Die Füße sind unsere Wurzeln, die Hände unsere Flügel … Nur auf der Yogamatte ist das manchmal ganz anders. Dort stützen wir unser Gewicht oft teilweise oder sogar ganz auf unseren Händen ab. Dr. Ronald Steiner erklärt uns die Handgelenk-Anatomie.
Leider bemerken wir häufig erst aufgrund von Schmerzen, dass die zum Teil sehr filigranen Knochen und Gelenke der Hände und Unterarme stark beansprucht werden. Schade eigentlich, denn durch ein Verständnis der anatomischen und funktionellen Gegebenheiten können wir die Kraft unserer Handgelenke entwickeln und erhalten. Schon eine kleine, regelmäßig vorkommende Fehlhaltung kann auf Dauer zu einer Verletzung und zu Schmerzen führen.
Zwei Handgelenke – an jeder Hand
Das Handgelenk ist ein sehr komplexes Gebilde, da dort die sieben (inklusive Erbsenbein sogar acht) Handwurzelknochen und die beiden Knochen des Unterarms zusammenkommen. Da derart viele Knochen zusammentreffen, entstehen zwei Gelenkflächen am Handgelenk:
- körpernahe (proximale) Gelenkfläche:
Drei Knöchelchen der Handwurzel (Os scaphoideum, lunatum, triquetrum) formen eine eiförmige Gelenkkugel, die von den beiden Unterarmknochen (Radius, Ulna) schalenförmig aufgenommen wird. - körperferne (distale) Gelenkfläche:
Durch eine proximale (Os scaphoideum, lunatum, triquetrum) und eine distale Reihe (Os trapezium, trapezoideum, capitatum, hamatum) von Handwurzelknochen ergibt sich die Gelenklinie in der Mitte.
Beide Gelenkflächen haben unterschiedliche Aufgaben. In der körpernahen (proximalen) Gelenkfläche ist das Beugen zur Handflächenseite (Flexion) leicht möglich. Beim Strecken zur Handrückenseite (Extension) stößt dieses Gelenk jedoch schnell an seine Grenzen. Und die körperferne (distale) Gelenkfläche kommt zum Einsatz. Allerdings ist die Streckung des Handgelenks bei vielen Stützhaltungen nötig. Deshalb sind Beschwerden an diesem Gelenk bei Yogapraktizierenden besonders häufig. Eine exakte Ausrichtung ist also essenziell.
Aus der Eiform des Gelenks kann man auch seine Funktion ableiten. Das proximale Handgelenk bewegt die Handfläche Richtung Unterarm (Flexion) und nur in geringem Maß den Handrücken Richtung Unterarm (Extension). Seitliches Winken ist ebenso möglich (Abduktion und Adduktion). Für jegliche Rotationsbewegung ist das Handgelenk jedoch nicht geeignet.
Ausrichtung in der Neutralstellung
Wenn in einer Position denen das Handgelenk annähernd in der Neutralstellung ist. Achte darauf, dass die Handfläche parallel zur Breitseite des Unterarms verläuft. Im herabschauenden Hund (Adho Mukha Shvanasana) etwa befindet sich dein Handgelenk annähernd in Neutralposition bzw. in leichter Extension. Hier sollen die ganze Länge der Daumen- und der Kleinfingerseite der Handfläche gleichmäßig im Boden verwurzelt sein. Jedes Abheben einer Seite entspräche einer Rotationsverdrehung im Handgelenk. Dafür ist das proximale (körpernahe) Handgelenk nicht geeignet.
Ausrichtung in der Extension
Wenn das Handgelenk in der maximalen Extension angekommen ist, ändert sich scheinbar alles. Die Extensionsbewegung verläuft hauptsächlich durch das distale (körperferne) Handgelenk. Die Gelenkstellung des proximalen (körpernahen) Handgelenks ändert sich nur wenig. Während eine Ab- oder Adduktion bei neutraler Handstellung die Richtung der Finger im Verhältnis zum Unterarm beeinflusste, ändert sich nun die Stellung der Handfläche in Relation zum Unterarm. Die Fingerrichtung relativ zum Unterarm zu verändern, entspräche einer Rotationsbewegung, wofür das proximale (körpernahe) Handgelenk anatomisch nicht ausgelegt ist.
Bei Positionen, in denen sich das Handgelenk in der Extension (Streckung) befindet, gilt folgendes. Achte darauf, dass dein Zeigefinger in etwa rechtwinklig zum Handgelenk steht. Im heraufschauenden Hund (Urdhva Mukha Shvanasana), im Handstand (Vrikshasana), in der Krähe (Kakasana) oder im Kranich (Bakasana) soll die Zeigefingerachse vom Handgelenk aus etwa im 90-Grad-Winkel verlaufen. Da jede Richtungsabweichung dieser Achse einer Rotationsverdrehung gleichkommt. Dafür ist weder das proximale noch das distale Handgelenk geeignet.
Übrigens: Das bedeutet keineswegs, dass dein Zeigefinger bei allen Stützbewegungen nach vorne zeigen muss. Sondern lediglich, dass er relativ zum Handgelenk im rechten Winkel stehen soll. In welche Richtung der Zeigefinger weisen sollte, hängt davon ab, in welche Richtung das Handgelenk ausgerichtet ist. Und dies hängt von der Yogahaltung, der Flexibilität der Schulter und der Rotationsfähigkeit im Unterarm ab.
Achtsamkeit und Geduld
Auch wenn du auf eine exakte Ausrichtung achtest, stellt jede armgestützte Gleichgewichtshaltung eine Herausforderung für deine Handgelenke dar. Gib ihnen daher Zeit, sich anzupassen. Übe niemals belastende Positionen, wenn es weh tut. Eine achtsame und regelmäßige, jedoch maßvolle Praxis verbessert die Kraft in Handgelenken und Armen. Bei korrekter Ausrichtung führt das dazu, dass du dich auch auf deinen Händen gut getragen fühlst.
Du interessierst dich für mehr als die Handgelenk-Anatomie? Lies mehr über die Anatomie der Kniescheibe und des Hüftgelenks.
Dr. Ronald Steiner ist Arzt für Sportmedizin. Er zählt zu den bekanntesten Praktikern des Ashtanga Yoga.
Seine AYInnovation®-Methode baut eine Brücke zwischen der Tradition und progressiver Wissenschaft. Zwischen präziser Technik und praktischer Erfahrung.