Hot Yoga (ehemals Bikram Yoga): Stil Guide

“38 Grad? Ihr seid ja verrückt!” Dieser Satz, gepaart mit großen, ungläubigen Augen oder einer skeptisch hochgezogenen Augenbraue ist die häufigste Reaktion, die ich bekomme, wenn ich erzähle, dass ich Hot Yoga praktiziere und unterrichte.

Vielleicht klingt es für jemanden, dessen Wohlfühltemperatur zwischen 20 und 25 Grad liegt, verrückt, sich bei 38 Grad mit anderen in einen Raum zu stellen und Yoga zu üben. Für die meisten Inder ist das ganz normal. Die Wiege des Yoga erfreut sich in ihren subtropischen und tropischen Landesteilen zur warmen Jahreszeit Temperaturen von gut über 40 Grad. Die Temperatur war auch das erste, was mich ansprach, als ich zum ersten Mal von Hot Yoga hörte. Seit ich denken kann, liebe ich die Wärme, ich taue erst bei Temperaturen von über 20 Grad wirklich auf.

Mir war also sofort klar: Das muss ich ausprobieren. Und von der ersten Stunde an wusste ich: Ich bin endlich angekommen. Das ist das Yoga, nach dem ich so viele Jahre gesucht habe. Die Kombination von Wärme und Asanas tat mir gut. Schon nach der ersten Stunde hatte ich das Gefühl, als ob eine Putzkolonne meinen kompletten Körper von innen blitzblank geschrubbt hätte. Doch nicht nur mein Körper war bereits nach der ersten Stunde verändert. Ich war zwar völlig ausgepowert, doch mein Geist war ruhig und gelassen und meine Seele schwebte. Dieses wunderbare Gefühl habe ich auch Jahre später noch immer nach jeder Stunde. Das strahlen viele Hot Yoginis und -Yogis auch aus. Es gibt sogar einen Ausdruck dafür: “Bikram Glow”.

Was ist Hot Yoga?

Yogiraj Bikram Choudhury hat Hot Yoga entwickelt. Dabei handelt es sich um eine Folge von 26 Hatha-Yoga-Asanas, eingerahmt von zwei Pranayama Übungen. Jede Klasse dauert 90 Minuten. Praktiziert wird in einem auf mindestens zwei Seiten verspiegelten Raum, der auf 38 bis 40 Grad und etwa 40 Prozent Luftfeuchtigkeit klimatisiert ist. Jede Atemübung und jede Asana werden zweimal hintereinander ausgeführt. Wir sprechen vom ersten und zweiten Set. Das erste Set dient dazu, die Asana zu entdecken. Man lernt, sie sauber aufzubauen und gleichzeitig in den Körper hineinzuspüren. Wie geht es mir heute mit dieser Übung? Das zweite Set ist dann dazu da, die Asana zu vertiefen – und zwar so tief, wie es am jeweiligen Tag, im jeweiligen Moment geht.

Die Asanas werden auf klassische Hatha-Yoga-Weise gehalten, es gibt keine fließenden Übergänge dazwischen. Jede Übung wird konzentriert und präzise eingenommen und wieder aufgelöst. Die erste Hälfte der Sequenz besteht aus stehenden Asanas. Nachdem der Körper vorbereitet ist, geht es auf den Boden. Dieser Übergang startet mit einem etwa zweiminütigen Savasana. Körper und Geist werden zur Ruhe gebracht und Energie für die Übungen am Boden getankt. In der Bodenserie folgt auf jede Asana eine kurze Entspannung. Durch diesen Wechsel von An- und Entspannung kann sich die heilende Wirkung des Yoga im Körper optimal entfalten. Abgeschlossen wird die Stunde mit einem finalen Savasana.

Es ist nie zu spät, es ist nie zu schwierig und du bist nie zu alt oder zu krank, um noch einmal ganz von vorne zu beginnen.

“Das ist doch langweilig, immer dieselben Asanas zu praktizieren.”

