Prana, Tejas und Ojas – die Schlüssel zu natürlicher Schönheit

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Die Lehre des Ayurveda bleibt nicht bei Ernährung und Gesundheit stehen: Sie hat auch einiges über Schönheit zu sagen – und auch hier ist es die Balance verschiedener Energien, die dich zum Strahlen bringen kann. Wir verraten, wie Ayurveda dir zu natürlicher Schönheit von innen verhilft.

Text: Kate O’Donnell / Fotos: Eugene Zhyvchik via Unsplash

Großmutters Rezept “Wahre Schönheit kommt von innen” mag in Zeiten von Botox-Behandlungen, Filler-Spritzen und Hyaluron-Cremes etwas antiquiert klingen, aber es stimmt noch immer: Was uns wirklich den viel beschworenen “Glow” verleiht, lässt sich nicht auf Spritzen ziehen und in Tuben pressen. Ausstrahlung hat – wie das Wort schon sagt – sehr viel mit Energie zu tun.

Laut Ayurveda liegt der Schlüssel für eine schöne Ausstrahlung in der Balance aus drei energetischen Qualitäten: Prana, Tejas und Ojas. Genau wie die ayurvedischen Doshas (Vata, Pitta, Kapha), als deren verfeinerte, energetische Essenzen sie gelten, existieren auch diese drei in jedem von uns gleichzeitig und fördern sich gegenseitig – darin liegt das Geheimnis eines lang anhaltenden Wohlbefindens. Dabei bringen Prana (Lebenskraft) und Tejas (Leuchtkraft) gemeinsam Ojas (innere Nahrung) hervor. In der Balance aller drei finden wir zu Gesundheit, wahrer Schönheit und einem langen Leben. Aber werfen wir mal einen genaueren Blick darauf:

Prana – die primäre Lebensenergie

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Die Konzentration auf den Atem beruhigt laut Ayureda nicht nur Geist und Sinne, sie nährt auch das Herz.

Prana ist – im Ayurveda genau wie im Yoga – die Bezeichnung für die primäre Lebensenergie. Weil es wie Luft von Bewegung gekennzeichnet ist, gilt Prana im Ayurveda zudem als das subtile Gegenstück zu Vata, dem Luftelement. Prana und Vata arbeiten dabei im Tandem: Sie zirkulieren durch den Körper, getragen von den Strömungen des Vata und gelenkt von etwas, das man vielleicht am ehesten “Aufmerksamkeitbewegungen” nennen könnte, also über die Tätigkeit des Geistes und der fünf Sinne. Eine Vata-Imbalance kann auch Prana beeinträchtigen: In der für unsere Zeit typischen Geschäftigkeit passiert es ziemlich leicht, dass wir die Verbindung zu den Bewegungen unserer Lebensenergie und unserer lenkenden Aufmerksamkeit verlieren. Deswegen ist ein ruhiges, stetiges Bemühen um Aufmerksamkeit, wie wir es aus der Meditation üben, eine gute Sache für Prana.

Wird die rhythmische Zirkulation von Prana und Vata nämlich unterbrochen, dann führt das nicht selten zu körperlichen Symptomen, etwa Arteriosklerose oder fest sitzenden Blähungen. Die Ursachen für so eine Unterbrechung sind häufig psychisch: chronischer Stress, Ängste, Trauer oder generell eine mangelnde Verbundenheit mit dem eigenen Körper (Stichwort: Leben vor dem Bildschirm), sie alle können sich negativ auf Prana auswirken. Damit die Lebensenergie ungestört zirkulieren kann, muss man sie also sorgsam kultivieren. Moderates Training, die richtigen Nährstoffe, Ruhe, gute Gesellschaft und Selbstliebe sind dabei wichtige Bausteine. Sie helfen uns vor allem auch dabei, die fünf Sinne zu beruhigen, denn die spielen im Zusammenhang mit Stress und Ängsten eine entscheidende Rolle.

