Die Mönche Tibets

Ein tibetischer Mönch ist leicht zu erkennen. Sein Kopf ist kahlgeschoren, er trägt eine bordeauxrote Kutte und eine Mala am Handgelenk, eine Gebetskette aus Yak-Knochen, einem Rosenkranz nicht unähnlich. Wer jetzt das Bild des Dalai Lama vor seinem inneren Auge sieht, der liegt damit völlig richtig. Er ist der bekannteste unter den Mönchen Tibets. Aber wer sind diese Menschen? Wie leben sie, woran glauben sie? YOGA JOURNAL hat sich auf die Suche nach Antworten gemacht. 

Verlässliche Angaben zur genauen Anzahl der tibetischen Mönche gibt es nicht. Insgesamt leben ungefähr 200.000 Tibeter im Exil, einige Quellen geben auch mehr an. Die Zahl der in dem von China besetzten Land lebenden einheimischen Bevölkerung wird auf knapp fünf Millionen geschätzt, auch hier unterscheiden sich die Angaben erheblich. Viele Tibeter entscheiden sich für ein Leben als Mönch. Vor allem in kinderreichen Familien ist es üblich, dass eines der Kinder ins Kloster geht. Manche Kinder werden auch als Wiedergeburt eines verstorbenen Mönches erkannt und werden daraufhin Nonne oder Mönch. Diese reinkarnierten buddhistischen Meister nennt man Tulku.

Wiedergeborene Mönche Tibets

Der bekannteste dieser Tulkus ist der Dalai Lama, der sich auf eine ausgedehnte Europatournee begab. Allein in Österreich kamen rund 25.000 Besucher zu seiner öffentlichen Unterweisung. Um die Realität von Tulkus anzuerkennen, muss man auch das Prinzip der Reinkarnation anerkennen, also die buddhistische Vorstellung von Wiedergeburt begreifen. Im tibetischen Buddhismus geht man davon aus, dass alle fühlenden Wesen aus ihrem früheren Leben in das gegenwärtige Leben kommen und nach dem Tod wiedergeboren werden. Zwar gibt es in vielen religiösen Traditionen die Vorstellung von Wiedergeburt. Aber in Bezug darauf, was da wie und wann wiedergeboren wird und wie die Zeit zwischen zwei Leben überbrückt wird, gibt es jedoch Unterschiede.

Die tibetischen Buddhisten glauben, dass es keinen Anfang des Geburtszyklus gibt. Sondern dass alle Lebewesen, wenn sie durch die Überwindung ihres Karmas die Befreiung aus dem Zyklus der Existenzen erlangt haben, nicht wieder unter diesen Bedingungen geboren werden. Die Abfolge der Wiedergeburten endet also irgendwann. Die meisten philosophischen Schulen Tibets gehen jedoch davon aus, dass der Bewusstseinsstrom selbst nicht zu Ende geht. Man unterscheidet zwei Arten von Wiedergeburt. Einerseits die Wiedergeburt durch Karma, andererseits die Wiedergeburt durch die Kraft von Mitgefühl und Wunschgebeten. Letztere Variante ist diejenige der Tulkus und Lamas. Sie kehren wieder, weil ihre Hilfe gebraucht wird und sie imstande sind, diese zu leisten. Angeblich sind sie fähig, den Ort, die Zeit und sogar die Eltern ihrer Wiedergeburt zu bestimmen.

Es gibt verschiedene Methoden, solche Reinkarnationen zu erkennen und zu bestätigen. Etwa ein Brief des Vorgängers mit dessen Prophezeiungen und Hinweisen auf Ort und Zeit der Wiedergeburt oder von der reinkarnierten Person glaubwürdig geschilderte Erinnerungen an dessen vorherige irdische Existenz. Kann der zukünftige Tulku persönliche Gegenstände zweifelsfrei identifizieren und erkennt er andere Lamas und Mönche aus seinem früheren Leben, gilt seine Reinkarnation als bestätigt. Beinahe in jedem tibetischen Kloster findet sich zumindest ein reinkarnierter Mönch. Doch es wird immer schwieriger, solche überhaupt zu finden.

