Yoga verspricht Transformation und inneres Wachstum. Aber hält es dieses Versprechen auch dann, wenn das Leben mal nicht in ruhigen Bahnen verläuft, sondern eher einer stürmischen See gleicht? Kann die Praxis helfen, Krisen nicht nur zu überstehen, sondern produktiv zu nutzen?
Text: Stephanie Schauenburg, Christina Raftery / Titelbild: Engin Akyurt via Pexel
Wenn die gewohnten Problemlösungsstrategien nicht mehr greifen, verengt sich die Wahrnehmung, man schwankt zwischen Panik, Wut und Hilflosigkeit. Man schläft schlecht, ist anfällig für Krankheiten und kann das Karussell beängstigender Gedanken kaum noch stoppen – geschweige denn umsichtig handeln. Plötzlich packen einen Emotionen, die man vorher nicht kannte oder niemals zugelassen hätte. Depression, Aggression, Selbsthass, Verzweiflung.
Auch wenn Krisen sehr verschiedene Gesichter haben, eines ist ihnen allen gemein: Sie gehen vorbei. Die griechische Wurzel des Wortes “Krisis” bedeutet “Entscheidung” und so definiert sich auch die Krise als eine entscheidende Wendung, als ein Höhe- oder Wendepunkt, an dem sich eine schwierige Lage auf die eine oder andere Weise auflöst. Am besten natürlich in einer Entwicklung zum Guten. So gesehen stimmt das berühmte Zitat von Max Frisch: “Krise kann ein produktiver Zustand sein. Man muss ihr nur den Beigeschmack der Katastrophe nehmen.”
Aber was kann man tun, damit eine Krise tatsächlich produktiv und transformierend ist und eben nicht in eine Katastrophe mündet? Ist Yoga eine Hilfe? Können Menschen, die Yoga praktizieren, besser durch Krisen manövrieren? Shivakami Bretz sagt: “Ja, davon bin ich überzeugt.” Die Heilpraktikerin für Psychotherapie hat bei Yoga Vidya den Bereich Psychologische Yogatherapie aufgebaut und leitet dort seit vielen Jahren Ausbildungen und Workshops zu diesem Thema. In ihren Augen enthält eine ganzheitliche Yogapraxis aus Hatha (körperlichem Üben), Kundalini (Energiearbeit), Karma und Bhakti (spirituelle Dimension), Raja und Jnana Yoga (ethisch-geistigem Weg) alle wesentlichen Elemente, um Selbstliebe, Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein zu entwicklen und einen Menschen innerlich frei zu machen.
Wenn ich mich unter befreundeten Yogi*nis umhöre, sind die Meinungen über die Wirksamkeit von Yoga eher geteilt. Nicole glaubt, dass sie es ohne Yoga niemals geschafft hätte, ihr Herz offen zu halten und sich ihren Problemen so zu stellen, dass wirkliches Wachstum möglich wurde. Erst seit sie auf ihrem Yogaweg ist, gelingt es ihr, einen freundlichen, mitfühlenden Blick auf ihre schwierige Familie zu werfen und ihren eigenen Weg zu finden. Steffi meint dagegen, dass ihr die regelmäßige Asana-Praxis während ihrer beruflichen Krise zwar Halt geboten hat, trotzdem war Yoga für sie keine Lösung: “Dieses große Aha-Erlebnis, von dem alle sprechen, habe ich nie erlebt. Für mich waren andere Dinge viel entscheidender als Yoga.”
Manchmal kann Yoga in Zeiten der Krise sogar problematisch sein. Dann nämlich, wenn die Idealvorstellung von tiefenentspannten, über den Dingen stehenden Yogi*nis im deutlichen Widerspruch zum eigenen Gefühlschaos steht. In diesem Spannungsfeld bringt Yoga nicht unbedingt Entlastung, es erzeugt eher zusätzlichen Druck. “Warum haut dich das jetzt so um”, wird man dann gefragt, “du machst doch Yoga, du müsstest doch gelassen damit umgehen können?” Vor allem als Yogalehrer*in kann man seinen Schülern oft nur schwer vermitteln, dass man innerlich vielleicht nicht ganz so frei und geläutert ist, wie man es dem Klischee zufolge nach jahrelanger Praxis sein müsste. Dass es einem schlecht geht, dass man schlingert und hadert und womöglich nicht ohne Weiteres in der Lage ist, sein Problem ruckzuck in persönliches Wachstum umzumünzen.
