Selbst-Mitgefühl bringt dein wahres Ich zum Blühen

Du musst oder möchtest etwas in deinem Leben ändern? Dann ersetze doch mal nüchterne Disziplin durch Selbst-Mitgefühl. Denn Studien belegen, dass das die effektivere Strategie ist, um Verhaltensänderungen zu etablieren.

Jeder gute Vorsatz beginnt mit übersprudelnder Begeisterung. Du fühlst dich gut, wenn du Yoga übst, also schwörst du dir, ab sofort jeden Tag zu praktizieren. Oder du merkst, dass deine nachmittäglichen Kaffeepausen dir Energie rauben und willst sie komplett kappen. Wenn du dir selbst dieses Versprechen gibst, fühlst du dich fröhlich. Oder beschwingt und sogar verbunden mit deinem höheren Selbst. Du bist bereit, deiner Sehnsucht nach Gesundheit und Glück Raum zu geben, und tief im Inneren weißt du auch: Du bist der Herausforderung gewachsen.

Selbstzweifel durch “Versagen”

Doch wenn dieser anfängliche Enthusiasmus nachlässt und du den ersten Rückfall erleidest (die verführerische Latte Macchiato, die verpasste Yogastunde …), dann meldet sich dein innerer Kritiker zu Wort: “Was läuft falsch mit dir? Warum bekommst du diese einfache, kleine Veränderung nicht hin?” Die Stimme wird lauter und gemeiner, und bald schleichen sich Selbstzweifel ein. Möglicherweise bekämpfst du sie, indem du dir noch strengere Ziele setzt. Vielleicht sagst du dir aber auch, dass der Vorsatz eigentlich doch nicht so wichtig gewesen sei. So oder so schwindet deine Begeisterung und – zack! – kehrst du zurück zu deinen alten Gewohnheiten.

Glücklicherweise zeigt Yoga dir noch einen anderen Weg, mit dem du dein Leben in eine neue, positive Richtung lenken kannst: Selbst-Mitgefühl. Eine der Botschaften aus der wichtigsten Schrift des Yoga, dem Yogasutra von Patanjali, lautet: Menschen wandeln sich nicht über Nacht, aber es ist durchaus möglich, negative Verhaltensmuster nach und nach abzulegen. Wenn du milde mit dir selbst bist und Verständnis für deine Rückfälle aufbringst, kannst du dein Leben verbessern. Neuere wissenschaftliche Studien untermauern diese alte Weisheit. Sie zeigen, dass Selbst-Mitgefühl die größte Kraftquelle ist, wenn es darum geht, gute Vorsätze in die Tat umzusetzen.

Dein inneres Licht

Wenn es also kontraproduktiv ist, hart zu sich selbst zu sein, warum bist du es? Kate Holcombe, die Gründerin der Healing Yoga Foundation in San Francisco, erklärt, dass der kritisch-harte Weg mit uns Selbst mit “Avidya” zusammenhängt. Holcombe übersetzt den von Patanjali geprägten Begriff mit “falschem Verstehen”, was häufig von Selbstverurteilung, Angst, Scham und Schuldgefühlen begleitet wird. Das Problem dabei sei häufig, dass man das Verhalten, das man ändern wolle, mit der eigenen Person gleichsetzt. Stattdessen sollte man es als das sehen, was es ist: eine Angewohnheit oder ein Verhaltensmuster, das einem nicht gut tut.

“Ein Grundprinzip des Yoga besagt, dass du tief in dir bereits absolut perfekt bist, so wie du bist”, fasst Holcombe zusammen. Wenn du dir daher bewusst machst, dass du im Grunde bereits makellos bist, anstatt dich auf deine vermeintlichen Makel zu konzentrieren, kannst du deine negativen Angewohnheiten betrachten, ohne dich zu verurteilen. “Patanjali sagt, dass das Gehirn wie eine Art Juwel ist, wie ein Diamant. Im Laufe eines Lebens wird dieser Diamant schmutzig und staubig, er wir überzogen von antrainierten Denkweisen und Erfahrungen.”

“So verblasst nach und nach sein Glanz und wir verlieren den Zugang zu unserem inneren Licht. Wir können uns nicht einmal erinnern, dass es einmal da war.” Yoga ist ein Weg, diesen “Gedankenstaub” quasi wegzuwischen und alles, was deinen inneren Diamanten am Strahlen hindert, aus dem Weg zu räumen. Also den Teil deines Wesens, der nicht repariert, kontrolliert oder perfektioniert werden muss. Selbst-Mitgefühl zu entwickeln, entspricht dieser Art von Reinigung und bringt dein bereits “richtiges” Ich zum Vorschein.

