Eine “traumasensible” oder auch “traumainformierte” Herangehensweise wird auch im Yoga immer bedeutsamer. Hala Khouri ist eine Pionierin auf diesem Gebiet. Hier erklärt Sie die wichtigsten Prinzipien und zeigt eine Sequenz, die dir (mit oder ohne Trauma) ein Gefühl von Sicherheit und Zentrierung schenken kann.
Sequenz: Hala Khouri, Fotos: Ian Spanier
Worum geht es beim Traumasensiblen Yoga?
Unverarbeitete traumatische Erlebnisse können sich in Ängsten, Depressionen oder Gefühlen der Dissoziation äußern, aber auch in körperlichen Symptomen (Rückenschmerzen, Migräne, Autoimmunerkrankungen u.a.m.). Ganz ähnlich gilt das auch für anhaltenden Stress. Traumasensibles Yoga muss sich dem jeweiligen Menschen und der Situation anpassen. Dennoch gibt es einige Basics, die fast immer hilfreich sind:
Ziele der traumasensiblen Praxis:
- ein Gefühl von Erdung, Halt und Zentrierung im eigenen Körper erzeugen
- den körperlichen Signalen wieder vertrauen lernen
- mehr körperliche, emotionale und psychische Sicherheit finden
- Toleranz gegenüber unangenehmen Empfindungen einüben
- Stabilität, Präsenz und Balance fördern
Die Methode
Im sicheren Rahmen der Yogapraxis kann man üben, körperliche und emotionale Empfindungen anzunehmen, ohne von ihnen überwältigt zu werden. Dabei achtest du auf folgende Punkte:
- Spüre in jeder Haltung den Bodenkontakt.
- Aktiviere die Rumpfmuskulatur, um inneren Halt zu erzeugen.
- Nimm diesen Halt bewusst wahr.
- Vermeide es, den Bauch einzuziehen.
- Atme bewusst oder ganz spontan, aber übe immer so, dass dein Atem jederzeit verfügbar ist.
- Nimm jede einzelne Haltung auf all ihren Ebenen wahr: Muskeln und Gelenke, aber auch deine Gefühle.
- Kehre zurück in eine sichere Position, sobald eine Haltung Ängste auslöst.
Lesetipp: “Warum die Yogawelt traumasensible Achtsamkeit braucht”
Traumasensible Yogapraxis mit Hala Khouri
1. Tadasana (Berghaltung)
Erde dich in der Berghaltung bewusst durch beide Füße, halte deine Knie durchlässig und spüre, wie das Wurzeln nach unten zugleich ein Wachsen nach oben erzeugen kann. Präge dir dieses Gefühl vom Wurzeln und Wachsen gut ein und verbinde dich auch in den kommenden Haltungen immer wieder damit. (5 Atemzüge, gerne auch länger)
2. Sukhasana (Einfache Sitzhaltung)
Richte deine Sitzhaltung so ein, dass du deine Wirbelsäule mühelos aufrichten kannst. Dabei helfen dir eine gefaltete Decke oder ein Sitzkissen. Spüre den Kontakt zum Boden und stimme dich auf deinen Atem ein, so wie er jetzt ist. (5 Atemzüge, gerne auch länger)
3. Selbstmassage
Kreuze deine Arme und greife mit den Händen fest in den jeweils gegenüberliegenden Arm. Bearbeite die gesamte Länge, von den Handgelenken bis zu den Schultern und wieder zurück. Nimm wahr, ob dieser Druck dein Gefühl von Erdung und einer schützenden Hülle verstärken kann. Spüre dabei auch zu deinem Atem hin. (2–3 Runden)
4. Seitbeuge
Verwurzle dich bewusst über die Sitzknochen, während du dich aus dieser geerdeten Position emporstreckst, einen Arm hebst und dich mit dem anderen abstützt. Erzwinge nichts und atme ganz bewusst und tief oder aber weich und spontan – je nachdem, was sich besser anfühlt. (3–5 Atemzüge, gerne auch länger, danach Seitenwechsel)
5. Janu Shirshasana (Kopf-Knie-Haltung)