Die Mönche Tibets im Exil

Noch immer können die Mönche Tibets ihre Religion im eigenen Land nicht frei leben. Noch immer werden Klosteranlagen geschlossen. Immer wieder verschwinden höher gestellte Lamas und deren Anhänger spurlos. Die spirituelle Entwicklung Tibets gedeiht andernorts, außerhalb des tibetischen Hochlandes. Viele der im Exil lebenden Mönche halten sich im nordindischen Dharamsala auf. Es gibt jedoch auch tibetische Klöster in anderen Teilen Indiens, in Tibets Nachbarland Nepal, aber auch in Deutschland, der Schweiz und anderen Staaten.

Die ursprünglichsten Klöster befinden sich im ehemaligen Königreich Mustang, früher in Tibet, heute auf der Landkarte Nepals verortet. Bis in die neunziger Jahre war Fremden der Zutritt zu dieser abgelegenen Himalayaregion strikt untersagt. Das Gebiet nahe der chinesischen Grenze war Sperrgebiet. Viele tibetische Freiheitskämpfer verschanzten sich hier. Etliche Tibeter flüchteten über Mustang aus ihrer Heimat. Auch heute ist es schwierig, das Gebiet zu bereisen. Die auf 4.000 Meter Höhe gelegene Hauptstadt Lo Mustang ist ausschließlich über Fußwege zu erreichen. Dafür finden sich in dem verschlafenen Örtchen bis zu tausend Jahre alte Klöster. Wesentlich verändert hat sich dort über die Jahrhunderte kaum etwas. Die karge Umwelt sorgt ohnehin dafür, dass sich die Menschen dort auf das Wesentliche konzentrieren.

Auf dem Himalayaplateau unweit des Mount Everest, in Sichtweite des 8.000 Meter hohen Annapurna-Gebirges, herrschen extreme klimatische Bedingungen. Es gibt kein fließend Warmwasser, die Landwirtschaft beschränkt sich auf den Anbau von Gerste und Buchweizen. Hier zu leben, erfordert also einiges an Selbstdisziplin. Seelenruhe und Gelassenheit geht von den Menschen und Klöstern hier oben aus. Das raue Klima und der Zahn der Zeit nagen an den historischen Bauwerken, viele Klöster stehen vor dem Verfall. Chhing Chhyope Tsering Tashe, Vorsteher der Klosterschule Mahakaruna Sakyapa, zeigt sich trotzdem dankbar: “Wir haben viele Unterstützer, auch aus Europa. Ohne sie würde es noch nicht mal das geben, was du hier siehst. Und immerhin leben über 120 Mönche hier, die wir ausbilden, denen wir etwas zu essen und einen Schlafplatz anbieten können. Viele von ihnen sind Flüchtlinge.”

Mustang in Nepal als Hochburg der Mönche Tibets

Der lange Arm Chinas reicht jedoch bis Mustang. Das Staatsgebiet ist nur 40 Kilometer Luftlinie entfernt und bedroht mit der Investitionspolitik den Fortbestand der tibetischen Mönchskultur. Vor einigen Jahren war es für Schafhirten und Händler möglich, die Grenze frei zu passieren, um ihre Herden auf neues Weideland zu führen oder Wolle und Yakbutter zu verkaufen. Mittlerweile hat China dem einen Riegel vorgeschoben. Die Grenze ist nun nur noch in die Gegenrichtung passierbar, chinesische Händler überschwemmen Nepal mit Billigprodukten. Nepal steht dieser Entwicklung machtlos gegenüber. Denn es ist auf die üppigen Investitionen aus dem mächtigen China angewiesen.

Im Kloster Kopan nahe der Hauptstadt Kathmandu leben mehr als 750 Mönche und Nonnen. Die große Stadt bietet Sicherheit, Zugang zu Medien, abwechslungsreiche vegetarische Ernährung. Und nicht zuletzt die Möglichkeit, über Religion und Philosophie zu diskutieren. Ein fester Bestandteil des tibetischen Klosterlebens ist das Streitgespräch über die Lehren Buddhas. Dabei sitzen mehrere Mönche zusammen und erörtern einen bestimmten Sachverhalt. Einer der Mönche trifft eine Aussage, die dann von den anderen infrage gestellt wird. Also alle gegen einen, wobei dem die Kunst darin besteht, sich von den lauthals argumentierenden Mönchen nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. Gerade diese Situation, auf sich allein gestellt zu sein und dennoch nicht aufzugeben, steht für das Schicksal Tibets.