Auch deshalb ist es so wichtig, Yoga immer wieder aus dem unseligen Kontext der Selbstoptimierung herauszulösen. Ja, es geht um Transformation, aber nicht um Perfektion. Wir üben im Yoga Akzeptanz, Geduld und Selbsterkenntnis. Dahinter steht jedoch gerade kein Zwang, gelassener, gesünder und glücklicher sein zu müssen. Auch für einen Yogi ist das Leben nicht immer leicht – und kann es auch nicht sein. Leid und Schmerz sind Tatsachen, unausweichliche Bestandteile des Lebens. Wir müssen damit umgehen. Dieses Umgehen mit dem Leben üben wir im Yoga auf vielfältige Weise. Dennoch “imprägniert” uns auch eine ernsthafte, hingebungsvolle Praxis nicht zwangsläufig gegen kleine und großen Krisen. Je mutiger wir dieser Tatsache ins Auge sehen, desto besser wird es uns gelingen, im Spiegel unserer Krisen und Dramen zu erkennen, wer wir eigentlich sind. Auf diese Weise wachsen wir dem eigentlichen Ziel von Yoga entgegen: der Entfaltung von Bewusstsein.
Wie Yoga hilft
Auch wenn es falsch wäre, Yoga auf ein Instrument der Selbsthilfe zu reduzieren: Die Praxis kann helfen, sich besser für Krisen zu wappnen und geschmeidiger durch sie hindurch zu manövrieren. Dafür bietet die Praxis sehr konkrete Unterstützung – und das auf mehreren Ebenen:
1. Bewegung
Sportwissenschaftler und Psychologen sind sich seit langem einig: Körperliche Bewegung baut Stress ab und hellt die Stimmung auf. Neueren Studien zufolge wirkt Bewegung wie ein natürliches Antidepressivum. Für Yoga gilt das offenbar in noch höherem Maß als für sportliche Betätigung. Laut einer 2017 im Journal of Alternative and Complementary Medicine erschienenen Studie kann eine Kombination aus Asana und Pranayama die Beschwerden der Major-Depression nicht nur lindern, sondern sogar fast zum Verschwinden bringen. Nach einem 12-wöchigen Programm mit je drei 90-minütigen Unterrichtseinheiten plus viermal wöchentlich 30 Minuten Home Practice sank der individuelle Index der Beschwerden im Schnitt von 24,6 Punkten auf 6 – und damit unter die Schwelle der Depression (8 Punkte).
Ähnliche Effekte sind sicher auch in Lebenskrisen denkbar. Die Wirkweisen, die dem zugrunde liegen, hat auch jeder gesunde Yogi schon am eigenen Leib erfahren. Etwa dass ein stabiler und flexibler Körper auch mental stabiler und anpassungsfähiger macht. Die inzwischen auch wissenschaftlich anerkannte Tatsache, dass Emotionen nicht nur im Gehirn, sondern im gesamten Körper “stattfinden” und “gespeichert” werden, ermöglicht es umgekehrt auch, über den Körper die Psyche anzusprechen. Wir spüren das, wenn wir uns in Stehhaltungen erden und stabilisieren, wenn Rückbeugen das Herz öffnen oder wenn wir in Vorwärtsbeugen Hingabe üben. Das in der Asana-Praxis verfeinerte Gefühl für diese Verbindung von Körper und Geist hilft, sich auch in Alltagssituationen achtsamer zu bewegen und buchstäblich bewusster “durchs Leben zu gehen”.
