Mark Stephens gilt seit einigen Jahren international als einer der profiliertesten Yogalehrer und Ausbilder. Nicht umsonst nennt man ihn den “Lehrer der Lehrer”. In dieser Artikelreihe erklärt er YOGA JOURNAL Deutschland, was guten Yogaunterricht inklusive Stundenaufbau und Übungsbogen wirklich ausmacht. Heute teilt er mit uns, was er mit Yogalehrer im Inneren meint.
Der beste Yogalehrer, den man je finden kann, befindet sich im eigenen Inneren. Mit jedem Atemzug, jeder Empfindung und jedem Gedanken leitet dieser innere Lehrer unsere Praxis. Die Lehren dieses ultimativen Lehrers zu entdecken und zu würdigen, ist nach meiner Erfahrung das Herzstück einer nachhaltigen und tief transformativen Praxis.
Allerdings steht diese Einstellung im Widerspruch zur traditionellen Sichtweise. Nach der hat ein hingebungsvoller Schüler die Lehren seines allwissenden Gurus gehorsam aufzunehmen. Natürlich kann die Zuwendung eines Gurus oder Lehrers, der auf Fragen eine Antwort hat, sehr wohltuend sein. So erklärte eine Schülerin von Paramahansa Yogananda einmal, dass man auf diese Weise endlich “aufhört immer wieder neue Wege zu suchen. Man kann von ganzem Herzen einen Weg verfolgen, weil man darauf vertraut, dass der Guru einen zum höchsten Ziel des Yoga führt.”
Es spricht aber auch manches gegen eine solche Sichtweise. Joel Kramer und Diana Alstad beschreiben in ihrem Buch “Die Guru Papers. Masken der Macht“, wie problematisch es sein kann, sich einem äußeren Lehrer hinzugeben. Vor allem dann, wenn sich dieser Lehrer als Scharlatan erweist, oder wenn er oder sie seine Macht missbraucht. Der englische Historiker und Publizist Lord Dalberg-Acton warnte schon im 19. Jahrhundert: “Macht neigt dazu zu korrumpieren und absolute Macht korrumpiert absolut.”
Wie also kann man im Rahmen einer gesunden und freien Weltanschauung auf dem Yogaweg Unterstützung und Anleitung finden? Und worin besteht dabei die Rolle eines Yogalehrers? Um diese Fragen zu beantworten, will ich zunächst einen Blick auf die Praxis selbst werfen.
Die Yogapraxis
Ein wichtiger Teil dessen, was Yoga so großartig macht, ist die Tatsache, dass es unendlich viele Möglichkeiten für die eigene Praxis gibt. So können wir alle genau da beginnen, wo wir gerade stehen. Und eben nicht da, wo jemand anderes oder wir selbst fälschlicherweise meinen, dass wir stünden. Beim Üben begegnen wir verschiedensten Asanas und werden mit zahllosen von ihnen hervorgerufenen Empfindungen konfrontiert.
Wenn wir Yoga üben, dann atmen wir bewusst und tief. Wir nutzen den Atem, um eine Asana zu entdecken. Dadurch erwecken wir Bewusstheit im Körper und im Geist. Sie öffnet uns dafür, umfassender zu spüren und alle die Empfindungen jeden Augenblick klarer wahrzunehmen. Das wiederum verleiht uns die Fähigkeit, Bewegung und Haltung so zu verfeinern, dass sie selbst stabiler und müheloser werden. Wie es Patanjalis Yogasutra beschreibt: “sthira sukham asanam”. Die Asana sei stabil und leicht zugleich.
In diesem Tanz des Körper-Geists mit dem Atem zeigt jede Asana bestimmte Empfindungen. Wir beobachten, wie sie nicht nur körperliche, sondern auch verschiedene emotionale und mentale Reaktionen hervorruft. Genauso hat jede Asana die Tendenz, die Atmung beim Yoga auf verschiedene Weise zu beeinflussen. Wenn wir bei der Wahrnehmung der Atmung im Körper-Geist bleiben, können wir den Atem gezielt zu verspannten oder blockierten Regionen lenken. Wir lösen sie und entwickeln bewusstere Wahrnehmung. Dadurch erfahren wir von innen heraus, wie sich Körper, emotionales Fühlen und mentale Achtsamkeit allmählich verändern.
Außerdem wollen wir weiter zu erforschen, wie wir uns verfeinern und wohin wir unsere Energie und unser Handeln richten. In der Kommunikation zwischen Körper-Geist und Asana entscheiden wir bewusst über Abwandlungen, Intenstität, Reihenfolge, Tempo und Dauer. Mit jeder Praxis entwickeln wir so unser Üben ein Stück weiter in Richtung Innen. Darin besteht die grundlegende Praxis, das Herzstück des Asana-Yoga. Es ist ein Erwachen und Integrieren. Wir können mit verschiedenen einfachen Atemübungen, Positionen und Visualisierungen spielen, eine Vielzahl von Effekten erforschen, unsere Reaktionen beobachten, dem inneren Dialog lauschen. Dabei entdecken wir einen zunehmend klarer werdenden Spiegel, der uns zeigt, wie wir immer mehr und immer bewusster der- oder diejenige werden, die wir eigentlich sind.
