Ob man eine Yogastunde als rundum wohltuend und beglückend empfindet, oder eher nicht, hängt vor allem davon ab, wie gut sie aufgebaut ist. In diesem Teil unserer Reihe über guten Yogaunterricht erklärt der “Lehrer der Lehrer” Mark Stephens, worauf man dabei achten muss – nicht nur als Yogalehrer, sondern auch als aufmerksamer Schüler oder bei der eigenständigen Praxis. Wie ist der Stundenablauf am Besten?
Die Yogapraxis besteht aus einem ganzen Universum von verschiedenen Elementen. Je nachdem, welche man auswählt und wie man sie miteinander verbindet, entsteht eine ganz spezifische Praxis. Da fragt man sich natürlich:
Eingangsfragen für den Stundenaufbau
- Welche Elemente gehören zu einer vollständigen Praxis?
- Wie ordnet man diese Elemente am besten an?
- Wie beginnt man am besten?
- Welche Verhältnisse bestehen zwischen einzelnen Asanas?
- Wie wirkt eine bestimmte Übung auf eine andere?
- Was verändert sich, wenn man die selben Asanas in unterschiedlicher Reihenfolge übt?
- Welche Beziehungen gibt es zwischen den Asana-Familien und welche innerhalb dieser Gruppen?
- Was bewirken Pranayama und Meditation im Stundenzusammenhang?
- Auf welchen Grundlagen sollte die Struktur einer Yogastunde beruhen?
Warum dies und was folgt daraus?
Gleich vorab: Eine ideale Stunde für alle gibt es nicht. Die ganz verschiedenen körperlichen Bedürfnisse und Intentionen der Yogaschüler einer Klasse gleichen einem bunten Mosaik. Deshalb ist es die Aufgabe des Lehrenden eine Stunde zu entwerfen, die dieser jeweils besonderen Vielfalt gerecht wird.
Aber auch für die private Praxis zuhause lautet das Ziel, die fünf wichtige Anforderungen umzusetzen. Erstens soll der Stundenaufbau sachkundig sein. Gerade ein Yogalehrer sollte sich mit funktionaler und energetischer Anatomie auskennen und verstanden haben, wie Asanas wirken und sich wechselseitig beeinflussen. Zweitens sollen die Bewegungen von Haltung zu Haltung effizient sein. Drittens soll die Stunde effektiv sein, indem sie die Zugänglichkeit und die positiven Wirkungen der Asanas maximiert. Viertens sollte sie eine ganzheitliche, ausgewogene Praxis vermitteln, die fünftens nachhaltig wirkt, indem sie Stabilität und Leichtigkeit vermittelt.
Alte und neue Ordnungen
Schon immer wurde in der Tradition des Yoga das Prinzip der Reihenfolge für wichtig erachtet. Schon 1500 vor Christus beschrieben die Veden präzise Abfolgen von religiösen Ritualen. Später empfahlen die Upanischaden, die spirituelle Praxis Bhava anzupassen, dem natürlichen Daseinsprozess, in dem sich das Leben von Kindheit über Jugend und Reife zum Alter hin in verschiedenen Stadien abspielt. Das etwa 325 n. Chr. entstandene Yoga-Sutra von Patanjali gliedert den Yoga-Übungsweg dann in acht aufeinander folgende Abschnitte: Yama, Niyama, Asana, Pranayama, Pratyahara, Dharana, Dhyana und Samadhi. Und in Swatmaramas Hatha Yoga Pradipika aus dem frühen 15. Jahrhundert finden sich schließlich die erste Abfolgen aus Asanas und Pranayamas. Allerdings verbunden mit der ausdrücklichen Warnung, mit Pranayama nicht vor Asana zu beginnen.
Das Yoga-Sutra enthält auch ein Konzept namens Parinamavada. Die Vorstellung, dass das Leben kontinuierlichem Wandel unterliegt und dass der Yogi diese Veränderungen bewusst wahrnehmen und an ihnen teilhaben sollte. Außerdem verband Tirumalai Krishnamacharya dieses Konzept mit der Idee des Vinyasa Krama, nach dem die achtsame Yogapraxis klug und behutsam voranschreiten soll. Das ist das Grundprinzip für jeden sorgfältigen Stundenaufbau.