Darauf antworte ich mit einem klaren: Nein! Yoga ist ein Weg. Niemand kommt in eine Yogastunde und macht gleich alles absolut richtig. Je länger ich praktiziere, desto präziser werde ich in den Asanas. Ich kann mit der Zeit tiefer hineingehen, verstehe sie immer besser und erfahre immer intensiver, was sie für mich tun. Körper und Geist öffnen sich immer weiter und ich finde immer mehr Ruhe und Frieden in den Asanas. Im Hot Yoga führt jeder Schüler die Asanas auf seinem eigenen Level durch. Eben so gut, wie Körper, Kraft und Flexibilität es zulassen.

Bikram lernte bei seinem Guru Bishnu Charan Ghosh von Beginn an auch Yogatherapie. Die Reihenfolge der Übungen wählte er so, dass der Körper von oben bis unten und von innen nach außen durchgearbeitet wird. Jede Übung baut auf der vorherigen auf. Daher wird die Reihenfolge auch nie verändert. Die Sequenz öffnet jedes Gelenk, mobilisiert die Wirbelsäule, stärkt jeden Muskel. Auch die inneren Organe und Drüsen werden frisch durchblutet. Die Asanas sind so ausgesucht, dass jeder sie durchführen kann. Auch absolute Anfänger und Menschen mit Verletzungen. Der Fokus liegt dabei auf der Stärkung der Wirbelsäule. “A healthy spine equals a healthy life.” Hilfsmittel werden nicht benutzt. Bikram ist der Überzeugung, dass Hilfsmittel einen davon abhalten, sich den durch Dysbalancen in Körper und Geist hervorgerufenen Herausforderungen wirklich zu stellen.

Weshalb die Wärme?

Der Schmied erwärmt das Eisen auch, bevor er es schmiedet. Würde er versuchen, kaltes Eisen zu formen, ginge sein Hammer kaputt. Genauso ist es mit dem menschlichen Körper. Wenn man ihn dehnen und formen will, muss man ihn zuerst gut aufwärmen und dann warm halten. Das Prana, die Lebensenergie, wird durch die erste Atemübung ins Fließen gebracht, die ersten paar Übungen fachen das innere Feuer an. Die Wärme von außen unterstützt das und verhindert, dass der Körper durch das Temperaturgefälle von der Körperkerntemperatur auf die Außentemperatur auskühlt. Der gesamte Körper, alle Muskeln, das Bindegewebe, die Sehnen und Gelenke, bleiben geschmeidig.

Die Wärme hat darüber hinaus aber noch andere physiologische Effekte. Aktivierung und Stärkung des Herz-Kreislauf-Systems, Aktivierung des Stoffwechsels, Unterstützung der Ausscheidung der Stoffwechselabbauprodukte durch vermehrtes Schwitzen, Stärkung des Immunsystems und Verringerung des Verletzungsrisikos. Da man in der Stunde stark schwitzt, ist es wichtig, viel zu trinken. Es empfiehlt sich, schon über den Tag verteilt ausreichend Wasser zu sich zu nehmen, um gut hydriert in die Yogastunde zu kommen. Nach der Stunde ist ein Ausgleich des Wasser- und Elektrolyt-Haushaltes erforderlich. In der Stunde selbst sollte man nicht viel trinken, da ein voller Wasserbauch bei den Übungen stört. Ein paar kleine Schlucke während der Stunde reichen völlig aus.

Neben der physiologischen hat die Wärme auch eine mentale Wirkung. Die Yogis sagen, dass der menschliche Geist wie ein betrunkener Affe ist: immer in Bewegung. Vor allem Anfänger sind in einer Hot Yoga Stunde stark damit beschäftigt, gegen die ungewohnte Wärme anzukämpfen. Fluchtgedanken, Visionen von einem Vollbad in Eiswürfeln oder Phantasien von einer frischen Brise am Meer sind ganz normal. Egal wie lange man vorher bereits Hatha Yoga praktiziert. Doch mit der Zeit gewöhnt man sich an die Wärme. Man lernt, durch eine bewusste, tiefe und ruhige Atmung Körper und Geist zu beruhigen. Willenskraft, Konzentration und Selbstbewusstsein werden gestärkt. Und plötzlich ist der Punkt da, an dem es gar nicht warm genug sein kann, damit man sich in der Stunde wohl fühlt.

“Durch die Wärme erhöht sich die Verletzungsgefahr, weil ich mich überdehne.”

