Yogastudios geschlossen, Kurse gecancelt oder im Streaming? Jetzt wäre viel Zeit, um zu Hause zu üben – aber was und wie? In diesem Beitrag erfährst du, was eine runde Home Practice ausmacht, wie du sie nach deinen Bedürfnissen gestaltest – und wie du dabei vielleicht viel tiefer in Yoga eintauchst als bisher.
Was ist die schwierigste Yogahaltung, die du beherrschst? Krähe? Freier Handstand? Taube? Die Antworten auf diese Frage fallen sicher verschieden aus. Aber fast alle Übenden dürften sich einig sein: Die allergrößte Herausforderung besteht darin, sich eine eigene Praxis aufzubauen. Das hat verschiedene Gründe: Für Neulinge ist es oft schwierig, sich die Haltungen aus dem Unterricht in Erinnerung zu rufen. Erfahrenere Yogis stehen eher vor dem Problem, welche Schwerpunkte sie setzen und wie sie diese Intentionen in einer stimmigen Sequenzen umsetzen können. Selbst Yogalehrende und Übende mit jahrzehntelanger Praxis haben manchmal Schwierigkeiten, ihre Home Practice lebendig zu halten, zumal wenn ihnen Krankheiten, Alltagsstress und allzu eingefahrene Übungsroutinen in die Quere kommen. Denn für sie alle gilt: Ist die Praxis nicht gut aufgebaut und abgerundet, dann kann sie auf Dauer nicht tragen.
Die Kunst der eigenen Yoga-Praxis
Eine große Hilfe sind da natürlich fertige Sequenzen, vor allem solche für bestimmte Bedürfnisse. Manche Yogastile, etwa Ashtanga, Kundalini oder Sivananda arbeiten sehr viel mit solchen festen Programmen. Bei anderen verläuft jede Stunde ein bisschen anders – und diese Freiheit kann ein großer Schatz sein, wenn man mit ihr umgehen kann. Dafür braucht man ein bisschen Zeit und Engagement, viel Forscherdrang, Intuition aber auch ein gewisses Maß an Grundwissen. In diesem Beitrag erfährst du, wie auch dir eine runde eigene Praxis aufbauen und individuelle Sequenzen erstellen kannst.
Die Praxis planen
Eine befriedigende Praxis, der du dich gerne und mit Begeisterung widmest, basiert auf 2 Fragen:
1.Was brauche ich gerade wirklich?
Nur wenn das, was du übst, ausdrückt was in diesem Moment in dir lebendig ist, wirst du während der Praxis wirklich präsent bleiben können – und am nächsten Tag freudig wieder auf die Matte kommen. Übst du nur, weil du es dir vorgenommen hast, wird selbst die technisch ausgefeilteste Praxis nicht auf Dauer nähren und befriedigen.
2.Nach welchen Prinzipien wird eine Sequenz aufgebaut?
Dazu muss man etwas genauer wissen, welche Typen von Asanas es gibt, wie sie körperlich und mental wirken und wie sie sich gegenseitig beeinflussen. Dieses wissen erlaubt es dann, einzelne Asanas zu einer stimmigen Sequenz anzuordnen.
Wir wirken Asanas?
Das kann man zwar in Büchern und unserem Asana-Finder nachlesen, aber viel nachhaltiger lernst du es, indem du es für dich selbst herausfindest. Eine gute Methode ist dabei, die Pose länger zu halten als gewohnt. Auf diese Weise spürst du deutlich, dass eine bestimmte Rückbeuge deine Arme ermüdet. Daraus kannst du folgern, dass du in der nächsten Zeit verstärkt Übungen zur Armkräftigung einbaust. Außerdem würdest du im Anschluss an diese Rückbeuge keine Asanas einplanen, die deine müden Arme zusätzlich fordern.
Die zweite Möglichkeit ist, sich nach dem Üben einer Haltung einen Moment still hinzulegen, die Augen zu schließen und genau nachzuspüren, welche Empfindungen die Asanas in Körper und Geist geweckt haben. Je klarer dir die Effekte sind, desto besser verstehst du, wo und wie genau du eine Haltung in deine Praxis einbaust – und was dir dabei guttut.