Heute kommen wir diesem Anspruch auf klugen Aufbau auch mit Hilfe von funktioneller Anatomie, Biomechanik und Bewegungslehre nachzukommen. Gemeinsam mit den Beobachtungen aus der eigenen Praxis helfen uns diese Forschungen, genauer zu verstehen, wie Asanas sich gegenseitig beeinflussen.
Die 5 Grundprinzipien des Stundenaufbaus
- Vom Einfachen zum Komplexen
Das Fortschreiten von einfachen zu komplexeren Haltungen ermöglicht dem Körper, sich leichter und sicherer zu öffnen und zu stabilisieren. Übt man zum Beispiel Anjaneyasana (tiefer Ausfallschritt) vor Virabhadrasana I (Heldenhaltung I), dann ist der Held leichter zugänglich und erzeugt weniger Spannungen in unterem Rücken, Knie und Fußgelenk. - Von der Dynamik zur Stabilität
Lockere Bewegung hilft, die im Körper vorhandenen Spannungen wahrzunehmen und zu lösen. Das erlaubt es uns später, Haltungen stabiler und nachhaltiger zu üben. Wenn wir zum Beispiel in Adho Mukha Shvanasana (herabschauender Hund) beim ersten Üben locker “radfahren”, um Beine und Hüften zu mobilisieren, dann wird uns der statisch gehaltene Hund viel leichter fallen. - Hin zu energetischer Balance
Wir alle unterliegen energetischen Schwankungen, die im Yoga mit den Begriffen Rajas (Feuer) und Tamas (Trägheit) beschrieben werden. Jede noch so verschieden geartete Stunde sollte diese Tendenzen in Ausgleich bringen. Egal, ob man nun müde und abgeschlagen oder eher nervös und aufgedreht in die Yogastunde kommt, nach Savasana sollte man sich leicht, frisch und wach fühlen: Sattva, die Klarheit. - Integration durch Gegenbewegungen
Jede Asana erzeugt gewisse Spannungen, die andere Asanas wieder lösen können. Darauf beruht Pratikriyasana, die Kunst, Haltungen so anzuordnen, dass man am Ende der Stunde möglichst frei von Spannung ist und so die positiven Wirkungen tiefer integrieren kann. - Nachhaltig in Richtung Transformation
Yoga kann eine lebenslange Praxis sein. Intelligent aufgebaute und für alle Bedürfnissen der Übenden wirklich angemessene Stunden können helfen, nachhaltig die persönliche Entwicklung jedes Einzelnen zu unterstützen und zu fördern.
Kreativer Stundenaufbau
Die gute Stundengestaltung wird kreativ durch die Kombination von Asana, Pranayama und Meditation. Dabei müssen wir die Bedürfnisse und Intentionen der Übenden würdigen. Die hier geschilderten Grundprinzipien kann man für die unterschiedlichsten Stunden, Stile, Umstände und Jahreszeiten anwenden. Von Selbstakzeptanz über Herzöffnung bis hin zu Chakra-Yoga.
Im nächsten Beitrag werde ich auf die Frage nach den Beziehungen zwischen einzelnen Asanas und Asana-Familien eingehen. Die individuelle Kreativität kann der Lehrer durch Yogaphilosophie, den jeweiligen Yogastil, die Biomechanik, und Effekte der jeweiligen Asanas zum Ausdruck bringen. Jeder Lehrende sollte seine gesamte Palette an Wissen dafür einsetzen, dass die Bedürfnisse und Intentionen der Schüler erfüllt wird.
Zudem besteht die wichtigste Rolle des Yogalehrenden darin, den Übenden ihrem eigenen inneren Lehrer näher zu bringen. (Lies unbedingt mehr darüber, wieso Mark Stephens’ Ideal ein Yogalehrer im Inneren ist.) Dafür sollte der Stundenaufbau ein Gefühl für die Wahrheit des eigenen Daseins wecken. Das hilft uns, inmitten des Auf und Ab und der Wechselhaftigkeit des eigenen Lebens ein dauerhaftes Gefühl der Ruhe und Erdung zu entwickeln.
Mark Stephens hat bereits mehrere internationale Bestseller über den Yogaunterricht geschrieben. Sein neuestes Lehrbuch über Yogatherapie mit dem Schwerpunkt “Schlaf” erschien 2019 im Riva-Verlag. Er lebt in Kalifornien und unterrichtet weltweit, häufig in Deutschland, Österreich und der Schweiz. markstephensyoga.com
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