Manche der im Yoga bekannten Anleitungen für Stehhaltungen können Knie, Iliosakralgelenke und unteren Rücken eher schädigen als schützen. Warum ist das so? Und wie sieht ein anatomisch wirklich sinnvolles Alignment aus? Der Therapeut und Anatomie-Experte Tom Myers klärt auf.
Die allermeisten Yogalehrer unterrichten Tadasana (Berg) und Utkatasana (Stuhl) so: Entweder Knöchel und große Zehen dicht aneinander, oder die Füße hüftbreit und ihre Außenkanten parallel. Anatomisch etwas versiertere Lehrende präzisieren das vielleicht ein bisschen und raten, die zweiten Zehen gerade nach vorne zeigen zu lassen, sodass die Schienbeine besser im Verhältnis zu den Füßen ausgerichtet werden. In jedem Fall setzen sie mit dem Alignment von Stehhaltungen an den Füßen an und bauen es von dort aus nach oben auf.
Das mag in manchen Fällen eine gute Idee sein, vor allem bei Spreiz- oder Sichelfüßen, es kann aber auf lange Sicht auch ernsthafte Schäden anrichten, vor allem an den Knien und am unteren Rücken. Um das besser zu verstehen, muss man sich die Anatomie ansehen:
Die Anatomie von Füßen und Beinen
Aus mechanischer Sicht beginnt der Beinapparat bereits am 12. Rippenbogen und
im Bereich der Lendenwirbel, denn dort setzen zwei für die Beinbewegung wichtige Muskeln an: der quadratische Lendenmuskel (Quadratus Lumborum) und der große Lendenmuskel (Psoas Major). Auch die Beckenmuskulatur, insbesondere der Darmbeinmuskel (Iliacus) spielt eine wichtige Rolle, denn sie bewegt oder stabilisiert die Hüftgelenke. Mit anderen
Worten: Man sollte die Beine und Füße nicht isoliert vom Becken betrachten sondern immer im Zusammenhang.
Die gesamte untere Körperhälfte ist in einer Abfolge von Gelenken konstruiert, die abwechselnd als Scharniergelenke nur einachsige Bewegungen erlauben, und dann wieder mehrere Bewegungsachsen (Freiheitsgrade) umfassen:
- Im Fußballen gibt es fünf Gelenke, die gemeinsam als Scharnier funktionieren, wenn du auf den Zehenspitzen gehst.
- Etwas weiter oben, unterhalb des Knöchels liegt ein Drehgelenk, das du wahrnehmen kannst, wenn du den Fuß abwechselnd ganz nach innen (in ein Art Plattfuß) und nach außen rollst.
- Das obere Sprunggelenk ist wieder ein Scharniergelenk. Es tritt zum Beispiel in Aktion, wenn du im Stehen die Knie beugst und wieder streckst. Dabei bewegen sich die Unterschenkel über dem Fuß vor und zurück.
- Zwischen Schienbein und Wadenbein ist wieder ein wenig Rotation möglich: Stelle einen Fuß auf den Ballen und bewege die Ferse hin und her, als würdest eine Zigarette austreten – diese kleine Drehbewegung ist gemeint.
- Das Knie wiederum ist ein klassisches Scharniergelenk: Die gesunde Bewegung zwischen Ober- und Unterschenkel umfasst nur Beugen und Strecken.
- Dagegen sind die Hüften Kugelgelenke, hier sind Bewegungen in viele Richtungen möglich.
- Das nächste Gelenk in der Kette ist das Iliosakralgelenk: Hier treffen Kreuzbein und Beckenknochen in einem Scharniergelenk aufeinander, das nur einen sehr geringen Spielraum vor und zurück erlaubt.
- Im Lumbosakralgelenk zwischen letztem Lendenwirbel und Kreuzbein ist dagegen wieder eine leichte Drehung möglich.
Generell werden die Bewegung in Drehgelenken durch die Form der beteiligten Knochen, durch einschränkende Sehnen und Bänder und eine straffe Muskulatur begrenzt. Dennoch sind Spielraum und Anpassungsfähigkeit dieser Gelenke viel größer als bei Scharniergelenken. Entsprechend empfindlicher sind letztere gegenüber Torsion.
Aligment Fokus Füße: Was bewirkt das?
Scharniergelenke haben viel mit den Scharnieren einer Tür gemeinsam: Sie funktionieren jedes für sich wunderbar, so lange die Schrauben fest sitzen – auf und zu, strecken und beugen und das jahrelang ohne eine einzige Reparatur. Wenn aber mehrere Scharniere einer Tür nicht korrekt übereinander ausgerichtet sind, dann macht sich das schon nach wenigen Monaten bemerkbar: Die Tür verbiegt sich, die Schrauben lösen sich und der Rahmen wird verzogen.
Das Gleiche gilt auch für die Beine: Wenn du das Alignment bei den Füßen beginnst, dann werden das Zehen- und obere Sprunggelenk vermutlich reibungslos zusammenarbeiten. Was aber geschieht dabei mit den Scharniergelenken weiter oben im Körper? Da kann es passieren, dass Knie und Iliosakralgelenke durch die erzwungene Fußstellung in eine Ausrichtung geschoben werden, die dir aufgrund deiner individuellen Anatomie nicht guttut, vor allem dann nicht, wenn du anspruchsvollere Asanas übst.