Lies auch: Die 4-7-8-Atmung gegen Ängste und Schlafstörungen

Darauf macht schon der klassische ayurvedische Text Charaka Samhita aufmerksam. Der Hintergrund: Unsere Sinne sind eng mit dem Überlebensinstinkt verbunden. Sie helfen uns, wachsam zu sein und Gefahren zu erkennen. Ständig auf uns einströmende Sinnesreize und eine entsprechende mentale Aktivität erzeugen aber einen Sog nach außen, der das Nervensystem übermäßig stimuliert. Schafft man hier keinen energetischen Ausgleich, dann führt das zu Überreizung, Ermüdung und Energiemangel. Dem kann man mit regelmäßiger Selbstfürsorge begegnen. Ihr Ziel: die Sinne schonen und Prana nähren. Neben einer gesunden Ernährung ist dabei der Atem besonders wichtig. Der Prana-Kanal beginnt nämlich nach ayurvedischer Vorstellung an den Nasenlöchern und führt zum Herzen, wo sein eigentlicher Sitz ist. Die Konzentration auf den Atem beruhigt laut Ayureda nicht nur Geist und Sinne, sie nährt auch das Herz. Eine einfache, sehr effektive Art, Vata und Prana durch rhythmisches Atmen auszubalancieren, ist folgende Übung:

Praxis-Tipp: Sama Vritti Pranayama

  1. Finde in eine für dich bequeme Sitzhaltung und stelle den Timer auf 5 Minuten ein.
  2. Schließe die Augen und stimme dich 3 Atemzüge lang auf deine Atmung ein.
  3. Bei der nächsten Einatmung zähle langsam auf 4.
  4. Dann atme langsam und vollständig aus und zähle auch dabei auf 4.

In diesem Rhythmus atme konzentriert weiter: ein auf 4, aus auf 4. Es kann eine Weile dauern, bis Ein- und Ausatmung wirklich gleich lang werden. Erzwinge nichts, das würde nur zu mehr Stress führen, sondern atme möglichst ruhig und leicht und beobachte einfach, was passiert, bis der Timer losgeht. Sobald dir die Übung leichter fällt, kannst du die Zeit steigern. Je entspannter und länger du diese rhythmische Atmung übst, desto stabiler und ausgeglichener wirst du dich fühlen.

Probiere doch auch mal dieses Rezept: Vata ausgleichende Suppe

Tejas – die glimmende Glut

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Pitta bringt Körper als auch Geist zum Leuchten.

Tejas kann man sich in etwa so vorstellen wie eine glimmende Glut: Auch nachdem das Feuer erloschen ist, geht von ihr noch lange eine gleichmäßige Energie aus. Das Feuerelement heißt im Ayurveda Pitta Dosha und der subtile energetische Aspekt eines gut balancierten Pitta ist Tejas. In der menschlichen Konstitution regelt Pitta alles, was feurig ist, vor allem die Verdauung von Nahrung und Informationen. So bringt es sowohl Körper als auch Geist zum Leuchten. Wenn von jemandem gesagt wird, er oder sie sei “brillant” oder habe “Glow”, dann ist Tejas am Werk: Es gibt uns körperliche Kraft, bringt die Haut zum Strahlen, lässt die Augen leuchten und macht das Denken scharf. So hilft es uns, die Welt klarer wahrzunehmen, denn in einem gut balancierten Zustand durchbricht Tejas Verblendung und mentale Nebel und bringt das wahre Selbst zum Vorschein.

Um diese Glut zu nähren, brauchen wir einen sauber verbrennenden Kraftstoff (also reines, nährstoffreiches und mit Liebe zubereitetes Essen), achtsame, in aller Ruhe genossene Mahlzeiten und genügend Zeit und Muße, um auch Erlebnisse, Erfahrungen und Emotionen gründlich zu verdauen. Genau aus diesem Grund haben Menschen nach einem Retreat so einen besonderen Glanz um sich: Ruhe, Selbstfürsorge und Reflexion nähren Tejas. Um auch im Alltag seine innere Leuchtkraft zu erhalten, könnte die folgende Übung hilfreich sein:

Praxis-Tipp: Ruhe und Rückzug

Reserviere jeden Tag eine gewisse Zeit für dich und mache dir dafür über die Woche einen möglichst genauen Plan: Meditation, Pranayama, sanfte Asanas und Selbstmassagen können zum Beispiel darauf stehen. Ganz wichtig: Es bringt nichts, ab und an dicke Scheite aufs Feuer zu werfen. Damit überfordern wir unser System und erzeugen keine nachhaltige Glut. Stattdessen geht es um ein dauerhaftes Engagement und tägliche kleine Routinen, die die Glut warm und lebendig halten.

Sieh dir auch unser Video an: Pranayama für den Abend – runterkommen und entspannen

Ojas – der nährende Rahm des Körpers

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Ojas: so etwas wie ein Lebenselixier.