2. Entspannung
Nicht umsonst zählen die deutschen Krankenkassen Yogakurse innerhalb ihrer Präventionsangebote zum Bereich “Entspannung”. Neben der Linderung von Rückenschmerzen ist Entspannung der bekannteste und am besten belegte Effekt der Praxis. Der große Vorteil von Yoga im Vergleich zu reinen Entspannungstechniken ist seine Ganzheitlichkeit: Muskeln, Faszien, Organe, Nerven, Atem und Geist – im Yoga lernen wir Entspannung auf allen Ebenen. Dabei spielt die Verbindung von Atemlenkung, Bewegung und Konzentration eine entscheidende Rolle. Der Yogalehrer Patrick Broome (siehe unten) sagt:
“Ein unruhiger Verstand ist immer von einem unruhigen Atem begleitet. Aus dieser Erkenntnis wächst die Idee, dass wir ruhiger werden, wenn wir ruhiger und weniger atmen. Im Yoga nutzen wir sorgfältig die Mechanismen der Anatomie, um den Atem zu bewegen und damit eine beruhigende und klärende Wirkung auf unseren Verstand auszuüben. Richtig angewendet können Atem, Bewegung und Bewusstheit Körper und Verstand in einen entspannten Zustand zurückversetzen.”
Dieser Zustand ist eine wichtige Voraussetzung, um auch in Krisen Klarheit und Halt zu finden und handlungsfähig zu bleiben.
3. Selbsterforschung
Selbsterforschung beginnt im Yoga schon damit, dass man dem Widerstand, den man einer bestimmten Asana gegenüber vielleicht empfindet, nicht einfach nachgibt, sondern sich für ihn interessiert: Warum sträubt sich alles in mir, minutenlang in Pashchimottanasana zu verharren? Umgekehrt beobachten wir auch unsere freudigen Reaktionen: Wie feuert mich das Lob meiner Lehrerin an? Was fördert meine Konzentration? Jede einzelne Übung – sei es nun Asana, Pranayama oder Meditation – bietet Gelegenheit, sich selbst zu begegnen. Dabei erkennt man mit der Zeit, wie sich gedankliche Bewertungen über die eigentliche Empfindung legen, wie bestimmte Denkmuster uns steuern und welche dieser Muster uns wie stark prägen. Im Raja Yoga, dem klassischen Yoga auf Grundlage von Patanjalis Yogasutra, spielt diese Selbsterforschung eine zentrale Rolle. Was erzeugt Leid? Wo verstricke ich mich? Wie kann ich mich aus festgefahrenen Verhaltensmustern befreien?
Auch die anderen großen Traditionen der Yogaphilosophie fordern uns auf verschiedene Weise auf, uns selbst besser kennenzulernen: Bhakti Yoga öffnet das Herz, fördert Hingabe und Urvertrauen. Karma Yoga lehrt, egoistische Begrenzungen fallen zu lassen und Erfüllung im selbstlosen Dienen zu finden. Und im Jnana Yoga nutzen wir den Intellekt, um den wichtigen Lebensfragen auf den Grund zu gehen. All diese Wege haben ein gemeinsames Ziel: Sie fördern über den Weg der Selbsterforschung Akzeptanz und Achtsamkeit, sie machen uns offener und durchlässiger und sie verhelfen uns zu mehr Selbstliebe und Bewusstsein – alles wichtige Elemente, um sich in Krisen nicht zu verschließen, sondern sich mit mutigem Herzen für Veränderung und Wachstum zu öffnen.
4. Sinngebung
“Warum ich?” “Warum ausgerechnet jetzt?” Häufig ist die Sinnfrage eines der quälendsten Elemente einer Krise. Umgekehrt gilt aber auch, dass Antworten auf diese Fragen entscheidend dazu beitragen, an einer Krise nicht zu zerbrechen, sondern zu wachsen. Auch Shivakami Bretz von Yoga Vidya ist überzeugt: “Die Sinnfrage ist ein wichtiger Aspekt. Wenn man versteht, dass man aus allem lernen kann, wenn man die größeren Zusammenhänge sieht und erkennt, dass man selbst sein Schicksal beeinflussen kann, anstatt ihm ausgeliefert zu sein, dann kann sich das in einer Krise sehr entlastend auswirken.”