Stress für Knie und Rücken vermeiden
Die meisten Übenden sind daher nach meiner Überzeugung besser beraten, wenn sie die Knie im Verhältnis zu Hüften und Rumpf ausrichten und die Füße dann diesem Alignment folgen lassen. Noch nicht überzeugt? Stelle dir Folgendes vor: Wenn du die Füße in eine bestimmte Position bringst, die Knie darüber dann aber leicht verdreht sind, dann hat das einen ähnlichen Effekt wie schlecht aufeinander abgestimmte Türscharniere. Die Folge sind langfristig Beschwerden. Würdest du zum Beispiel beim Gehen immer von der Fußstellung aus denken, dann könnte das erheblichen Stress für die Scharniergelenke in Knien und unterem Rücken bedeuten. Die Folge: Sie nutzen sich schneller ab, denn die Knochen drücken und reiben ungleichmäßig an den Knorpeln. Stattdessen richtet sich in einem harmonischen Gang die Kniescheibe nach vorne aus und die darüber liegenden Scharniere im Becken und unteren Rücken folgen diesem Alignment. Anatomisch gesehen ist das die wesentlich unproblematischere Herangehensweise.
Test: Knie im Lot?
Ob im Knie eine ungesunde Drehung vorliegt, erkennst du unter anderem, indem du das Gelenk sanft mit den Fingern berührst. Am besten kann das eine zweite Person durchführen: Daumen und ein Finger liegen seitlich an der Kniescheibe, der Zeigefinger mittig an der Tuberositas Tibiae – dieser Knochenfortsatz oben am Ansatz des Schienbeins formt einen spürbaren Buckel. Ist der Abstand von diesem mittleren Punkt zu den beiden seitlichen Punkten gleich groß, dann steht das Kniegelenk gut in seiner Achse.
Übung: So prüfst du dein Alignment
Ganz bewusst habe ich bisher immer geschrieben, dass ein bei der Fußstellung ansetzendes Alignment “womöglich” Probleme auslösen “kann”. Denn wenn bei dir Füße, Sprunggelenke, Knie, Hüften und Becken tatsächlich in perfekter Harmonie zueinander stehen, dann gibt es nichts zu befürchten. Nur, wie erkennt man das?
- Stelle dich vor einen Spiegel und richte deine Füße so aus, dass die zweiten Zehen gerade nach vorne zeigen. Ansonsten stehst du ganz locker und korrigierst Haltung nicht.
- Lege die Fingerspitzen vorne an die Beckenkämme und überprüfe sowohl im Spiegel als auch indem du an dir hinabsiehst, wie gerade dein Becken steht.
- Dann schaue dir deine Kniescheiben an: Zeigen sie so gerade nach vorn zum Spiegel wie zwei Scheinwerfer? Oder sind sie verglichen mit den Gelenken darüber und darunter etwas nach innen oder außen gedreht?
- Beuge Knie ganz natürlich und ohne den Impuls, dabei etwas zu korrigieren. Dabei schaust du dir die Beine einzeln in der Bewegung an und beobachtest, ob sich die Mitte der Kniescheibe jeweils direkt über den zweiten Zeh schiebt oder zu einer Seite ausweicht.
Darum solltest du dein Alignment ändern
Vor allem wenn letzteres der Fall ist sind die künstlich nach vorn ausgerichteten Füße nicht günstig für dich. Stattdessen solltest du eher deine Knie gut ausrichten und mit dem restlichen Alignment an diesem Punkt ansetzen. Vielleicht denkst du jetzt: “Ach, ich lass‘ die Füße schön geometrisch, so wie ich es im Yoga gelernt habe, und drehe einfach das Knie, bis es gerade steht. Das ist sicher ein gutes Alignment-Training!”
Leider gar keine gute Idee. Entweder wirken dabei schädliche Drehkräfte auf das Scharniergelenk des Knies oder die Hüft- und Fußgelenk werden in Mitleidenschaft gezogen. Zwingt man beispielsweise ein anatomisch etwas nach innen (medial) gedrehtes Knie vom Fuß ausgehend in die gerade Ausrichtung, dann zieht dies das Hüftgelenk in eine in vielen Haltungen ungewollte Rotation nach außen (lateral) und das untere Fußgelenk in die Supination (Belastung der Außenkante). Besser wäre es, die Knie in den Mittelpunkt zu stellen, die Füße anhand der Kniekappen auszurichten und dabei kraftvoll auf dem gesamten Fuß zu stehen.
Eine weitere Möglichkeit, eine verdrehte Stellung des Knies zu erkennen, ist der auf dem Bild links gezeigte Test mit drei Fingern. Wenn dabei die Abstände zwischen dem mittigen Punkt am Schienbeinkopf und den Punkten seitlich an der Kniescheibe spürbar voneinander abweichen, dann ist das Knie anatomisch schlecht ausgerichtet. Häufiger ist es dabei so, dass die innere Linie etwas länger ist und die äußere kürzer. In diesem, aber auch im umgekehrten Fall ist es besonders wichtig, das Alignment in der Asana-Praxis vom Knie aus zu denken. Parallel dazu empfiehlt es sich, mit Physiotherapie, Osteopathie oder anderen Techniken der Körperarbeit an einer harmonischeren Ausrichtung der Kniegelenke zu arbeiten.
Autor Tom Myers hat neben seinem Standardwerk “Anatomy Trains. Myofasziale Leitbahnen” auch etliche DVDs und Webinare zu Faszien-Release, visueller Diagnostik und der praktischen Anwendung der Faszienforschung entwickelt. Er hat über 40 Jahre Erfahrung im Bereich der manuellen Therapie. anatomytrains.com
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