7 Grundtypen von Asanas
- Stehhaltungen
Prinzip: das Körpergewicht lastet auf den Füßen.
Beispiele: Trikonasana (Gestreckte Winkelhaltung), die verschiedenen Variationen von Virabhadrasana (Held der Krieger); Vrikonasana (Baum)
Themen: Stabilität, Aktivierung, Aufrichtung, Beinkräftigung und -dehnung, Piana wird stimuliert - Armgestützte Haltungen
Prinzip: Der Großteil oder das gesamte Körpergewicht lastet auf Händen und Armen.
Beispiel: Bakasana (Krähe), Tittibhasana (Feuerfliege), Vasisthasana (seitliches Brett), Brett, Chaturanga Dandasana (viergliedrige Stabhaltung)
Themen: Selbstvertrauen, Gleichgewicht und Stabilität aus der Körpermitte, Arm-und Oberkörperkräftigung - Umkehrhaltungen
Prinzip: Das Becken steht höher als Herz und Kopf.
Beispiele: Sarvangasana (Schulterstand), Shirshasana (Kopfstand), Adhoc Mukha Vrikshasana (Handstand), Pincha Mayurasana (Unterarmstand)
Themen: Aktivierung und Ausgleich, Gleichgewicht, Stabilität aus der Körpermitte, erhöhten Apana - Rückbeugen
Prinzip: Die Wirbelsäule streckt oder wölbt sich nach hinten.
Beispiele: Bhujangasana (Kobra), Shalabhasana (Heuschrecke), Urdhva Mukha Shavasana (aufschauender Hund), Dhanurasana (Bogen), Eka Pada Kapotasana (Taube), Matsyrasana (Fisch)
Themen: Herzöffnung, Mobilisierung der Wirbelsäule - Drehhaltungen
Prinzip: Die Wirbelsäule dreht sich und die eigene Achse.
Beispiele: Matsyendrasana (Drehsitz des Matsyendra), Bharadvajasana (Drehsitz des Bharadvja), Makarasana (Krokodil), Meerjungfrau
Themen: Flexibilität Lateralität und Mitte, Mobilisierung der Wirbelsäule - Vorwärtsbeugen und Sitzhaltungen
Prinzip: Oberkörper und Oberschenkel nähern sich einander an.
Beispiele: Pashchimittanasana (Vorwärtsbeuge aus dem Langsitz), Janu Shirshasana (Kopf-Kniw-Haltung), Supta Padangushthasana (Hand-Zeh-Haltung in Rücklage), Baddha Konasana (gebundene Winkelhaltung), Padmasana (Lotos)
Themen: Hingabe, Beruhigung, Dehnung der Körperrückseite, dämpfen Piana und Apana - Entspannungshaltungen
Prinzip: Hier wirkt Schwerkraft statt Muskelaktivität.
Beispiele: Shavasana (Totenstellung), Sputa Baddha Konasana (gebundene Winkelhaltung in Rücklage)
Themen: Loslassen, Regenerieren, Integrieren, dämpfen Piana und Apana
Deine persönliche Basis-Sequenz
Auftakt Ein guter Einstieg für eine ausgewogene Asana-Praxis sind kraftvolle, wärmende Bewegungen mit großem Radius. Das perfekte Beispiel dafür ist Surya Namaskar, der Sonnengruß.
Praxis Eine runde Basis-Sequenz setzt erst mal keine besonderen Schwerpunkte, sondern zielt darauf ab, die Wirbelsäule in alle Richtungen zu bewegen und dabei in gleichem Maß Kraft, Beweglichkeit und Gleichgewicht zu fördern. Deshalb sollte so eine Sequenz mindestens ein bis zwei Asanas von jedem Typ enthalten. Besonders für Einsteiger ist es dabei hilfreich die 7 Asana-Typen in einer systematischen Reihenfolge zu üben. Allen Sequenzen gemein ist ein sinnvoller Spannungsbogen: Zu Beginn binden kraftvolle Asanas die oft noch flüchtige Aufmerksamkeit und aktivieren große Muskelgruppen. Nach innen gekehrte Sitzhaltungen bieten sich dagegen eher zum Ende der Praxis an, wenn der Geist schon ruhiger und der Körper flexibler und entspannter ist.