Diese Grundhaltung des “Aus-allem-Lernens” ist einer der Grundpfeiler der Yogapraxis: Nicht umsonst sind gerade diejenigen Yogastunden die kostbarsten, in denen wir das Gefühl haben, etwas gelernt oder erfahren zu haben – sei es nun ein kleines Detail oder eine tiefe Erkenntnis. Zu den elementarsten Erfahrungen gehört dabei das Gefühl des Verbunden- oder Angebundenseins, das Yoga ja schon im Namen trägt. Nicht selten erlebt man diese Verbundenheit mit etwas Größerem, zutiefst Sinnhaftem schon in einfachen Asanas, erst recht aber in den subtileren Praktiken wie Pranayama, Meditation, Mantra oder der energetischen Arbeit mit Chakras, Vayus und Koshas.
Ob man dieses Erleben nun religiös deutet, philosophisch oder psychologisch, ob man mit Dingen wie Karma und Reinkarnation etwas anfangen kann oder nicht, ob man von Gottvertrauen sprechen würde oder eher von Urvertrauen, ist nicht so entscheidend. Eine spirituelle, also geistige Ebene ist im Yoga auf die eine oder andere Art immer enthalten und in ihr liegt das Potenzial – und der Aufruf – zur Sinngebung.
“Manchmal wird am Ende nicht alles gut.”
Dr. Patrick Broome
Patrick Broome hat nie einen Hehl aus seinen persönlichen Krisen gemacht. Gerade weil er als prominenter Lehrer seit Jahren im Rampenlicht steht, ist es ihm wichtig, klarzumachen, dass Yoga kein Allheilmittel ist – aber eine kraftvolle Medizin.
“Seit nun fast 30 Jahren bewahrt mich Yoga davor, endgültig durchzudrehen. Es hat mir immer geholfen, mich durch die eine oder andere persönliche, gesundheitliche und beziehungstechnische Krise zu navigieren. Es hat mich dabei weder geheilt, noch heiliger werden lassen, aber zuverlässig immer wieder im richtigen Augenblick geerdet, beruhigt und mir Kraft gegeben, die Schritte zu machen, die nötig waren, um mich aus dem Schlamassel rauszuholen. Der Überlieferung nach ist Yoga gerade aus dem Umstand entsprungen, dass eben nicht immer alles gut ist oder am Ende immer gut wird. Yogis fanden Wege, den eigenen Verstand so zu fokussieren, dass sie ruhig und gelassen handeln konnten, fast unabhängig von äußeren Umständen, inneren Sorgen, persönlichen oder gesellschaftlichen Krisen. Tiefer, gleichmäßiger Atem hilft, den inneren Dialog zu verlangsamen. Das genügt erst mal, um den Raum zu schaffen, in dem wir wachsen können. Raum, um klare Gedanken zu fassen und achtsam und bewusst mit unserer Umwelt zu interagieren. Für uns moderne Menschen ist bewusste Atemkontrolle vielleicht das beste Instrument, um die Gedanken zu beruhigen, Stress zu reduzieren und zunehmende Klarheit und Stabilität im Denken zu erzielen. Falls wir in Krisen dennoch verzweifeln, lehrt uns der indische Mystiker Osho drei einfache Regeln: entspannt sein, wach sein und nicht urteilen. Um dort anzukommen, nutzen wir die Stufen des achtsamen Wandels: Problem erkennen, Problem annehmen, Problem erforschen und schließlich aufhören, uns über dieses Problem zu identifizieren. Nur wenn wir handlungsfähig bleiben, können wir aus der Krise schließlich hinauswachsen.”
Als Yogalehrer der deutschen Fußballnationalmannschaft ist PATRICK BROOME wohl einer der wenigen Yogis, die auch außerhalb der Yogawelt bekannt sind. Er betreibt in München seine Studios und bildet seit vielen Jahren Yogalehrer aus. patrickbroome.de
Podcast-Folge mit Dr. Patrick Broome
Prof. Michael Bordt und Yogalehrerin Patricia Thielemann über “Heilung”
Über das Thema “Krisenhelfer” und was uns in Krisen trägt, sprechen Philosophieprofessor und Jesuit Prof. Michael Bordt und Yogalehrerin Patricia Thielemann im Yoga Journal 06/2022, Titelthema “Heilung”. Mehr zum Heft und den Themen findest du hier.
Hervorragender Artikel! Danke ?