Anders als die subtilen Energien Prana und Tejas stellt man sich Ojas als eine Substanz vor: So wie der Rahm laut Ayurveda die Essenz der Milch ist, soll Ojas als verfeinertes Produkt der Verdauung entstehen, nachdem die sieben Dhatus (funktionalen Körpergewebe) genährt wurden. Die Charaka Samhita bezeichnet es daher als “den nährenden Rahm des Körpers”, “der alle lebenden Dinge erfrischt.” Es ist also so etwas wie der Lebenssaft, von dem die Rede ist, wenn es heißt, jemand sei “voll im Saft”. Schon um eine kleine Menge Ojas zu erzeugen, sind Unmengen an Essen und lange Zeiten des Verdauens nötig. Das liegt daran, dass nach ayurvedischer Vorstellung während des Stoffwechsels zunächst eine kleine Menge Ojas in eine erste Gewebeschicht gelangt, die dabei gekräftigt, vitalisiert und immunisiert wird. Nur was dort nicht gebraucht wird, geht weiter an die nächste Schicht.

Lies auch: So verhelfen Pro- und Präbiotika zu einem gesunden Darm

Es dauert 30 Tage, bis Ojas sämtliche sieben Schichten durchdrungen und genährt hat und seine feinste Endform erlangt. In dieser Form ist Ojas so etwas wie ein Lebenselixier. Verbrennen wir es, indem wir regelmäßig zu viel arbeiten oder trainieren, oder indem wir unseren Körper mit schlecht verdautem Essen belasten, dann wirkt sich das laut Ayurveda nicht nur auf Schönheit oder Gesundheit aus, es verkürzt sogar unsere Lebensdauer. Damit wir möglichst gut mit diesem Treibstoff für Vitalität und ein starkes Immunsystem versorgt sind, sollten wir also auf eine gesunde Ernährung und Verdauung achten und die Energieflüsse in Körper und Geist im Blick haben. Dabei ganz wichtig: regelmäßig genügend Ruhepausen. Wann immer du also bemerkst, dass deine Kraft nachlässt, bitte nicht einfach weitermachen nach dem Motto “geht schon!”. Ojas ist zu kostbar und zu wichtig, um einfach so herausgeblasen zu werden. Das folgende Rezept hilft dir, “den Rahm des Lebens” wiederherzustellen.

Praxis-Tipp: Ojas-Milch

Datteln, Mandeln und Kuhmilch werden im Ayurveda hoch geschätzt, denn die verschiedenen darin enthaltenen Nährstoffe sollen besonders geeignetsein, Ojas zu bilden (sofern du sie gut verdauen kannst). Am einfachsten bereitest du daraus im Mixer einen Smoothie zu. Diese Ojas-Milch soll tiefe Entspannung, Erholung und einen guten Schlaf fördern und dir helfen, deine Batterien wieder aufzuladen.


Autorin Kate O’Donnell ist Ayurveda-Expertin, Ashtanga-Yogalehrerin und Autorin einer Reihe von Ayurveda-Kochbüchern. Dieser Artikel basiert auf ihrem Buch “The Everyday Ayurveda Guide to Selfcare”. Mehr Info: www.kateodonnell.yoga

Dies.Das.Asanas mit Jelena Lieberberg – Spiel mit der Balance

Spiel mit der Balance

Keine komplizierte Verknotung, sondern lauter lange Linien und rechte Winkel: Hier zeigt uns unsere Asana-Kolumnistin mal wieder eine Hybrid-Asana, die zugleich ziemlich simpel und ganz schön kniffelig ist. Hauptsache: Der Spieltrieb ist geweckt!

Text: Jelena Lieberberg / Foto: Kata Gaál

Ab und zu mal nur auf einem Bein zu stehen, ist nicht nur Teil unserer Yogapraxis, etwa beim Baum, sondern auch Teil des gesunden Alterns: Wenn wir älter werden, gehen Körperbeherrschung und Muskelmasse zunehmend verloren. Ab der Lebensmitte büßen wir bis zu zwei Prozent der Skelettmuskelmasse pro Jahr ein. Unsere Muskulatur umschließt Knochen und Gelenke und die werden durch Druck und Zug ernährt – also durch Bewegung. Wer daher länger jung bleiben möchte, sollte weniger in Cremes und Co. investieren und mehr in Zeit für Bewegung. Damit erhalten wir nicht nur Muskulatur, wir trainieren bestenfalls auch Koordination und Körperbeherrschung.