Das mag sich richtig anhören, physisch ist es falsch. Der Körper hat auch in der Wärme seine Grenzen der Flexibilität und der Belastbarkeit. Was zu Zerrungen und Überbelastungen führt, ist immer mangelnde Achtsamkeit. Mein Körper sendet in der Wärme dieselben Signale, wenn ich mich an meine Grenzen bewege. Diese Signale muss jeder, der ohne Verletzung möchte, unbedingt beachten und respektieren. In der Wärme bin ich flexibler als bei Raumtemperatur, da Muskeln, Sehnen und Bindegewebe gut durchblutet, warm und geschmeidiger sind. Euphorie, Ehrgeiz und Wettbewerbsgedanken lassen manche die Körpersignale missachten und zu tief gehen.

Warum der Spiegel?

Viele Menschen wundern sich über einen Spiegel im Yogastudio, denn er steht für Eitelkeit und Narzissmus. Die klassische historische Art, Yoga zu unterrichten, bestand darin, dass ein Lehrer sich mit einem Schüler beschäftigt. Leider ist es schwierig, Yoga auf diese Weise vielen Menschen zugänglich zu machen. Die Lösung fand Bikram darin, eine Folge von Asanas und Pranayamas zusammenzustellen, die jeder durchführen kann, die den ganzen Körper bearbeitet und so viele Krankheiten wie möglich heilen kann. Da es dem Lehrer in größeren Klassen unmöglich ist, während jeder Asana zu jedem Einzelnen zu gehen, benötigt der Schüler die Möglichkeit, sich anhand der Anweisung des Lehrers selbst zu korrigieren. Die Lösung: die Verspiegelung des Yogaraumes.

Der Spiegel ist – wie beim Ballett – ein Kontrollwerkzeug, um das häufig täuschende Körpergefühl immer wieder zu korrigieren. Wie die Übung Schritt für Schritt korrekt aufgebaut wird und wie das Alignment (die Ausrichtung in der Haltung) auszusehen hat, erklärt der Lehrer im Detail. Der einzelne Schüler kann seine Haltung selbst korrigieren, lernt sein Körpergefühl zu verbessern und ist nicht ständig auf die Hilfe des Lehrers angewiesen. Zudem hat der Spiegel einen mentalen und emotionalen Effekt. Ich werde 90 Minuten lang mit meinem Spiegelbild konfrontiert. Wenn ich mich auf diese Konfrontation einlasse, lehrt mich der Spiegel einiges: Er lehrt mich, mich so zu lieben, wie ich bin. Mit all meinen Macken und vermeintlichen Unvollkommenheiten. Er lehrt mich, meine Schönheit und Einzigartigkeit wieder zu erkennen. Er hilft mir, zu mir selbst zu finden und Seele und Körper wieder zu verbinden. Genau das ist Yoga: die Verbindung von Körper, Geist und Seele.

“Im Hot Yoga gibt es keine Spiritualität.”

Darauf möchte ich mit einem Zitat von B. K . S. Iyengar antworten: “Unser Ziel ist die Durchdringung des Geistes, aber um die Dinge zu Beginn überhaupt in Bewegung zu bringen, gibt es keinen Ersatz für Schweiß.” Wer den kompletten yogischen Weg gehen möchte, will zur Selbst-Erkenntnis gelangen. Doch auch diese Reise zum Selbst beginnt mit einem ersten Schritt und das ist Hatha Yoga, das physische Yoga. Erst wenn der Körper gesund ist, können wir unseren Geist disziplinieren und schließlich zu unserem Selbst finden.

In einer Hot Yoga Stunde liegt der Fokus auf dem Körper, der nächste Schritt ist Raja Yoga, das Yoga des Geistes. Irgendwann habe ich in meiner Entwicklung ein Stadium erreicht, in dem eine Hot Yogaklasse für mich eine 90-minütige Bewegungsmeditation ist. Wer es geschafft hat, Körper und Geist zu disziplinieren, möchte vielleicht im nächsten Schritt mehr über die Philosophie und die Spiritualität des Yoga erfahren. Im Hot Yoga legen wir mit Hatha und Raja Yoga die Basis für den weiteren Weg der Selbst-Erkenntnis, den Grundstein für eine spirituelle Entwicklung. Wie und ob die spirituelle Reise weitergeht, ist jedem Schüler selbst überlassen. Jeder, der in eine Hot Yoga Stunde kommt, hat die Freiheit, seine eigene Form der Spiritualität zu entdecken – oder eben nicht.

