Selbstverwirklichung ohne Kopfkino

Bedingungslose Hingabe ist der Schlüssel zur Verwirklichung des Selbst. So lehren nicht nur die Schriften des Yoga, sondern alle Mystiker. Leichter gesagt, als getan – die Sache mir der Selbstverwirklichung? Das einzige Problem ist das Kino im Kopf.

Es zieht sich durch alle spirituellen Traditionen. Hat man einen Weg gewählt, soll man ihm folgen. Ohne immer wieder hin- und her zu überlegen. Die Idee ist, das “Ego” aufzulösen, indem man alle Bedenken beiseite schiebt. Denn Zuneigung und Abneigung, Raga und Dvesha, sind wechselhaft und Ich-Bezogen, sie trennen uns vom Gefühl der Einheit. Egal für was man sich entschieden hat, einen Lehrer, eine bestimmte spirituelle Praxis, ein Mantra. Man bleibt dabei und geht durch Zeiten des Zweifels hindurch. Durch dieses Loslassen entsteht Ruhe im Geist. Und selbst wenn wir (noch) nicht nach einem so hohen Ideal wie der Selbstverwirklichung streben. “Ruhe im Geist” hört sich zunächst ganz gut an. Aber was tun, wenn der eingeschlagene Weg auf einmal nicht mehr passend erscheint?

Lernen von den Gottheiten

Ich hatte mich entschieden, auf das Göttliche zu vertrauen, in der Form von Shiva. Shivas Name bedeutet übersetzt: “Der Gutmütige”. Es liegt in seiner Natur, seinen Verehrern jeden Wunsch zu erfüllen. Manchmal setzen wir auch uns selbst große Ziele. Für Shiva wurde das schwierig, als eines Tages ein gerissener Dämon vor ihm stand und ihn um folgende Gunst bat: Alles, was er berühre, möge sich in Stein verwandeln. Shiva gewährte das selbstverständlich ohne Zögern. Doch plötzlich sah er sich einer existentiellen Bedrohung gegenüber. Denn der Dämon wollte die Herrschaft über das Universum an sich reißen und holte aus, Shiva selbst in Stein zu verwandeln. Shiva blieb nichts übrig, als erstmal die Beine in die Hand zu nehmen.

Wenn man sich große Dinge vornimmt, kommt man irgendwann fast unweigerlich an einen Punkt, wo sich die Frage nach dem Sinn des Durchhaltens stellt. Je mehr wir nach Perfektion streben, auf umso gefährlicheres Terrain begeben wir uns. Ich habe darin eine besondere Lektion erfahren dürfen. Ein Freund empfahl mir einen Masseur, der “so richtig tief reingeht, um Spannungen zu lösen”. Wir Spirituellen sind ja gerne bereit etwas zu leiden, wenn es denn Besserung verspricht. Also ertrug ich die Qualen durch diesen Muskelmenschen unter großen Schmerzen. “Nicht mit dem Körper identifizieren”, sagte ich mir. Nur um eine Woche später vom Arzt diagnostiziert zu bekommen, dass der Kerl mir zwei Rippen gebrochen hatte. War ich in meiner bedingungslosen Hingabe zu weit gegangen?

Lies mehr über Selbstverwirklichung in der Satsang-Kolumne.

Es ist ein Spannungsfeld, das jeder Mensch für sich selbst auflösen muss. Deshalb hat diese Geschichte auch keine “Moral”. Der Vollständigkeit halber: Shiva kam ein Freund zu Hilfe. Vishnu nahm die Gestalt einer schönen Tänzerin an. Der Dämon vergaß sein eigentliches Ziel, wurde durch seine eigene Begierde ausgetrickst und verwandelte sich am Ende selber in Stein. Die Götter haben eben Humor. Shiva blieb Shiva. Das ist wahre Selbstverwirklichung. Er setzte sich nicht schmollend hin, und sagte: “Ab heute mach ich alles anders”. Shiva setzt seinen Weg unbeirrbar fort. Im Absoluten gibt es keinen Grund für Zweifel.