Genau das versuchen wir auch mit dieser Hybrid-Asana: Neben der Kraft sind auch Balance und Körperbeherrschung gefragt, genau die Mischung also, die wir so dringend brauchen. Lange Linien und ein Gefühl dafür, wo wir uns im Raum befinden, machen diese Mischung aus Padanghushtasana (stehende Vorwärtsbeuge) und Ardha Chandrasana (Halbmond) so spannend. Schnapp dir deine Familie oder Freund*innen und probiert es aus: Wer von euch kann diese Balance länger halten? Dabei geht es natürlich weniger um einen Wettkampf als ums Spielen und den Spaß an der Bewegung.

Macht das Spaß?

Auf jeden Fall, denn wer rätselt denn nicht gerne? Diese Haltung ist so etwas wie ein Körper-Sudoku, bei dem du eine unbekannte Position, die sich wie leer oder neu anfühlt, mit Körperbewusstsein füllst. Auch all jene, denen es leicht fällt, im Baum auf einem Bein zu stehen, werden hier auf ihre Kosten kommen!

Muss ich das können?

Nein. Wie immer gilt: Einmal probieren ist keinmal. Es braucht schon etwas Übung. Versuche dich ruhig an beiden Seiten, um herauszufinden, welche Seite heute besser zugänglich ist.

Was muss ich dafür tun?

Wärme dich mit Sonnengrüßen, der stehenden Vorwärtsbeuge, Krieger 3 und der sitzenden Grätsche auf, um ein Gefühl für die Kraft der Beine zu entwickeln: Je wacher du bis in die kleinen Zehen bist, desto besser!

Dies.Das.Asanas. Spiel mit der Balance

Step by step

1. Beginne im Stehen mit den Händen an den Hüften. Löse deinen linken Fuß vom Boden und finde ins Gleichgewicht.

2. Lehne dich langsam nach vorne, während du gleichzeitig dein linkes Bein mit gestrecktem Fuß nach links zur Seite ausstreckst. Dabei dreht sich dein Oberkörper automatisch nach links.

3. Schaue nach unten und strecke den rechten Arm senkrecht in Richtung Boden. Vielleicht möchtest du die Hand oder die Fingerspitzen auf einem Block ankommen lassen. Breite dann den linken Arm möglichst senkrecht nach oben aus. Lasse dabei die Finger zusammen und die Handgelenke gestreckt.

4. Übe dich in Geduld und Fingerspitzengefühl. Erinnere dich daran, den Atem fließen zu lassen, anstatt ihn anzuhalten.

5. Nachdem du dich langsam wieder zum Stehen aufgerichtet hast, wiederholst du das Ganze auf der anderen Seite. Vermutlich wird sich eine Seite einfacher anfühlen als die andere. Schau liebevoll und spielerisch auf dich und diese Übung.


JELENA LIEBERBERG ist Osteopathin und Yogacoach in Berlin. Ihre eBooks, Retreats und Workshops findest du unter kickassyoga.com oder besuche Jelena auf Insta @kickassyoga.


Du möchtest noch mehr an deiner Balance arbeiten? Dann probier doch mal die Tip Toe Pose mit Jelena aus:

Jenseits der “perfekten” Asana – der Weg von Angela Farmer

Angela Farmer

“Yoga ist eine Reise in unsere Unterwelt.” Die Yogapionierin Angela Farmer war ursprünglich eine Schülerin Iyengars, bevor sie selbst Yoga aus dem Inneren heraus übte. Heute lebt Angela Farmer auf der griechischen Insel Lesbos und unterrichtet ihr einzigartiges Yoga weltweit. Hier teilt Angela Farmer ihren Yogaweg ganz unverblümt und unperfekt …

Titelbild: Elias Hassos

Soviel ich wusste, gab es im England der 1950er-Jahre niemanden, der Yoga unterrichtete. Das Wort “Yoga” wurde mit argwöhnischer Verachtung ausgesprochen. Denn es war mit Assoziationen wie “ein nackter Inder auf einem Nagelbett” oder stundenlangem Betrachten des eigenen Nabels verbunden. Als Teenager hatte ich in einem Buch von Aldous Huxley ein paar Zeilen über die Praxis gelesen, die mich neugierig gemacht hatten. Eine von ihnen lautete: “Der Lehrer erscheint, wenn der Schüler bereit ist.”