Die Rolle des Yogalehrers im Inneren
Die wichtigste Rolle für den Yogalehrer besteht darin, auf dem Yogaweg anzuleiten, dass die Schüler diesen inneren Lehrer entdecken und würdigen. Dafür sollten Lehrer ihren Schülern zuhören, ihre besonderen Bedürfnisse zu verstehen und ihre Intentionen respektieren. Bezogen auf den Unterricht brauchen Yogalehrer im Inneren Kenntnis über praktische funktionale Anatomie und Bewegungslehre. Sie sind die Basis für eine gute Ausrichtung in den Haltungen, für Modifikationen, Hilfsmitteleinsatz, Übergänge zwischen einzelnen Asanas und für das Entwerfen von Stunden.
Sofern man Pranayama unterrichtet, sollte man aus eigener Erfahrung die körperliche und energetischen Qualitäten jeder einzelnen Atemtechnik kennen. Auf dieser Grundlage verfolgt man im Aufbau der Pranayama-Einheiten “Vinyasa Krama” – das kluge Fortschreiten. Wenn es im Unterricht Raum für das Gehirn beeinflussende Meditation gibt, dann machen wir als Lehrer unsere eigene Präsenz auf eine Weise zur Quelle des Lichts. Worte werden überflüssig für die Teilnehmenden ist erfahrbar, dass wir alle Teil eines großen Ganzen sind.
Der Unterricht erhält Kraft und Bedeutung durch die räumliche Umgebung, die Ausstrahlung des Lehrers und den Spannungsbogen der Stunde. Als Lehrer können wir unsere Einsichten über Yoga und das Leben mit unseren Schülern teilen. Dabei ist es wichtig, dass es unter den Schülern einer jeden Klasse unterschiedliche Lernweisen gibt. Manche lernen gut über verbale Anweisungen, während andere ein visuelles Vorbild brauchen. Wieder andere brauchen eher Hands-on Assists spüren, um es vollständig zu erfassen. Dieses gesamte Spektrum sollte in jeder Yogastunde zum Einsatz kommen, damit das Lernen konzeptuelle, emotionale, körperliche und spirituelle Dimensionen umfasst.
Menschen unterrichten, nicht Haltungen
Die besondere Kombination von Lehrmethoden und Techniken, die man als Lehrer einsetzt, sollte immer die persönlichen Empfindungen und Einstellungen widerspiegeln. Als Yogalehrer im Inneren sollten wir nicht Haltungen unterrichten, denn sie sind nichts anderes als statische Repräsentationen einer idealisierten Form, etwas, das Models für die Kamera ausführen, um eine äußerliche Botschaft zu vermitteln.
Im Gegensatz dazu sind echte Asanas lebendig und persönlich. Sie sind der Ausdruck organischer Menschen, die sich ausprobieren, die leben, atmen und sich im Tempel ihres Körper-Geists entfalten möchten. Wenn man einen Schüler mit der Weisheit des eigenen Herzens schätzt, nimmt man ganz selbstverständlich auch die innere ganz eigene Schönheit wahr, die sich in seiner Praxis ausdrückt. Aus dieser Haltung heraus wird man als Lehrer natürlicher und gibt seinen Schülern den nötigen Raum, um in der Fülle ihrer eigenen Praxis aufzublühen. Selbst dann, wenn alle Kenntnisse, die man vielleicht haben mag, auf nichts anderes angewendet werden als auf die Architektur, den Ausdruck und die Stimmung einzelner Asanas, wie sie in einzigartiger und wunderschöner Weise bei jedem einzelnen Schüler zum Vorschein kommen.
Indem man sich seinen Schülern aus dieser Haltung heraus nähert, versetzt man sie in die Lage, genau so tief in die Übung zu gehen, wie es für sie in diesem Moment richtig und angemessen ist. Zugleich klärt es das Lehrer-Schüler-Verhältnis und fördert ein Erleben der Yogapraxis zum Herzöffnen. In der Beziehung zu seinen Schülern bemühen sich Yogalehrer um das soziale Miteinander, was ein integraler Bestandteil der Yogapraxis ist. In einer solchen Beziehung werden Schüler und Lehrer gleichermaßen transformiert. Der Lehrer bleibt immer Schüler und der Schüler stimmt sich immer tiefer auf seinen eigenen inneren Lehrer ein.
An alle zukünftigen Yogalehrer
“Wir können nicht anders
als unsere Macht gebrauchen.
Können nicht der Versuchung widerstehen,
der Welt unseren Stempel aufzudrücken.
Deshalb lasst uns
in der Wahl unserer Worte
und widersprüchlich wie wir sind
all unsere Macht für die Liebe nutzen.”
-Martin Buber
Für einen guten Yogalehrer im Inneren werden das eigene Lernen und die eigene Entwicklung niemals aufhören. Je weiter man als Lehrer in seiner Yogalehrer Ausbildung, seinem Lernen und seiner Erfahrung voranschreitet, desto deutlicher wird einem bewusst, dass es noch mehr Wissen und Weisheit gibt, das man in die Praxis einbringen kann. Atemzug für Atemzug atmen wir mit unseren Schülern, damit sie ihren eigenen inneren Lehrer entdecken und würdigen. So wird Yoga persönlicher, nachhaltiger und tief transformierend.
Mark Stephens hat bereits mehrere internationale Bestseller über den Yogaunterricht geschrieben. Sein neuestes Lehrbuch über Yogatherapie mit dem Schwerpunkt “Schlaf” erschien 2019 im Riva-Verlag. Er lebt in Kalifornien und unterrichtet weltweit, häufig in Deutschland, Österreich und der Schweiz. markstephensyoga.com
Wunderbar beschrieben, inspirierend, Dankeschön!