Strecke ein Bein nach vorne aus und lege den Fuß des anderen an dessen Oberschenkel. Das gebeugte Knie kannst du mit einem Block stützen. Nutze einen Gurt, um die Wirbelsäule lang zu strecken, während du die Rückseite des ausgestreckten Beines dehnst. Atme und verbinde dich mit dem Boden, während du alle Empfindungen dieser Haltung deutlich wahrnimmst. (3–5 Atemzüge, gerne auch länger, danach Seitenwechsel)
6. Halt spüren
Lege dich auf den Rücken, stelle die Füße an und lege deine Hände auf Brust und Bauch (oder wo immer sie sich am besten anfühlen). Spüre deutlich alle Stellen deines Körpers, die den Boden berühren. Nimm wahr, wie du getragen bist und lass diesen Halt bewusst zu. (5 Atemzüge, gerne auch länger)
7. Supta Matsyendrasana (Drehung in Rückenlage, Krokodil)
Klemme einen Block zwischen deine Knie, versetze das Becken etwas zur Seite und lass deine Knie in die entgegengesetzte Richtung sinken. Finde eine angenehme Position für deine Arme und den Kopf. (3–5 Atemzüge, gerne auch länger, danach Seitenwechsel)
8. Agnistambhasana (Knöchel-auf-Knie, doppelte Taube)
Setze dich behutsam wieder auf und nähere dich dieser Haltung (Agnistambhasana) langsam und vorsichtig: Ein Unterschenkel liegt quer vor dir, den anderen bewegst du von außen nach und nach Richtung Mitte. Ein zwischen die Beine geschobener Block unterstützt dich. Halte da inne, wo du eine deutliche Dehnung spürst, und versuche, deine Körperempfindungen wahrzunehmen, ohne sie zu bewerten. (5 Atemzüge, gerne auch länger, danach Seitenwechsel)
9. Balasana (Stellung des Kindes, Variation)
Schieb dein Becken aus dem Vierfüßlerstand nach hinten zu den Fersen. Dabei kannst du dich anders als in der klassischen Balasana-Haltung auf die Unterarme stützen und den Kopf gehoben halten, wenn sich das besser anfühlt. Spüre auch hier wieder den Bodenkontakt, die Atmung und die körperlichen und emotionalen Empfindungen. Bleib, solange du magst.
10. Tadasana (Berghaltung)
Richte dich langsam und achtsam wieder zum Stehen auf, erde dich durch deine Füße und erinnere dich an den Anfang der Praxis, an das Wurzeln und Wachsen: Kannst du eine Veränderung wahrnehmen? (3–5 Atemzüge, gerne auch länger)
11. Atmender Berg
Stelle die Füße etwas breiter auf und beuge leicht deine Knie, bevor du beginnst, Arme und Oberkörper rhythmisch zu bewegen: Breite sie, so weit und hoch es sich gut anfühlt, zu den Seiten aus und verschränke sie dann in einer leichten Vorwärtsbeuge vor dem Körper. Versuche, die Bewegung mit dem Atem zu verbinden: Einatmend breitest du dich aus, ausatmend ziehst du dich zusammen. (3–5 Atemzüge, gerne auch länger)
12. Hoher Ausfallschritt
Setze einen Fuß nach hinten und beuge beide Beine. Du solltest dich möglichst geerdet und gehalten fühlen. Aktiviere deine Körpermitte und strecke die Wirbelsäule lang. Wähle dabei die Intensität der Haltung (High Lunge) so, dass du bequem atmen kannst. (3–4 Atemzüge, gerne auch länger, danach Seitenwechsel)
13. Utkatasana (Stehende Hocke, Stuhl)
Stelle die Füße wieder in hüftbreiten Abstand und verwurzle dich am Boden. Dann beugst du die Knie und kommst in eine Hocke (Utkatasana). Wieder kommt der Halt aus deiner Mitte. Wähle für die Arme eine Position, in der der Nacken lang und entspannt bleiben kann. Bleibe bis zu 8 Atemzüge lang in der Haltung, aber löse dich aus ihr, sobald es zu intensiv wird.
