Die Mandukya Upanishad – Aller guten Dinge sind vier!

Dieses Mal stellt euch unsere Autorin Sybille Schlegel die Mandukya Upanishad vor, einen kurzen Text, der es ganz schön in sich hat: Er handelt von nichts weniger als dem Wesen des Bewusstseins, der Ordnung des Universums – und einem großen Klang, der all das in sich trägt: OM!

Text: Sybille Schlegel / Titelbild: Ivan Vuckovic/Getty Images via Canva

Auf dem Siegertreppchen gibt es genau drei Plätze, weshalb der vierte Platz oft als “undankbar”, im besten Fall tröstlich als “Sieger der Herzen” bezeichnet wird. Überhaupt hat die Zahl drei bei uns einen äußerst spruchreifen Ruf: Aller guten Dinge sind schließlich drei. Oft muss der Held im Märchen drei Aufgaben bestehen, gibt es drei Schwestern oder drei Wünsche. Das zeigt: Die Drei hat sich einen festen Platz in unserem kollektiven Bewusstsein erarbeitet. Und um das Bewusstsein geht es auch in der Mandukya Upanishad – allerdings liegt laut diesem Text das Eigentliche erst hinter den magischen Drei verborgen, in einer alles entscheidenden vierten Dimension …

Mandukya Upanishad
auf einen Blick

Die kürzeste Upanishad
• 12 Verse
• legendärer Verfasser: Manduka
Themen:
• das Bewusstsein
• der Klang OM
• Existenz in Dreiheit
• das Vierte als transzendentes Sein

Dreiheit, Zweiheit, Einheit

Die Mandukya Upanishad ist die kürzeste und nach Auffassung der Forschung auch die jüngste der 108 traditionell anerkannten Upanishaden. Aber Moment, noch mal einen Schritt zurück: Was sind überhaupt die Upanishaden? Die Entstehung dieser Gruppe von indischen Weisheitstexten hat sich vermutlich von etwa 700 bis 200 vor Christus und damit über ein halbes Jahrtausend erstreckt. Sie gelten als der “Abschluss der Veden” – das Vedanta. Der Begriff Veda bezeichnet dabei sowohl die Gesamtheit der vedischen Texte als auch generell (göttliches) Wissen, während Anta ganz einfach Ende bedeutet.

Die unter dem Namen Vedanta bekannte philosophische Schule, (auch als Advaita Vedanta bezeichnet) stellt eine Lehre in den Mittelpunkt, der wir auch im Yoga sehr viel Gewicht geben: Alles ist eins. Die Frage, die dazu aber in vielen Upanishaden gestellt wird, lautet nachvollziehbarerweise: Was ist denn dieses Eine, wenn sich doch augenscheinlich alles voneinander unterscheidet und in dieser Unterschiedlichkeit ja getrennt ist? Das meiste, was wir in unserer Wahrnehmungswirklichkeit erleben, ist mindestens in Paaren vorhanden: Schuhe, Hände, ich und du, Tag und Nacht – also gerne auch in Gegensatzpaaren: kalt und heiß, klein und groß, hart und weich …

Mandukya Upanishad – Universum
Foto: Maximusnd Zahar via Canva

Dank solcher Unterscheidungen sind wir in der Lage, uns zu orientieren. Ganz vorne im Verständnis kommt dabei die Unterscheidung von unten und oben: Unten ist der Planet, mit dem wir durch die auf unsere Körper wirkende Schwerkraft verbunden sind, oben ist die Weite des Himmels, des Universums. Ich habe mal gelesen, dass man auf der ISS anfangs kein oben und unten definiert hatte, was die Astronauten in der Schwerelosigkeit fast verrückt hat werden lassen. Erst als man zwischen einem an den Wänden markierten “oben” und einem “unten” herumschwebte, ging’s. Aus oben und unten leiten sich vorne und hinten und rechts und links ab (auch wenn ich persönlich damit immer so meine Probleme hatte …).

An dieser Orientierung spendenden Möglichkeit des gegensätzlichen Vergleichs hat der menschliche Geist so sehr seine Freude gefunden, dass wir auch alle anderen Erscheinungen munter auf diese Weise einordnen. So weit, so gut, könnte man meinen, dann können wir eben etwas Festes von etwas Fluffigem unterscheiden. Wo liegt das Problem? Es liegt wie so oft in den Gewohnheitsmustern: Wenn wir alles, was uns umgibt und was wir erleben, durch Gegensätzlichkeit definieren und nach Eigenheiten einordnen, geht der Blick für das Vereinende, Gemeinsame verloren.