Wichtige Grundsätze für die Hot Yogapraxis – und fürs Leben

In der Ausbildung wurde uns zu allererst beigebracht: No expectations, no judgement, no excuses.

✤ No expectations – Erwarte nichts. Deine Erwartungen limitieren deine Erfahrungen. Die Realität ist oft ganz anders, als du sie dir vorgestellt hast. Schränke dich nicht selbst ein. Sei einfach offen für alles und jeden.

✤ No judgement – Was auch immer mit dir körperlich, mental und emotional passiert, was auch immer dir beigebracht wird und auf welche Weise, wem auch immer du hier begegnest: Bewerte nichts und niemanden, sondern nehme alles und jeden mit offenem Herzen und offenem Geist an. Aus jeder Situation und von jedem Menschen kannst du etwas lernen.

✤ No excuses – Belästige deine Umwelt nicht mit Entschuldigungen oder Ausreden. Gebe immer dein Bestes, dann hast du alles gegeben. Du weißt (noch) gar nicht, was du alles vermagst.

Der harte Weg ist der richtige?

Hot Yoga hat mich körperlich, mental und emotional durch und durch positiv verändert. Viele Jahre im Vertrieb hatten mich zu einem übergewichtigen, unausgeglichenen und mitunter zynischen Menschen gemacht. Heute ist mein Körper dank Hot Yoga wieder in Form, stark, flexibel und beschwerdefrei. Emotional bin ich wieder ausgeglichen, zufrieden und glücklich. Mental bin ich viel stärker, traue mir deutlich mehr zu als früher und suche nicht mehr ständig nach dem Weg des geringsten Widerstandes. Der Weg des geringsten Widerstandes führt nach einem kleinen Umweg wieder an dieselbe Weggabelung zurück, an der man sich für den leichteren Weg entschieden hat. Nur hat man inzwischen Zeit und Energie verschwendet. Daher sollte man den schwierigeren Weg nehmen, denn auf ihm wird man wachsen, er führt zum Selbst.

Die “Hot RoOM”-Gemeinde wächst

Bis ungefähr Mitte der 1990er-Jahre hat Bikram nur wenige ausgewählte Schüler zu Lehrern ausgebildet. Dann hat er sich überzeugen lassen, einen Ausbildungslehrgang anzubieten. Mittlerweile gibt es weltweit mehrere tausend lizensierte Hot Yogastudios, die ausschließlich von ihm persönlich ausgebildete und zertifizierte Lehrer beschäftigen. Hot Yoga wird gerne als “Promi-Yoga” abgewertet. Dass viele Prominente Hot Yoga lieben, mag mit daran liegen, dass Shirley MacLaine Bikram nach Los Angeles geholt und durch diese Verbindung natürlich sehr schnell in Hollywood Bekanntheit erlangte. Doch die Namen der prominenten Schüler sind eigentlich unerheblich. Sie haben – wie wir anderen auch – einfach nur erfahren, welche kleinen und großen Wunder diese Art von Yoga an uns vollbringt. Dafür lieben wir es und kehren immer wieder in den “Hot Room” zurück.


Anmerkung zur Person Bikram Choudhurys

Dieser Artikel wurde 2020 aktualisiert. Schon lange wurden gegen den Guru Vorwürfe von sexualisierter Gewalt laut. Schließlich musste er sich vor dem Gericht für seine Taten verantworten, floh aber ohne die Geldstrafe in Milliardenhöhe zu zahlen. Daraufhin haben sich viele Yogastudios entschieden, Bikram Yoga in Hot Yoga umzubenennen. Diese Entwicklung hat uns auch dazu bewogen, im Artikel nur den Yogastil, nicht aber Bikrams Person näher zu beleuchten.


Autorin: Andrea Crnogaj absolvierte in jungen Jahren eine Ballettausbildung, doch Knieprobleme verhinderten eine Tanzkarriere. Im Yoga fand sie ein ähnliches “Seelenfutter” wie im Tanz. Sie praktiziert seit 10 Jahren Hatha Yoga. 2008 betrat sie zum ersten Mal den “Hot Room” des Münchener Hot-Yogastudios.

Foto: Matthias Lang Hamburg

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