Ausklang Die Endentspannung mit ein bis zwei regenerativen Haltungen ist ein Muss: Nur so haben Körper und Geist Gelegenheit, die während der Praxis gewonnenen neuen Informationen zu verarbeiten. Die Dauer dafür hängt von der Dauer der Praxis ab. Faustregel: mindestens 10 Prozent der Übungsdauer, aber gerne auch länger: 15 bis 20 Minuten stilles Liegen senken das Stresslevel auf allen Ebenen.
Muster für eine 20-Minuten-Sequenz
1. Surya Namaskar (Sonnengruß)
2. Adho Mukha Shvanasana (herabschauender Hund)
3. Utthita Trikonasana (gestrecktes Dreieck)
4. Bhujangasana (Kobra)
5. Salamba Sarvangasana (gestützter Schulterstand) oder Setu Bandha Sarvangasana (Schulterbrücke)
6. Janu Shirshasana (Kopf-Knie-Haltung)
7. Pashchimottanasana (Vorwärtsbeuge aus dem Langsitz)
8. Shavasana (Endentspannung im Liegen)
Spielen und Verfeinern
Ausgehend von einer Basis-Sequenz, mit der du gut klarkommst und die in sich stimmig ist, kannst du deine Praxis dann ausbauen und variieren…
• … indem du bestimmte Ziele formulierst, auf die du hinarbeiten willst (z.B. an bestimmten Asanas arbeiten, die dir bisher schwer fallen).
• … indem du für die Wochentage verschiedene Schwerpunkte setzt (z.B. Montag, Mittwoch, Freitag mehr kraftvolle Stehhaltungen und Armbalancen; Dienstag, Donnerstag, Samstag mehr ruhige Sitzhaltungen, Drehungen und Vorwärtsbeugen).
- … indem du zwischen deiner Basis-Sequenz und vertiefenden Sequenzen zu einzelnen Asana-Typen hin und her wechselst.
- … indem du dich eine Zeitlang einer bestimmten Körperregion intensiver zuwendest (z.B. Armkräftigung, Hüftmobilisierung oder Herzöffnung).
4 Quick Tips für deine Praxis
Lasse dir Zeit: Spüre die deutlichen und die subtilen Wirkungen einer Haltung, bevor du zur nächsten übergehst. Was folgt logisch und stimmig aus diesen Wirkungen? Zu welcher Art von Bewegung zieht es dich als nächstes? Brauchst du vielleicht eine fein dosierte Gegenbewegung, bevor du mit etwas anderem weitermachst?
• Achte auf den Energiefluss: Nach yogischer Vorstellung gibt es zwei Hauptenergien: das den Oberkörper regierende, aufstrebende, aktivierende Prana und das die untere Körperhälfte prägende, erdende Apana. Welche Energie ist im Moment in dir vorherrschend? Um besser in die Balance zu kommen, kannst du die Praxis entsprechend anpassen: Fühlst du dich zum Beispiel dumpf und lustlos, solltest du versuchen, Prana zu fördern. Bist du dagegen nervös und zerstreut, arbeitest du in Richtung Apana.
• Pranayama und Dhyana: Atemübungen und Meditation sind wichtige Bestandteile einer ganzheitlichen Praxis. Manche Schulen üben sie im Anschluss an die Asanas, andere eher zuvor. Beides hat seine Vorzüge: Nach der körperlichen Praxis bist du meist entspannt und kannst müheloser sitzen und dich auf diese subtilen Praktiken einlassen. Umgekehrt steigst du schon viel bewusster und feiner in die Asana-Praxis ein, wenn du Atem und Geist zuvor harmonisiert hast.
• Ein Übungstagebuch, in dem du deine Sequenzen, Eindrücke und Erfahrungen festhältst, hilft, mit der Zeit immer genauer herauszufinden, was dir wann und warum gut tut – und worauf es in Zukunft vielleicht noch ankommt.