Offenbar war das schon vor über 2500 Jahren Menschen bewusst. Deshalb stellten im antiken Indien die Schüler*innen (ja, Frauen waren auch dabei) ihren Lehrern (hier sind zumindest namentlich nur Herren bekannt) die entscheidende Frage: Was ist die Einheit, was verbindet mich mit allem, das ist? Die Antwort lautete: Brahman. Die Lehrer sagten, dass Brahman als einzige Entität wirklich ist, weil es nicht geboren wird und nicht verschwindet. Und dieses göttliche, große Eine trage man in sich. Bezogen auf den einzelnen Menschen heißt es zwar Atman, aber bis auf die unterschiedliche Bezeichnung sei beides dasselbe: “Denn all dies ist Brahman, dieser Atman ist Brahman.”

Kurz und bündig

Sich dieser Frage “Was ist Einheit?” anzunähern, ist der inhaltliche Zusammenhang der Upanishaden. Ansonsten haben die einzelnen Texte untereinander keinen Bezug. Die Annäherung kann in Form von Lehrer-Schüler-Dialogen geschehen, anhand von Geschichten oder in Beschreibungen. Es kann um Energetik gehen wie in der Taittirya Upanishad oder um den Ursprung des Seins wie in der Isha Upanishad. All das sind einfach verschiedene Perspektiven auf das selbe Thema.

Die Mandukya Upanishad, um die es hier geht, zieht uns in die Tiefen der Klangenergie und des Bewusstseins. Sie erklärt in knappen 12 Versen nachvollziehbar und logisch den Zustand von Yoga, der in so vielen anderen Text en “unbeschreiblich” genannt wird. Seinen Namen hat der Text von seinem vermuteten Verfasser: Im ersten Text der Upanishaden, der Brihadaranyaka Upanishad, wird ein Weiser (Rishi) namens Manduka genannt. Auch seine Schüler, die Mandukeyas, werden in anderen Texten, etwa dem Rigveda, erwähnt. Es ist also gut möglich, dass sich mit der Mandukya Upanishad die Weisheit eines Lehrers aus sehr alter Vorzeit erhalten hat.

Die drei Phasen des OM

Mandukya Upanishad: Symbolik OM
Foto: Ivan Vuckovic/Getty Images via Canva

Meine eigene Lehrerin, Manorama, lehrt Sanskrit, Mantra, alte Texte und Meditation. Sie spricht nicht nur sehr viel über das OM, es wird bei ihr – wie auch in vielen Yogaklassen – dreimal am Anfang und dreimal am Ende des Unterrichts gechantet. Manorama erklärt dann “den OM-Kreislauf”, wie sie es nennt: das Werden, das Existieren und das Vergehen. Man könnte sagen, dass der Klang OM diesen Kreislauf symbolisiert, aber dahinter steckt mehr als einfache Symbolik: Im OM verbinden sich auf eine ganz erfahrbare Weise die Ebenen von Existenz und Energie.

Klanglich besteht das OM aus drei hörbaren und singbaren Lauten: A, U und M. Das A vibriert tief in der Kehle und ist die Energie des Entstehens oder der Schöpfung. Das U vibriert vorne an den Lippen mit der Energie der Existenz. Das M schließt zuletzt die Lippen und beendet so die Existenz des Klangs. Das sind die drei. Im indischen Götterhimmel stehen dafür Brahma, Vishnu und Shiva – Entstehung, Existenz, Ende. Und alles, was aus Materie besteht, egal wie fein, gehorcht diesem Prinzip von Dreiheit. So bekommt die Zahl drei eine mystische Bedeutung. Und so wird das OM zum Inbegriff eines universellen Prinzips:

“All dies ist das Unvergängliche, ist der Laut OM. Das wird auch so gelehrt: Was war, was ist, was sein wird, das alles ist der Klang OM. Und auch, was jenseits der drei Zeiten ist, auch das ist der Klang OM.

Bist du schon wach?

Das OM unterstützt also im konkreten Erleben unser Verstehen: A – es kommt, U – es existiert, M – es vergeht. Nach dem Chanten ist man traditionell still und spürt die Schwingung der Energie, die langsam in der Stille verschwindet. Und aus eben dieser Stille entsteht dann der neue A-U-M-Kreislauf. Dabei hört man trotz des AUM ein OM, da die Laute A und U sich einander angleichen, um eine hörbare Einheit zu schaffen. Aber was viel entscheidender ist: Die Stille liegt außerhalb dieser Dreiheit, aus ihr kommt der Klang und in sie geht er zurück. Und sie liegt auch unter dem, was existiert.

Wie eine Tafel, die unbewegt bleibt, während auf sie geschrieben, von ihr gelesen und weggewischt wird. Die Stille ist der vierte Zustand des OM. Und um diesen Vierten geht es der Mandukya Upanishad und zwar nicht nur in der Praxis von OM, sondern ganz allgemein in unserem Bewusstsein: Jenes, das wir täglich benutzen, das uns in Tiefschlaf, Ohnmacht und Narkose schwinden kann, das uns Träume beschert, Sinneswahrnehmung, Sprache, Handlungen.