Um finanziell autark zu bleiben, bietet das Kopan-Kloster Yoga-Retreats für Touristen an. Aber auch hier in Nepal können sich die Nonnen und Mönche dem chiesischen Einfluss nicht komplett entziehen. Derzeit gibt es weder einen offiziellen Vertreter der tibetischen Flüchtlinge noch des Klerus. Und es besteht auch kein Grund zur Hoffnung, dass eine solche Stelle wieder eingerichtet wird. Das Leben in Kopan gleicht also einer Seifenblase, die jederzeit platzen kann. “Jeder, der übt, Mitgefühl und Gleichmut zu entwickeln, leistet einen kleinen Beitrag zum Weltfrieden. Sage nicht einfach ja oder nein zu dieser Aussage. Denk einfach darüber nach”, sagt einer der Mönche dazu.

Strenger Tagesablauf

Das Klosterleben als Mönch ist streng reglementiert, der Tagesablauf folgt einem Stundenplan. Neben dem Studium und der Diskussion sind Mantra-Praxis und Lu Jong, das tibetische Yoga, fester Bestandteil des Klosteralltags. Das bekannteste ist das Mantra von Padmasambhava, eines indischem Gelehrten und Yogis, der den Buddhismus nach Tibet brachte. Om mani padme hum. Aber auch andere Mantras sind gebräuchlich. Die Traditionelle Tibetische Medizin kennt das Rezitieren von Mantras als Bestandteil von Heilungsmethoden. Viele medizinische Kräuterelixiere wirken in der Vorstellung der Tibeter nur zusammen mit einem bestimmten Mantra. Dabei arbeiten die Mönche oft mit Schamanen zusammen.

Das tibetische Yoga Lu Jong gehört ebenfalls zur Praxis der Mönche Tibets. Diese Bewegungslehre ist laut einigen Quellen älter als das Patanjali-Yoga und hat ihre Ursprünge in der alten, vorbuddhistischen Bön-Religion der Tibeter. Die Bewegungsabläufe sind simpel und werden im Zeitlupentempo durchgeführt. In Grundzügen geht es dabei darum, die Chakren als Kanäle zu nutzen, um unterschiedliche Energieströme im Körper zu regulieren. Denn ein gesunder und starker Körper dient vor allem als Werkzeug, um den Weg der Erlösung meistern zu können. Und Meditation ist nur mit einem gesunden Geist in einem gesunden Körper möglich.

Wissenschaftliche Erforschung der Meditationspraxis

Die bis zu acht Stunden tägliche Meditationspraxis der Mönche Tibets wurde von Wissenschaftlern  untersucht. Das Ergebnis: Die bei den Mönchen gemessenen Gehirnströme vor, während und nach Meditation unterscheiden sich erheblich von denen der Kontrollgruppe, die nicht meditieren. Alle Mönche hatten eine höhere Aktivität im limbischen System, dem Teil des Gehirns, in dem Emotionen verarbeitet werden. Die Schilderungen der Wissenschaftler reichen von “feuerwerksähnlichen Neuronen-Explosionen” bis hin zu “blasenwerfender Neubildung von Synapsenspalten, gefolgt von einer harmonischen Neuausrichtung der Nervenbahnen”. Das klingt für wissenschaftliche Untersuchungsergebnisse geradezu malerisch.

Interessant ist dabei, welche Metapher die tibetischen Mönche und Lamas selbst in diesem Zusammenhang verwenden. Der menschliche Geist sei wie ein Ozean, an sich ruhig, flach und unermesslich groß und tief. Doch durch Stürme wird die Oberfläche unruhig und wirft Wellen. Im täglichen Leben heißt das, dass man in einer Stresssituation überschnell und impulsiv denkt und handelt. Dadurch wird noch mehr Unruhe im Geist erzeugt. Bei den Mönchen ist es anders. Sie reagieren auf solche Situationen stärker, lassen dann aber den Teufelskreis los und beruhigen ihren Geist. Auch den Wissenschaftlern fiel es schwer, Erklärungen hierfür zu finden. Fakt ist: Ein regelmäßig meditierender Mensch reagiert anders auf Stress. Seine Gedanken kreisen nicht ständig um dasselbe Problem.

Warum nehmen so viele Tibeter und tibetische Mönche und Nonnen Unrecht so gelassen hin? Das mag makaber klingen, aber der auch im Westen bekannte Tulku Lobsang sagte einmal dazu: “Nehmt das Leben und euch selbst nicht so ernst.”


Titelfoto: Christian Pähler. Der Journalist und Filmemacher Christian Pähler lebt in München. Wenn er nicht gerade auf Reisen ist.

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