Und so wartete ich, studierte, reiste nach Griechenland und Ägypten und trat einer esoterischen Gemeinschaft in London bei. Ich war 28, als endlich meine erste Yogalehrerin auf der Bildfläche erschien, eine starke, mütterliche und freundliche Frau namens Diana Clifton, eine der ersten westlichen Schülerinnen von B. K. S. Iyengar. Wie eine durstige Pflanze sog ich dieses Yoga in mir auf, das mir auf uralte Weise vertraut erschien. Wir waren eine Gruppe von acht bis zehn Schülern und trafen uns einmal pro Woche in einem heruntergekommenen Keller im Nordwesten Londons. Nach ein paar Monaten sagte Diana, dass dies nur der Kindergarten sei und wir von ihrem Lehrer Iyengar lernen müssten.

Begegnung mit B.K.S. Iyengar

Als ich dann zu der Schule ging, wo der Workshop stattfinden sollte, kam ich an einem kleinen Inder vobei, der gerade einen Umschlag in einen roten “Royal Mail”-Briefkasten warf. Kurz danach saß ich mit etwa zwanzig ordentlich aufgereihten Schülern ganz hinten in der Schulturnhalle. Als eben dieser Mann in sehr kurzen Hosen erschien: B. K. S. Iyengar. Seine Präsenz und Energie erfüllte den ganzen Raum und seine kraftvolle Stimme schien von den Wänden widerzuhallen.

Wir dehnten uns nach vorne in Pashchimottanasana, als er mir eine Korrektur zubellte und ich mich sofort fragte: “Wie kann es sein, dass er zwischen all diesen Körpern nicht nur mich sieht, sondern auch mitbekommt, dass ein Bein nicht vollständig gestreckt ist?” Ich fühlte mich vollständig wahrgenommen, war durch und durch inspiriert. Zwei Jahre später, nachdem ich jeden Penny gespart und alles verkauft hatte, machte ich mich auf den Weg nach Indien. Die Projektionen auf einen großen Guru, die ich so ehrgeizig auf Iyengar übertragen hatte, verblassten bald. Es war eine harte Zeit, die mich auch durch private Verluste an meine körperlichen und emotionalen Grenzen führte. Ich begriff erst später, dass dieser Zustand von Verzweiflung und Leere das größtmögliche Geschenk für mich war.

Glaubenssätze und Traumata

Ein fester Glaubenssatz meiner Erziehung war gewesen, dass Männer privilegiert sind. Frauen müssten ihnen als gehorsame Ehefrauen, Töchter und Schülerinnen zu Diensten sein. Gott und die Propheten waren männliche Figuren. Einem männlichen Lehrer zu folgen, fühlte sich also sehr vertraut an. Der sensiblere, verletzte, angsterfüllte Teil von mir, der “weiblich” genannt wird, konnte sich stärker hinter einem dicken Schutzschuld von rigider Aktivität, Erfolg und Abgrenzung verstecken.

Meine Praxis war hart und mein innerer Kritiker streng und fordernd. Der Körper leidet unter frühen Traumata, chirurgischen Eingriffen und dem Fokus auf äußerer Ausrichtung, der wiederum Verletzungen bewirkte. Ich brauchte eine Alternative! Vielleicht führte mich noch härtere Arbeit dorthin? Ich praktizierte fast ununterbrochen. Bis ich eines Tages völlig erschöpft auf dem Boden lag und mir eingestehen musste, dass dieses Yoga innerlich nichts verändert hatte. Obwohl ich eine bekannte Yogapersönlichkeit geworden war, mich durch Unterricht finanzieren konnte, Artikel für Fachzeitschriften schrieb und auf dem Titel des amerikanischen Yoga Journal zu sehen war, plagten mich die alten Unsicherheiten, Ängste und Schamgefühle.

Freude an der Weiblichkeit

Auf dem Markt von Pune wurde mir deutlich, was ich in meiner Praxis und meinem Leben vermisste. Unten auf dem Boden saßen ein paar gut gelaunte, in farbenprächtige Saris gekleidete Frauen vor ihren Obst- und Gewürzstapeln. Sie wirkten so unangestrengt bei sich und ruhten mit Leichtigkeit in ihren Körpern, ruhig, stabil und flüssig in ihren Bewegungen. Atemlos stand ich da und bewunderte ihre Schönheit. “Das ist es, was ich will”, dachte ich. “Mich einfach in meinem Körper zuhause fühlen.” Etwas in mir war aufgewacht.