Die Verse beschreiben drei Bewusstseinszustände, die wir alle gut kennen: Wachsein, Traumschlaf und Tiefschlaf. Check. Aber nicht so schnell! Wenn man etwas schnell versteht und zu kennen meint, streift der Geist die Information nur kurz und bewegt sich zum nächsten Impuls. Da wir aber im Yoga tiefer gehen wollen, lohnt es sich, auch das vermeintlich Bekannte unter die Lupe zu nehmen. Das Wachsein ist der Zustand zwischen Aufwachen und Einschlafen. Es erscheint uns als der Zustand der Normalität und Realität – der, in dem wir “da” und handlungsfähig sind, weil uns die Außenwelt bewusst ist.

In den Tiefen des Schlafes

Mandukya Upanishad: Traumschlaf
Foto: Leandro De Carvalho / pixaby via Canva

Im Traumschlaf schlafen wir und betrachten erstaunt, was uns das eigene Unterbewusstsein als Film vorspielt. Manchmal realistisch, manchmal absurd. Dinge, die im Wachbewusstsein eine Rolle spielten, Ängste, Träume und all das, was Freud darüber herausgefunden hat. Während des Träumens können wir manchmal den Traum eindeutig als irreal identifizieren, manchmal nicht. Ich habe mal geträumt, dass ich verreist sei, und es fühlte sich so echt an, dass nur ein Blick in den Kalender beweisen konnte, dass ich sicher nicht verreist gewesen war. Zumindest nicht in der Wachzustand-Realität.

Im Tiefschlaf ist nichts. Kein bewusster Sinneseindruck, kein Traumbild. Als wären wir nicht da. Wenn uns ein Außenstehender erzählt, was wir im Schlaf gemacht hätten, können wir uns nicht erinnern. Dennoch ist auch in diesem Zustand das Bewusstsein eine Realität. Es richtet sich nicht mehr auf äußere oder innere Objekte, sondern verdichtet sich zu einer Art reinem Erkenntnisvermögen. Die Mandukya Upanishad beschreibt es so:

“Der Stand des Wachseins weiß um das Außen. Der Stand des Traumschlafs weiß um das Innen. Im Stand des Tiefschlafs ist nichts als Wissen, genießend mit dem Mund des Bewusstseins.

Im vierten liegt die Einheit

Mandukya Upanishad: Einheit
Foto: Snapwire / Pexels via Canva

Normalerweise bewegen wir uns munter oder müde durch die drei Bewusstseinszustände. Erst wenn wir mit Yoga in Kontakt kommen, lernen wir, dass es noch mehr gibt – und dieses Mehr ist entscheidend: Der Zustand des Yoga oder Samadhi. Er wird zwar in Texten wie dem Yogasutra mehr oder minder deutlich beschrieben, doch nur wenige kennen ihn persönlich so gut, dass er sich einfach in Worte fassen ließe. Mir hat hier die Mandukya Upanishad sehr geholfen – nicht dabei, den Zustand zu erlangen, das kann nur die Praxis, aber im Verständnis, wo oder wie Bewusstseinserweiterung im Kontext von Yoga zu verstehen ist:

“Weder inneres noch äußeres Wissen, nicht zu sehen, nicht zu vergleichen, nicht zu fassen, nicht zu beschreiben, nicht zu erdenken, ohne Namen: Das ist der Vierte, den nichts als das Selbst kennt. Ohne körperlichen Teil ist der Vierte: In dem es keine Vielfalt gibt, Nur Stille, Freude, Nicht-Zweiheit. Das ist das Selbst, das erkannt werden muss.

Die Mandukya Upanishad lehrt uns, dass das Chanten von OM eine valide Praxis ist – und nichts anderes sagt ja auch Patanjali im Yogasutra in den Versen 1,23 bis 1,28, falls ihr noch mal nachlesen möchtet. Aber noch viel besser: Ihr setzt euch auf euer Meditationskissen, schließt die Augen und singt das OM in wiederholendem Japa. A in der Kehle und U an den Lippen werden zu O, das von Kehle zu den Lippen vibriert, bevor das M den Klang schließt. Dann fühlen und nach innen lauschen, bis ihr die Stille hören könnt …


Autorenfoto Sybille Schlegel

Nach Yogasutra, Bhagavad Gita und den Texten der Nath-Yogis ist dies der vierte Quellentext, den Sybille Schlegel im Rahmen unserer Reihe alltagstauglich für euch interpretiert – und weitere werden folgen! Mehr über Sybille erfährst du auf ihrem Instagram Account.


Lese mehr von Sybille Schlegel und tauche tiefer in die Yogaphilosophie ein:

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