Änderung zum Guten

Schon seit Jahrtausenden widmen sich Yogaübende dem Selbst-Mitgefühl, doch Psychologen haben gerade erst begonnen, die Weisheit dieser Herangehensweise zu erforschen. Ein erstes Ergebnis gibt es aber bereits: Selbst-Mitgefühl verbessert die Chancen, seinem Leben eine positive Wende zu geben, ganz erheblich. Eine der weltweit führenden Wissenschaftlerinnen auf diesem Gebiet ist Kristin Neff, Lehrbeauftragte für Persönlichkeitsentwicklung an der University of Texas. Sie erklärt: “Eine Haupterkenntnis aus meinen Forschungen ist: Menschen denken, es sei gut, ein wenig Mitgefühl mit sich selbst zu haben, aber bloß nicht zu viel. Es gibt einen starken Glauben daran, dass Selbstkritik wichtig ist, um uns zu motivieren. Nach dem Motto: Wenn ich nicht hart zu mir selbst bin, bedeutet das, dass ich mir alles durchgehen lasse.” Das, so Neff, sei ein gewaltiges Missverständnis.

Denn Selbst-Mitgefühl bedeute, freundlich und unterstützend auf eigene Schwächen, Herausforderungen und Rückfälle zu reagieren. “Selbst-Mitgefühl geht noch tiefer als Selbst-Akzeptanz”, erklärt sie. “Es beinhaltet ein aktives Sich-Kümmern, das Beste für sich selbst zu wollen und sich zu sagen: Ich will meine Wunden heilen, gesund und glücklich sein. Und das bedeutet eben manchmal, dass eine Änderung des Lebensstils nötig ist.” Es ist Erfolg versprechender, den guten Vorsatz als Akt der Selbstliebe zu sehen, anstatt sich durch Ärger und Ablehnung zu motivieren.

Selbstmitleid ist nicht Selbst-Mitgefühl

Neff führt weiter aus, dass manche Menschen Selbst-Mitgefühl mit Selbstmitleid verwechseln. Damit, sich hängen zu lassen und keine Verantwortung zu übernehmen. Dabei sei Forschungen zufolge das Gegenteil wahr: In einer fünfteiligen Studienreihe (Journal of Personality and Social Psychology, 2007) sollten Teilnehmer auf reale, erinnerte und imaginierte Fehler reagieren. In jedem Szenario ließen sich die Teilnehmer, die in Neffs Test einen höheren Selbst-Mitgefühl-Wert erreicht hatten, von Fehlern weniger leicht aus der Ruhe bringen. Sie waren außerdem weniger defensiv und eher bereit, die Verantwortung für die Ergebnisse ihres Handelns zu übernehmen. Anders als die, welche hart mit sich ins Gericht gingen. Neffs Forschungen haben ergeben, dass selbstkritische Menschen Fehl- und Rückschlägen gegenüber empfindlicher reagieren und anfälliger für Ängste und Depressionen sind. Sie behandeln sich so, wie sie niemals einen Menschen, den sie lieben, behandeln würden: Sie bestrafen sich für jede Schwäche und halten sich von dem ab was sie wirklich wollen.

Selbst-Mitgefühl dagegen schafft eine unterstützende, emotionale Grundhaltung, die Veränderungen möglich macht. Ohne Scham, Schuldgefühle und Selbstzweifel kann man seine Entscheidungen viel bewusster und klarer treffen. Das ultimative Ziel von Yoga ist es, in seinem wahren Ich, fern von allem Leiden, ein Zuhause zu finden. Doch diesen Punkt zu erreichen ist nach Patanjali ein weiter Weg. Die Reise besteht aus kleinen Schritten des Selbst-Mitgefühls, die du in deine achtsame Yogapraxis und in dein Leben integrieren kannst.

Innere Zeugenbefragung

Maggie Juliano, die Inhaberin von Sprout Yoga in Pennsylvania, leitet Yogalehrer-Kurse, die sich auf Erholung und psychische Gesundheit konzentrieren. Zudem hat sie sich darauf spezialisiert, Menschen beim Ablegen selbstzerstörerischer Verhaltensweisen zu helfen. Seien es nun Junk-Food-Orgien oder Drogenmissbrauch. Ihrer Meinung nach ist es wichtig, zunächst den Blickwinkel auf das ungesunde Muster zu ändern. Man sollte es als ein Symptom sehen, unter dem man leidet, anstatt als schlechten Teil seines Selbst, den es zu reparieren gilt.

