Manchmal muss man erst Abschied nehmen, um dem Kern der Praxis wieder näherzukommen – diese Erfahrung machte die US-amerikanische Lehrerin und YJ-Kolumnistin Wolf Terry, als sie während der Pandemie eine Yoga-Sinnkrise hatte.
Text: Wolf Terry
Am 30. Mai 2020 habe ich meine letzte Yogastunde gegeben, online via Zoom. Schon ein Jahr zuvor hatte ich mir überlegt, das Unterrichten nach und nach einzuschränken, um mich irgendwann ganz dem Schreiben widmen zu können. Dann kam die Pandemie und auf einmal ging alles ganz schnell: Mein Mann war als Handwerker gezwungen, außer Haus zu arbeiten, also musste ich daheim sein und unseren Sohn betreuen – doch meine unregelmäßigen Arbeitszeiten machten das fast unmöglich. Eine Weile versuchte ich noch, mir wenigstens ein paar Yogastunden so einzurichten, dass das Unterrichten irgendwie mit unserem Familienleben kompatibel wäre, aber schon nach wenigen Wochen war klar: Mein schon bisher anstrengendes Jonglieren zwischen Job und Familie konnte so einfach nicht funktionieren. Ich schaffte es nicht mehr.
Das tat weh: Seit Jahren hatte ich meine gesamte Identität damit verflochten, Yogini zu sein. Ich lernte Sanskrit, erforschte Asanas und Philosophie und tauchte tief ein in die Praktiken von Bhakti Yoga. Doch irgendwann hatte sich auch vieles eingeschlichen, was am Leben von modernen westlichen Yogi*nis ungut ist: Werbung machen für die eigenen Kurse und Workshops, in jede Woche 15 bis 20 Unterrichtsstunden packen und im Urlaub noch schnell schöne Fotos schießen, um Instagram-Likes zu generieren. Ich hatte mir das bisher nicht eingestanden, aber diese Zwänge hatten meine Yogapraxis längst in etwas verwandelt, das ich kaum wiedererkannte. Jetzt dämmerte mir, dass mein Herz womöglich weniger an Yoga hing als an einer falschen Wahrnehmung davon, was ich gelernt hatte für Yoga zu halten.
Wendepunkt
Der plötzliche Schritt von der Yogalehrerin zur Home-Office-Schreiberin und Mutter traf mich unerwarteterweise bis ins Mark meines Seins. Ich spürte, wie ich in den Wochen nach meiner letzten Stunde langsam den Boden unter den Füßen verlor. Es dauerte eine Weile, bis ich es begriff: Auch wenn ich das yogische Prinzip Aparigraha (Nicht-Anhaften) immer mit Nachdruck gepredigt hatte, persönlich hatte ich das weder geübt noch überhaupt in meine Überlegungen einbezogen.
“Ich bin nicht Yoga. Ich mag es üben, aber ich sollte diese Praxis niemals mit der Essenz meines Seins verwechseln.”
In Wirklichkeit war ich in meiner Karriere und der Yogaindustrie komplett verhaftet: Mein Selbstwertgefühl hing davon ab, wie viele Menschen in meine Stunden kamen und wie sehr ich in der Community als Yogini anerkannt wurde. Ich war in die banale Falle gegangen zu glauben, ich sei mein Job. Ohne diese Arbeit wusste ich buchstäblich nicht mehr, wer ich bin. Das war umso schlimmer, als es ja mein Ziel gewesen war, mir meiner selbst, meiner Grenzen und der Welt, in der ich lebte, ganz bewusst zu sein. Schließlich hatte ich doch immer den Anspruch gehabt, Yoga zu leben, anstatt mich um mein Image in der Yogaindustrie zu sorgen!
Versöhnung
Jetzt war ich gezwungen, in mich zu gehen und mich von den übertrieben idealistischen und im Grunde missbräuchlichen Mustern zu lösen, die ich schon zu lange für eine ernsthafte, leidenschaftliche Praxis gehalten hatte. Der erste Schritt in diesem Prozess war, drei Monate lang gar nicht mehr auf die Matte zu gehen. Ich beschäftigte mich mit dem kleinen Garten hinter dem Haus und verwandelte ihn in wochenlanger Arbeit in eine kleine grüne Oase. Ich heilte meine Beziehung zum Schlaf und gewöhnte mich an ebenso regelmäßige Bettzeiten, wie ich sie für meinen Sohn festgelegt hatte. Ich hörte auf, ständig Anrufbeantworter, Textnachrichten und Mails zu checken, sondern verabredete mich wieder ganz gezielt mit Menschen. Ich erlaubte mir, mich jeweils auf eine Sache zu konzentrieren, statt gleichzeitig ein Maximum an Dingen erledigen zu wollen. So bekam ich allmählich das Gefühl, tatsächlich mein eigenes Leben zu leben, statt einer hektischen Version des Lebens, von dem ich dachte, es würde von mir erwartet.