Der Zusammenhang von Zweifeln und Leiden

Unser Leiden beginnt hingegen oft, wenn wir auf der relativen Ebene zweifeln. Unsere Praxis scheint nirgendwohin zu führen, also wechseln wir das Yogastudio. Die Meditation bleibt immer noch unruhig – ein neues Mantra muss her. Ich selbst hatte mein Gottvertrauen nach der Diagnose für ein paar Tage verloren und lief mit schlechter Laune durchs Haus. Wenn sich der Verstand einmischt und sagt: “Es muss auf meine Weise geschehen”, sind wir aber im Clinch mit der Realität.

Irgendwann merkte ich das und begann die Schmerzen als Einladung zur Auszeit zu akzeptieren. In der Zwangspause konnte ich reflektieren, dass ich selbst oft ganz schön hart mit mir umgegangen war. Jetzt fühle ich mich ruhiger als vorher. Das soll nicht heißen, dass ich jedem empfehle, sich die Knochen brechen zu lassen. Aber es kann überraschend sein, was sich entwickelt, wenn man geduldig bleibt. Auch wenn die äußeren Umstände mal wieder nach Veränderung zu schreien scheinen. Manchmal merken wir, dass es hilft, Vertrauen zu haben, weil uns bereits eine größere Kraft führt, als wir oft selbst erkennen können. Hingabe ist ein großes Wagnis. Aber sie entspannt viel mehr, als immer alles kontrollieren zu wollen.

Kommentieren Sie den Artikel

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein!
Bitte geben Sie hier Ihren Namen ein

Das Neueste

Meistere den Handgong mit Tahra und Kosta Heiko Wemuth

Kennst du schon die spirituellen Unternehmer und Kundalini-Yogalehrer Tahra und Kosta Heiko Wemuth? Gemeinsam haben sie eine Handgong-Ausbildung entwickelt,...

Film-Tipp: “Was will der Lama mit dem Gewehr?”

Was, wenn es auch anders ginge? Wenn unsere Vorstellungen von "richtig" und "gut" keine solch in Stein gemeißelten Wahrheiten...

“Meine Botschaft ist Einigkeit” – Interview mit Sam Garrett

Er trommelt, surft, fährt Skateboard, praktiziert Yoga und spricht viel über Spiritualität. Fast könnte man vergessen, wie erfolgreich Sam...

Yoga und Ernährung: Ein ganzheitlicher Weg zur inneren Balance

In einer Welt, die von Hektik und Stress geprägt ist, suchen immer mehr Menschen nach Wegen, um innere Ruhe...

YogaWorld Podcast: #113 Beckenboden-Power – mit Heike Gross

Willkommen beim "YogaWorld Podcast"! Die Idee dahinter: Zugang zu echtem Yogawissen, ohne stundenlangem Bücherwälzen. Hier erfährst du einfach alles...

#113 Beckenboden-Power: Dos und Don‘ts für Yogapraxis und Gesundheit – mit Heike Gross

Stärkung und Entspannung: Das solltest du unbedingt über die Basis deines Körpers wissen Der Beckenboden ist ein oft vernachlässigter, aber...

Pflichtlektüre

Dr. Ronald Steiner: 4 Übungen für eingeklemmte Handnerven

Diese yogatherapeutische Übungsreihe von Dr. Ronald Steiner verhilft einem eingeklemmten Handnerv in seiner Bahn zu einem leichten Schlittern. Das...

#113 Beckenboden-Power: Dos und Don‘ts für Yogapraxis und Gesundheit – mit Heike Gross

Stärkung und Entspannung: Das solltest du unbedingt über die Basis deines Körpers wissen Der Beckenboden ist ein oft vernachlässigter, aber...

Das könnte dir auch gefallen
Unsere Tipps