“Wenn wir zu viel essen oder Geld ausgeben, dann halten wir uns selbst in gewisser Weise für schlecht“, erklärt Juliano. “Wir realisieren nicht, dass wir leiden, weil wir unsere Traurigkeit mit Essen oder Shopping bekämpfen. Wir denken: Ich fühle mich schlecht, weil ich schlecht bin. Ich habe keine Selbst-Kontrolle.” Allzu oft entsteht so ein Teufelskreis und wir kehren zu unseren alten Tröstern (der Eiscreme, Couch oder Kreditkarte) zurück, weil sie (zumindest kurzfristig) unsere Seelenruhe fördern.

Fragen, was dahinter steckt

Anstatt uns selbst zu kritisieren, so Juliano, sollten wir erkennen, dass wir an der falschen Stelle nach Glück im Jetzt gesucht haben. Wenn es gelingt, das eigene Sein vom eigenen Verhalten zu trennen, dann sei es leichter, sich zu fragen: “Welches Bedürfnis wollte ich hiermit erfüllen?” In anderen Worten: Warum wolltest du das nächste Glas Wein, den dritten Donut oder dieses Paar Schuhe? Willst du Stress bekämpfen oder fürchtest du die Einsamkeit? Was steckt wirklich dahinter, wenn du auf der Couch bleibst und Erledigungen wieder aufschiebst?

Laut Juliano ist es wichtig, auf die eigenen Gefühle zu achten, statt sie ständig beiseite zu schieben. Wenn du wieder in die Versuchung kommst, in eine schlechte Gewohnheit zurückzufallen, nutzt du das, um sie noch geduldiger und liebevoller zu untersuchen. Dies wird dir helfen, weise Entscheidungen zu treffen, die dir wirklich gut tun.

Positiv denken

Anstelle von Selbstkritik solltest du eine positive Motivation finden, rät Juliano. “Erinnere dich daran, dass du bedingungslose Liebe verdienst. Dass du es wert bist, nicht zu leiden. Aus diesem Blickwinkel heraus kannst du jede Veränderung angehen: Ich ändere dieses Verhalten, weil ich ein gesünderes, glücklicheres Leben verdiene.

Ihrer Ansicht nach ist die Yogamatte ein guter Ort, um damit zu beginnen. Auch hier meldet sich oft genug unser innerer Kritiker. Julianos Rat: Achte in solchen Momenten darauf, wie du dich fühlst – psychisch und physisch. Und dann wählst du eine mitfühlendere “Antwort” auf diese Emotionen. Wenn du dich zum Beispiel schimpfst, weil du für eine bestimmte Asana nicht flexibel genug bist? Erinnere dich daran, dass genau diese Asana dir dabei hilft, deine Flexibilität nach und nach zu verbessern. Es geht nicht darum, die Haltung über Nacht perfekt zu beherrschen. Einfach achtsam in der Pose zu bleiben, ist genug. Wenn du dich bei dem Gedanken erwischst: “Ich muss mehr in diese Asana gehen oder sie besser aussehen lassen!” Frage dich stattdessen: “Fühlt sie sich gut an? Fühle ich mich darin sicher? Was kann ich tun, um sie mehr zu genießen?”

Diese Denkweise kommt dir auch außerhalb der Matte zugute. Wenn du vor der Wahl zwischen Standhaftigkeit und altem Verhaltensmuster stehst, dann achte darauf, wie du diese Entscheidung innerlich diskutierst. Nein zu dem Stück Schokoladenkuchen zu sagen oder früh aufzustehen, um zu meditieren, ist kein Akt der Selbstverleugnung! Es bedeutet, dass du dich um sich selbst kümmerst. Sei stolz auf deine positive Entscheidung und du stellst fest, wie kleine Schritte mit der Zeit zu großen Erfolgen führen.

Ausrutscher und Rückfälle

Wenn wir Schwierigkeiten haben, einen guten Vorsatz in die Tat umzusetzen, sind wir schnell versucht, das als Beweis dafür zu sehen, dass mit uns etwas nicht stimmt. Doch wie Patanjali ausführt, leidet jeder auf seinem Weg der Selbst-Transformation und macht dabei Fehler. Das bedeutet nicht, dich jedes Mal abzukanzeln, wenn du zum Beispiel eine morgendliche Yogastunde verpasst. Oder in deiner Partnerschaft  die Geduld verlierst oder mal eine riesige Schüssel Eiscreme verputzt. “Wenn du dich fragst: Warum ich? oder Wieso bin ich so blöd?, vermehrst du nur dein Leiden. Besser ist es, den Fehler als Chance zu sehen. Als Chance, daraus zu lernen.”