Natürlich war ich mit all dem nicht allein, ihr alle kennt das: Seit Jahrzehnten schon glorifiziert das gesellschaftliche Mindset eine Arbeits- und Leistungsethik, die keinerlei Rücksicht auf körperliche, mentale und emotionale Bedürfnisse nimmt. Erst mit den Lockdowns begannen wir, wirklich wahrzunehmen, wie dringend ein Wandel nötig ist. Viele meiner Freunde, sowohl in der Yogawelt als auch im weiteren Umfeld, sprachen auf einmal darüber, dass der Burn-out für unsere ganze Generation tatsächlich normal geworden ist. Immer mehr fingen jetzt damit an, Grenzen zu erkennen und sie auch bewusst zu setzen.
“Die Zwänge des modernen Lebens
als Yogalehrerin hatten meine
eigene Praxis in etwas verwandelt,
das ich kaum wiedererkannte.”
Die Erkenntnis war radikal: Überarbeitet und unterbezahlt schufteten wir seit Jahren für den Erfolg einiger weniger. Die Pandemie hat uns gezwungen, unsere Leben auf eine zutiefst dystopische und beunruhigende Wirklichkeit einzustellen – mit dem Ergebnis, dass wir unsere Entscheidungen und Lebenswege neu überdenken mussten. Wir schauten nach innen und entdeckten bisher unbewusste Denkmuster und Täuschungen. Allmählich entwirren wir auf diese Weise die vorherrschenden Systeme innerhalb von uns selbst und der Gesellschaft – Systeme, die ebenso komplex wie ungesund sind. Wir beginnen zu unterscheiden zwischen unserer Arbeit und unserem Wert als Menschen. Und wir sind eher bereit, aufzustehen und Gerechtigkeit einzufordern.
Rückkehr
Im Herbst 2020 rollte ich meine Yogamatte dann zum ersten Mal wieder aus. Es war der zweite Todestag meines Bruders, und ich hatte das tiefe Bedürfnis, meinen Schmerz mit langsamen, bewussten Bewegungen zu lindern. Als ich meinen ersten tiefen Atemzug in der Stellung des Kindes nahm, erinnerte ich mich daran, dass ich nicht Yoga bin. Ich mag die acht Glieder des Yogawegs üben, aber ich sollte diese Praxis als Yogini niemals mit der mir eingeborenen Essenz meines Seins verwechseln. So begann ich zu verstehen, dass ich behutsam und achtsam an diese Praxis herangehen muss – und zwar im übertragenen Sinn genauso wie im wörtlichen: Ich darf den spirituellen Boden, auf dem ich mich dabei bewege, nicht für meinen Besitz oder meine Heimat halten. Ich muss Yoga auch auf eine Weise leben, die Communities mit traditionellen Verbindungen zu Yoga anerkennt und fördert.
Aber auch in allen anderen Bereichen übe ich Nicht-Anhaftung: in der Yogapraxis genau wie in meiner Arbeit, bei dem, was mir Spaß macht ebenso wie in der Selbstfürsorge. Ich bin nicht, was ich tue, und ich fühle mich immer wohler damit, einzig und allein ich selbst zu sein. Ich weiß jetzt, dass ich genug Facetten habe und keine ungesunde Anhaftung an das Bild der idealen Yogini-Persönlichkeit brauche, um der vielen Geschenke von Yoga würdig zu sein. Indem ich mein Selbst von der Praxis trennte und den vermeintlich begehrenswerten Titel “Yogalehrerin” aufgab, wurde ich endlich zu der Schülerin, die ich immer sein wollte.
Von der unterrichtenden Yogini zur schreibenden und übenden: Ihren Online-Namen hat WOLF TERRY trotz des großen Shifts in ihrer Praxis beibehalten: www.wolfgini.com
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