolisch stehen für den Beginn der Praxis (Bhava), für unsere Ausdauer im Üben (Abhyasa) und für das Nicht-Anhaften an ihre Wirkungen (Vairagya).
Mythos 2: Chakras und Nadis
Nach yogischer Vorstellung fließt die Lebensenergie (Prana) in Form von fünf Strömen (Vayus) durch uns hindurch – und das nicht willkürlich, sondern in 72 000 Energiekanälen (Nadis). Wo sich die drei Haupt-Nadis (Sushumna, Ida, Pingala) begegnen, liegen sieben Knotenpunkte (Chakras), mit deren Hilfe man die Energie bewusst steuern kann. Woher wir das wissen? Wie die meisten yogischen Überlieferungen soll auch dieses Modell direkt aus der Sphäre des Göttlichen übermittelt worden sein – einer Quelle, die für die wahrhaftigste und präziseste gehalten wird. Seltsam nur, dass diese göttliche Quelle nicht erwähnt hat, dass wir auf ei-
ner sich drehenden Kugel leben, die um die Sonne kreist, was uns Tage, Nächte und Jahreszeiten beschert. Oder dass die Chakras eigentlich mythische Abstraktionen sind: Sie existieren nicht physisch, sondern „nur“ in unserer Vorstellung.
Dennoch können wir auf wunderbare Weise mit diesen mythischen Chakras und ihrer symbolischen Kraft spielen und dabei vieles lernen: Betrachte beispielsweise deine Erfahrungen mit Stehhaltungen durch die Lupe des Muladhara-Chakra. Frage dich, wie es um deine Erdung, deinen Überlebenstrieb und deinen Umgang mit dem Thema Sicherheit steht. Je bewusster und ausgeglichener dein Zugang zu diesen Fragen ist, desto wahrscheinlicher wirst du in Stehhaltungen Stabilität (Sthira) und Leichtigkeit (Sukha) empfinden. Umgekehrt kann eine feinere Arbeit an den Stehhaltungen auch deine Erdung im Leben verbessern. In ganz ähnlicher Weise bereichern und verfeinern auch die anderen sechs Chakras unsere Erfahrungen mit Yoga – selbst wenn wir wissen, dass sie keine faktische Realität sind, sondern ein Modell.
Mythos 3: Umkehrhaltungen, Menstruation und das rote Zelt
Zwar sind über 80 Prozent der Yogaübenden heute Frauen, doch das täuscht leicht über die Tatsache hinweg, dass Yoga noch bis weit in unsere Zeit hinein von Männern dominiert wurde. Männer wie Krishnamacharya, Sivananda, Patthabi Jois und Iyengar boten zwar sehr variantenreiche Yogapraktiken an, doch sie blieben ihren Vorbehalten gegenüber Frauen in der Yogawelt in vieler Hinsicht treu. Entsprechend hartnäckig halten sich einige Mythen über die weibliche Physiognomie. In vielen Yogabüchern steht nach wie vor, es sei gefährlich, während der Menstruation Umkehrhaltungen zu üben, weil das den Blutfluss unterbinde und Krankheiten wie Endometriose auslösen oder verschlimmern könne.
Teil der Yogamythen: In Wirklichkeit wird die Menstruation durch körperinneren Druck geregelt und nicht durch die Schwerkraft – wie sonst könnte sie auch nachts im Bett liegend oder sogar als Astronautin in einem Raumschiff ungestört vonstatten gehen? Leider gibt es sogar Yogalehrer, die es Frauen untersagen, während ihrer Periode überhaupt ins Studio zu kommen. Mich erinnert das an das Rote Zelt, in das manche Stämme Frauen aus Angst vor den dämonischen Kräften der Menstruation verbannten. Anstatt solchen abergläubischen (und sexistischen) Mythen zu folgen, muss es im Yoga darum gehen, die Menstruation auf individuelle Weise zu würdigen: Einige Frauen fühlen sich während ihrer Tage in Umkehrhaltungen wohl, andere nicht. Als Yogalehrer sollten wir sie ermutigen, ihrer eigenen Körperwahrnehmung zu vertrauen und entsprechend zu üben.
Mythos 4: Yoga Detox
Vor einigen Jahren habe ich selbst noch Workshops über „Yoga-Detox“ angeboten, in denen wir den Körper erhitzten, umdrehten, Kapalabhati atmeten und andere Reinigungspraktiken bemühten, die man im Yoga Shatkarma nennt. In meinem Werbeflyer stand, wir würden dadurch Giftstoffe ausschwitzen und die Leber stimulieren. Das klingt zwar vernünftig, gehört aber großteils ins Reich der Yogamythen: Mit Ausnahme von Achseln und Leisten schwitzen wir nirgends Gifte aus. Vielmehr dient das Schwitzen vor allem dazu, die Körpertemperatur stabil zu halten. Und die Leber? Ist ein wunderbarer Blutfilter, der sehr gut in seiner geschützten Höhle im Brustkorb funktioniert. Er braucht weder Massagen noch übermäßigen Druck, der zu Verletzungen führen kann.
Was der Körper wirklich zum Entgiften braucht, ist mehr Wasser, weniger Alkohol und weniger Kaffee. Der menschliche Körper verfügt über mehrere Entgiftungssysteme, beginnend mit dem Einatmen von Sauerstoff und dem Ausatmen von Kohlendioxid. Das Lymphsystem reinigt die Gewebe und stärkt die Immunabwehr. Auch all das, was wir auf der Toilette tun, wirkt entgiftend und kann am besten unterstützt werden, indem wir gesundes Essen und Wasser zu uns nehmen. Wenn man all diese Systeme noch durch Yoga verbessern will, dann lautet die Anweisung ganz einfach: Übe täglich und auf ausgeglichene Art.
Mark Stephens hat bereits drei internationale Bestseller über den Yogaunterricht geschrieben. Ein viertes Buch über Yogatherapie ist 2017 auf Englisch erschienen. Er lebt in Kalifornien und unterrichtet weltweit, häufig auch im deutschsprachigen Raum. markstephensyoga.com