14. Brett (Phalakasana)
Beuge dich nach vorn, setze die Hände schulterbreit auf und wandere mit den Füßen nach hinten, bis dein Körper eine Ebene bildet, alternativ kannst du die Knie auch am Boden ablegen. Drücke dich von den Händen aus kraftvoll ab und spüre, wie die Muskeln in deiner Körpermitte arbeiten, um dich zu stabilisieren (Bretthaltung). (2–4 Atemzüge)
15. Bhujangasana (Kobra)
Leg dich flach auf den Bauch und platziere deine Hände unter deinen Schultern. Spüre deine Beinvorderseiten und Fußoberseiten deutlich am Boden, wenn du nun einatmend Kopf, Brust und Schultergürtel in die Kobra hebst und ausatmend wieder senkst. (3 Wiederholungen)
16. Vierfüßler
Schiebe dich aus der Kobra in den Vierfüßlerstand. Spüre deine Hände am Boden und halte die zentrierenden Muskeln in deiner Körpermitte leicht aktiv. Was passiert in deinem Geist? Beobachte beim Üben immer auch deine Gedanken. Wenn sie unfreundlich sind, versuche sie vom Bewerten in Richtung Neugier zu bewegen. (3 Atemzüge, gerne auch länger)
17. Anjaneyasana (Tiefer Ausfallschritt, Variation)
Ziehe aus dem Vierfüßler einen Fuß nach vorn und lass das Becken nur so weit sinken, bis du die Dehnung in einem oder beiden Oberschenkeln spürst (Anjaneyasana). Achte wieder auf eine gute Erdung und Stabilität in der unteren Körperhälfte und deiner Mitte. Dabei hilft dir vielleicht auch die gezeigte Armhaltung. (3 Atemzüge, gerne länger, danach Seitenwechsel)
18. Brett (Phalakasana)
Wenn du die Bretthaltung (Übung 14) als zentrierend und stabilisierend empfunden hast, dann komm noch einmal für einige Atemzüge zu ihr zurück. Strecke die Fersen nach hinten und finde den Halt in deiner Mitte.
19. Adho Mukha Shvanasana (herabschauender Hund)
Verwurzle deine Hände bewusst am Boden, bevor du aus dem Vierfüßler heraus die Knie hebst und das Becken nach oben in den herabschauenden Hund schiebst. Lass deine Knie durchlässig und halte die Oberschenkel aktiv, während du zugleich möglichst viel Gewicht von den Händen auf die Beine verlagerst, sodass sich die Wirbelsäule lang streckt. Konzentriere dich auf deine Erdung durch Arme und Beine und den Halt der Mitte. (3–4 Atemzüge oder solange es sich gut anfühlt)
20. Virabhadrasana 2 (Heldenhaltung 2)
Ruhe dich nach dem Hund vielleicht kurz in der Stellung des Kindes aus. Dann kommst du wieder zum Stehen in einer weiten Schrittstellung. Beuge das vordere Knie bis höchstens 90 Grad und drehe es nach außen. Halte das hintere Bein kraftvoll gestreckt und aktiviere auch hier etwas deine Körpermitte. Die Arme sind sanft auf Schulterhöhe ausgebreitet (Krieger 2). Probiere, was dir in dieser Haltung Raum zum Wachsen und Atmen schenkt. (3–5 Atemzüge)
21. Ausschütteln
Federe aus einem stabilen Stand heraus kraftvoll in deinen Füßen und Beinen und lass alle Anspannung los. Stelle dir vor, wie du deinen Stress jetzt einfach abschüttelst. (1–2 Minuten)
22. Tadasana (Berghaltung)
Finde nach dem dynamischen Schütteln wieder in ein ruhiges Stehen zurück. Lege dabei eine Hand an die Brust und die andere auf den Bauch. Spüre den Boden unter deinen Füßen und finde deinen Atem. (Bleib, solange du magst.)
23. Abschlussentspannung
Finde eine wirklich angenehme Haltung für deine Entspannung: auf dem Rücken, dem Bauch oder wie hier gezeigt auf der Seite – so, wie du dich am besten getragen und gestützt fühlst. Du kannst die Augen schließen oder sanft geöffnet halten, je nachdem, was beruhigender für dich ist. (Bleib, solange du magst.)
Trauma, Somatics, Embodiment und soziale Gerechtigkeit im Yoga bilden seit nahezu 20 Jahren den Schwerpunkt von Hala Khouris Arbeit. Erfahre mehr unter halakhouri.com