Studien bestätigen, dass achtsame Selbstreflexion helfen kann, positive Veränderungen zu bewirken, während zu große Selbstkritik einen kleineren Ausrutscher oft zu einem größeren Rückfall werden lässt. Von Oh nein, ich habe meine Kreditkarte benutzt! ist es dann nur noch ein kurzer Weg zu Jetzt habe ich meinen Vorsatz schon gebrochen, dann kommt es auf dieses 300-Euro-Kleid auch nicht mehr an. Ich habe heute kein Yoga geübt wird zu Ich werde niemals eine passionierte Yogini werden, also kann ich den Kurs gleich aufgeben.”

Dieses Phänomen ist so gängig, dass Wissenschaftler ihm sogar einen Namen gegeben haben: den “What-the-hell”-, also “Was zur Hölle”-Effekt. Das Problem ist nicht der einzelne Fehler, sondern das Elend, das man daraus macht. Das führt dazu, dass wir genau in dem Verhalten Trost suchen, das wir eigentlich ändern wollten. Oder dass wir ein Ziel aufgeben, damit wir uns nicht schlecht fühlen müssen, wenn wir auf dem Weg dorthin Fehler machen. Fehlerhaft ist fabelhaft! Studien haben ergeben, dass deine Erfolgschancen größer sind, wenn du dich erst mal so akzeptierst, wie du bist – und dir Ausrutscher verzeihst. Selbst-Mitgefühl bedeutet, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen, ohne die üblichen Schuldgefühle auszulösen. Im Gegenteil, es gibt dir die Kraft, dich um dich selbst zu kümmern. Auch dann, wenn alte Versuchungen locken. 

Die Antwort der Yogaphilosophie

In der Bhagavad Gita, einer der Heiligen Schriften des Yoga, findet man einen Rat, wie man an Vorsätzen festhält, auch wenn die Fortschritte alles andere als groß sind: Am Rande einer Schlacht überwältigen Furcht und Verwirrung den Protagonisten. Der Krieger und Sinnsucher namens Arjuna verliert seine Kampfeslust und bittet Krishna um Unterstützung. In dem darauffolgenden Monolog lehrt Krishna Arjuna, sein Selbstvertrauen und seine Entschlossenheit zurückzugewinnen. Er “umarmt” und verinnerlicht sozusagen die Taten, die er auszuführen hat. “Taten, die der wahren Natur eines Menschen entspringen, sollten nicht aufgegeben werden, auch wenn sie Schuld beinhalten. Denn jede Unternehmung ist auch durchzogen von etwas Schuld, so wie es kein Feuer ohne Rauch gibt.”

Der Yogalehrer und Psychologe Rolf Sovik, spiritueller Leiter des Himalayan Institute, erklärt: “Tief innen sind selbst die Taten, denen die besten Vorsätzen zugrunde liegen, niemals perfekt. Das heißt aber nicht, dass du aufgeben solltest! Die Bhagavad Gita besagt, dass, wenn du dich den Taten widmest, für die du bestimmt bist, du toleranter gegenüber deinen Unperfektheiten sein wirst. Schritt für Schritt wirst du bemerken, wie dein Verstand klarer und dein Herz ruhiger wird. Mitgefühl ist in diesem Zusammenhang weniger eine psychologische Strategie als das natürliche Ergebnis des Strebens nach einem höheren Selbst.”

Was also ist die Kernaussage von all dem?

Wenn du ein bestimmtes Verhalten ändern möchtest, tue das mit Selbst-Mitgefühl. Bei jedem deiner Schritte, auch dann, wenn du aufgeben willst, denke stets daran, dass die Kraft für Veränderung einem liebevollen Umgang mit sich selbst entspringt. Wie Holcombe beobachtet: “Wir alle besitzen eine innere Quelle voller Weisheit, Widerstandsfähigkeit und Kraft, einen Ort voller innerem Frieden und Leichtigkeit, von großer Freude und Licht. Wenn wir mit dieser Quelle verbunden sind, dann haben Selbstzweifel keine Chance. Tief im Inneren wissen wir, wer wir sind und was wir tun sollten.” Yoga kann dir helfen, diesen Ort zu finden. Und Selbstliebe ebenfalls.


Kelly McGonigal ist promovierte Psychologin, Professorin und Yogalehrerin. Ihr Buch “Glücksfaktor Stress: Warum Stress uns erfolgreich und gesund macht” ist bei Trias erhältlich.

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