Gemischte Gefühle – wenn wir in der Yogastunde emotional werden

4. Still beobachten und mitten rein in die Gefühle?

Was tust du, wenn beim Üben von Asanas oder beim Meditieren Gefühle aufsteigen – angenehme oder verstörende – und wenn deine Gedanken daraufhin losgaloppieren? Bestimmt wurde dir schon mal von einem Lehrer oder einer Lehrerin gesagt: Beobachte einfach nur, was gerade geschieht. Nimm es wahr, lass es da sein. Und dann lass es wieder los. Lass es vorüberziehen wie eine Wolke. Dieser unbeteiligte innere Beobachter, der zugleich Bewusstsein und Distanz schafft, gilt im Yoga als ein wichtiger und weiser Gefährte. Er hilft uns ganz praktisch, in der konkreten Situation unsere Gefühle zu regulieren – und das müssen wir zu einem gewissen Grad auch, um gut mit uns selbst und anderen leben zu können und gute Entscheidungen zu treffen.

Erst durch Gedanken geben wir unseren Gefühlen Struktur und Nahrung.

Man kann diese eingeübte Distanzierung aber auch kritisch sehen: Wer bin “ich” eigentlich, wenn ich mich aufspalte in empfindendes und ein rein beobachtendes Wesen? Birgt der Rückzug auf eine abgekoppelte Beobachter-Instanz nicht die Gefahr, dass wir gar nicht mehr wirklich in Verbindung sind zum eigenen, zum eigentlichen Erleben? Wie viel beobachtende Distanz – oder umgekehrt wie viel Hingabe ans Gefühl – für den Einzelnen hilfreich ist, das ist ein Stück weit eine Typfrage: Die einen haben die Tendenz, sich immer wieder mitten hineinzustürzen in den Strudel ihrer Gefühle und drohen manchmal darin zu ertrinken, während andere vielleicht allzu beherrscht sind oder überhaupt nur sehr wenig und diffus empfinden (was laut Psychologen auf immer mehr Menschen zutrifft). Für uns alle aber gilt: Es ist wenig hilfreich, unsere Gefühle abzulehnen oder zu idealisieren, je nachdem wie leid – voll oder angenehm sie sind. Sie sind jetzt da, sie enthalten vielleicht eine Botschaft, aber sie sind nicht von Dauer. Wir können nur sagen: Ja, ich spür’s – und uns dafür interessieren, was sie bedeuten, ohne dabei eine ganze Lawine von weiteren Gedanken, reaktiven Emotionen und Aktionen loszutreten. Und je mehr wir in dieser wachen Verbindung zu unseren Emotionen sind, desto lebendiger und authentischer werden wir uns fühlen.

5. Wie verhindern wir, uns in Gefühlen zu verstricken?

Wenn man die gängigen Listen an sogenannten Primär- oder Basisemotionen durchsieht, fällt eines auf: Die unangenehmen Empfindungen sind leider in der Überzahl. Und während wir zum Beispiel Freude, Zuneigung oder Akzeptanz oft einfach nur wahrnehmen, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass uns Ohnmacht, Ärger, Zorn, Angst oder Abscheu eine Weile beschäftigen. Wir fangen an zu grübeln, nach Auswegen zu suchen. Wir versuchen, Schuldige auszumachen (vorzugsweise uns selbst). Wir lenken uns ab oder lassen unsere Emotionen an anderen aus. Gerade weil wir sie so unbedingt “weghaben” wollen, verstricken wir uns mit unseren Reaktionen auf leidvolle Gefühle immer tiefer in sie. Die schlichte Wahrheit ist: Schmerzhafte Erfahrungen und Empfindungen sind Teil des Lebens. Wenn wir das nicht akzeptieren, machen wir es umso schlimmer. Denn zusätzliches Leid können wir nie vermeiden durch vermeintliche Kontrolle oder Ausweichmanöver, sondern nur durch Vertrauen, Verbindung und Einsicht. Die Yogaphilosophie bietet uns dafür eine ganze Reihe Werkzeuge an. Besonders hilfreich für den Umgang mit schwierigen (aber auch mit schönen) Gefühlen und unsere Verstrickung in sie ist die Lehre von den fünf Kleshas. R. Sriram bezeichnet sie in seinem Buch “Yoga und Gefühle” als die “fünf Kräfte, die verwickeln”:

  • Täuschung, Avidya, bedeutet wörtlich übersetzt “falsche Wahrnehmung” oder “falsches Wissen”, also die Tatsache, dass wir häufig völlig unzutreffenden Annahmen und Erwartungen aufsitzen – und dann vom Leben buchstäblich “ent-täuscht” werden.
  • Selbstbezogenheit, Asmita, wörtlich: Ich-bin-Heit. Damit ist die Tatsache gemeint, dass wir gar nicht anders können, als die Welt aus der Perspektive unserer eigenen Empfindungen, Erfahrungen und Erwartungen zu erleben – was, wenn es uns nicht klar ist, wiederum zu Täuschung und Enttäuschung führen kann.
  • Gier, Raga, und Ablehnung, Dvesha: Zwischen diesen beiden Polen spielt sich ein großer Teil unseres Denkens und Fühlens ab: Wir sind hin- und hergerissen zwischen dem, was wir unbedingt haben wollen (nämlich den angenehmen Gefühlen) und dem, was wir auf keinen Fall wollen (weil es uns unangenehm ist oder gar Schmerz bereitet).
  • Angst, Abhinivesha ist positiv betrachtet der Drang zu leben. Doch gerade weil wir leben wollen (und zwar möglichst ohne zu leiden), haben wir auch Angst, klammern uns fest und liefern uns umso mehr dem Duo Gier und Ablehnung aus.

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