Achtsam essen – Das 3-Wochen-Programm (Teil 2)

1. Woche: Bewusstwerdung

In der ersten Woche nehmen Sie sich jeden Tag Zeit für ein kleines Experiment. Beobachten Sie möglichst unvoreingenommen, was sich verändert, wenn Sie eine oder mehrere Mahlzeiten täglich diesen vielleicht ungewohnten Erforschungen widmen. Was fällt Ihnen leicht? Was ist schwierig? Alle sieben Techniken helfen Ihnen, auch auf Dauer achtsamer zu essen – es lohnt also, sich in den kommenden Wochen und Monaten immer wieder an sie zu erinnern, sie in unterschiedlichen Situationen zu erproben und miteinander zu kombinieren.

TAG 1// NAHAUFNAHME
Nehmen Sie sich heute 5 bis 10 Minuten Zeit für etwas so Kleines wie eine Rosine, einen Keks oder eine Tasse Tee. Richten Sie alle Ihre Sinne und volle Aufmerksamkeit auf dieses Objekt: Wie sieht es aus? Wie fühlt es sich in der Hand an? Wie riecht es? Welche Gefühle, Erwartungen und Gedanken weckt es, schon bevor Sie es in den Mund nehmen Und was genau passiert dann? Was meldet Ihre Zunge, was Ihr Gaumen? Welche Empfindungen entstehen, wenn Sie es im Mund bewegen, langsam (und noch langsamer!) kauen und schließlich schlucken? Wie fühlen Sie sich danach?

Info
Vielleicht kennen Sie die Übung mit der Rosine, wenn Sie einmal einen Kurs in MBSR – Mindfulness Based Stress Reduction – gemacht haben. Sie stammt von deren Begründer Jon Kabat-Zinn.

TAG 2// ENTDECKUNG DER LANGSAMKEIT
Zählen Sie heute zu Beginn der Mahlzeiten eine Weile mit, wie oft Sie im Schnitt kauen, bevor Sie einen Bissen herunterschlucken. Dann verdoppeln Sie diese Zahl. Kauen Sie ganz langsam, bewegen Sie das Essen dabei im Mund hin und her und beobachten Sie Geschmack und Konsistenz. Auch beim Trinken versuchen Sie, nicht sofort zu schlucken, sondern die Flüssigkeit eine Weile im Mund zu behalten und ihre sinnlichen Qualitäten wahrzunehmen.

Info
Wenn Ihnen die doppelte Zeit unsinnig lang vorkommt, dann sollten Sie wissen: In der ayurvedischen Medizin wird zu 30-maligem Kauen jedes Bissen geraten. In traditionellen Yogakreisen gibt es sogar die Regel:„Kaue das Feste, bis es flüssig wird, und das Flüssige, bis es fest wird“.

TAG 3// STILLE
Richten Sie sich heute mindestens eine Mahlzeit ein, in der Sie nicht nur Radio, TV und Handy konsequent zum Schweigen bringen, sondern auch sich selbst. Sogar Lektüre oder andere „stille“ Ablenkungen sollten tabu sein. Ihre alleinige Aufmerksamkeit gilt dem Essen. Tipp: Wenn Ihre Lieben bei diesem Experiment nicht mitmachen wollen, dann essen Sie am besten im Anschluss an die Familie alleine.

TAG 4// ZWEI HÄNDE VOLL
Heute versuchen Sie etwas, das Sie vielleicht auch schon in Ihren Yogabüchern zum Thema richtige Ernährung gelesen haben: Dort lautet eine gängige Regel, man solle bei keiner Mahlzeit mehr zu sich nehmen, als in die eigenen beiden Hände passt, wenn man sie zu einer Schale formt. (Wobei man sich natürlich fragen kann, wie hoch sich das Essen in dieser Schale türmen darf?) Beobachten Sie sich dabei auf mehreren Ebenen:
➳ Habe ich nach dem Essen noch Hunger?
➳ Ist es wirklich mein Magen, der nach mehr verlangt?
➳ Welche Rolle spielen Appetit, Gelüste, Ängste – also mein Geist?
➳ Wie fühle ich mich am Ende des Tages?

Info
Diese traditionelle Regel gibt es etwas anders formuliert auch in vielen modernen Ernährungsratgebern. Dort heißt es, man solle den Magen nie mehr als zu zwei Dritteln füllen – was in etwa dem Volumen der beiden Hände entspricht.

TAG 5// PRANAYAMA BEIM ESSEN
Atemübungen und Atemgewahrsein sind Kernpunkte der Achtsamkeitspraxis. Es lohnt sich also, auch beim Essen einmal bewusst die Aufmerksamkeit auf den Atem zu richten. Stimmen Sie sich vor der Mahlzeit 1 bis 2 Minuten lang mit geschlossenen Augen auf Ihren Atem ein. Wenn Sie mögen, vertiefen Sie den Atem etwas oder Sie üben die volle Yogaatmung, soweit sie Ihnen vertraut ist. Anschließend beobachten Sie während der gesamten Mahlzeit Ihre Atmung.
➳ Wie atme ich, während ich kaue?
➳ Was passiert beim Schlucken?
➳ Wie wirkt sich die Atembeobachtung auf das Essen aus?

TAG 6// HUNGER GAMES
Ein wichtiges Ziel der achtsamen Ernährung besteht darin, das natürliche Gefühl für Hunger und Sättigung zurückzuerlangen. Heute essen Sie deshalb immer dann (aber auch nur dann!), wenn Sie deutlich spüren: Jetzt habe ich Hunger. Genauso beenden Sie jede Mahlzeit, sobald Sie merken: Jetzt brauche ich eigentlich nichts mehr. Klingt einfach, ist aber ganz schön schwierig.

Info
Experten gehen davon aus, dass die meisten Essgewohnheiten (und auch etliche Essstörungen) in der Kindheit anerzogen sind. Schon der Zwang, zu vorgeschriebenen Zeiten und Mengen zu essen (Stichwort: „Du stehst erst auf, wenn der Teller leer ist!“), überstimmt irgendwann das authentische Bauchgefühl. Dann weiß man schlicht und einfach nicht mehr, was die individuell und momentan gerade richtige Zeit, Art und Menge ist. Ganz wichtig: Dies bedeutet nicht, dass regelmäßige Mahlzeiten falsch wären, im Gegenteil – nur muss der Rhythmus wirklich passen.

TAG 7// SONNTAGSSCHMAUS
Heute verwöhnen Sie sich ganz bewusst mit Ihrem Lieblingsessen. Nehmen Sie sich Zeit für den Einkauf, würdigen Sie die einzelnen Zutaten und ihre sinnlichen Qualitäten, zelebrieren Sie die Zubereitung, richten Sie das Essen schön an, decken Sie den Tisch mit Sorgfalt und dann – genießen Sie in vollen Zügen! Vielleicht bemerken Sie dabei, dass Sie einige der praktizierten Techniken dieser Woche unwillkürlich einsetzen. Aber vielleicht entscheiden Sie sich auch ganz bewusst, dieses Mal weder allein und still zu essen noch bei einer Schale voll Nahrung Halt zu machen. Worauf es ankommt, ist nicht die Einhaltung von starren Regeln, sondern der bewusste Umgang damit – verbunden mit einem dankbaren, sinnlichen Genuss.


Hier finden Sie eine Einleitung zum Thema “Achtsam essen”.

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