Das Problem war nur, dass ich nicht wusste, wie ich dorthin gelangen könnte. Der Wunsch war da nach einem Lehrer! Ich besuchte Patthabi Jois in Mysore und den Dalai Lama in Dharamsala, aber das wichtigste, lebensentscheidendste Erlebnis hatte ich an einem Tempel an der Ostküste des indischen Bundesstaats Odisha. Dort beobachte ich, wie die Sonne scheinbar aus dem Meer heraus aufging und die ersten Lichtstrahlen auf Wandskulpturen mit wunderschönen Göttinnen fielen. Mit ihren runden Brüsten und Bäuchen und ihrem seligen Gesichtsausdruck schienen sie mir voller Fülle und Anmut. Schlagartig wurde mir klar, dass ich jede Freude an meiner Weiblichkeit verloren hatte. In mir flüsterte eine Stimme: “Diese Frauen sind Yogis!” An diesem Wendepunkt meines Lebens begann meine Reise zurück zu mir selbst: Ich war bereit, mich meinem gebrochenen Körper zuzuwenden, ihn zu ehren und zu akzeptieren.

Besonders zu Beginn verlief die Entwicklung langsam, denn im Kopf hörte ich konstant die Stimme der Gurus. “Es ist eine Sünde, den Pfad zu verlassen. Für wen hältst du dich eigentlich? Du weißt nichts! Du wirst versagen und dich in falschen Lehren und Gefühlsduselei verstricken.” Trotzdem wusste ich jetzt, dass es auch eine andere Stimme gab. Ich hatte mein Leben lang auf sie gewartet habe, aber noch war sie zu schwach, um sich Gehör zu schaffen. Also wartete ich erneut.

Die eigene Praxis finden

Währenddessen veränderte sich meine Praxis. Ich verabschiedete mich vom Gedanken der “perfekten” Asana. Stattdessen hörte ich intensiv auf die Bedürfnisse meines Körpers. Ich ging in einer Haltung nur bis zur Schmerzgrenze, um das kennenzulernen, was blockiert, beschädigt, oder angsterfüllt war. Meine Asanas wurden flüssiger und kleine Bewegungen machten mit Hilfe des Atems Gelenke und Muskeln geschmeidiger. Ich nahm mir die Zeit, Variationen auszuprobieren, die nicht in Büchern beschrieben waren. Meine Praxis wurde zum Weg, Frieden und Freundschaft in meinem Körper zu finden. Die klassischen Haltungen interessierten mich nur noch als Ausgangspunkt für meine innere Entdeckungsreise und als Chance, an blockierteund versteckte Orte zu gelangen, wo sich alte Verletzungen verbargen.

Alles, was uns im Leben passiert, ist in unserem Körper gespeichert. Daher wird der Prozess des Entspannens, Zuhörens und Anerkennens unserer “inneren Stimmen” ein Weg, neue Verbindung mit ihm einzugehen. Das bedeutet nicht notwendigerweise, dass alles heilt. Für einen Yogi oder eine Yogini ist es ein wichtiger Schritt, die eigenen Schatten zu integrieren. Ohne Bedürfnis, sie überwinden oder verstecken zu müssen. “Das bin ich, und meine Yogapraxis hilft mir, mich als Ganzes zu sehen und zu lieben.”


Mehr zur Yogapionierin Angela Farmer und ihrer Arbeit unter angela-victor.com und auf Instagram @angelafarmer_yoga

Wenige Yogastile feilen so akribisch an den Details der Haltungen wie Iyengar Yoga. Aber gibt es in der körperlichen Praxis überhaupt so etwas wie Perfektion? Und worin würde sie bestehen? Wir haben im YogaWorld Journal 02/2025 mit Rajvi Mehta, einer der erfahrensten Iyengar-Lehrerinnen darüber gesprochen. Hier kannst du dir die Ausgabe mit dem Titelthema “Perfektion” bestellen:

Mein Körper: Weniger Druck und Trugbilder, mehr Wahrnehmung und Selbstannahme

Ich habe einen Körper, also bin ich? Lies hier, wie sehr unsere Physis unser Selbstvertrauen beeinflusst, mit welchen Mechanismen das zu tun hat und wie wir lernen können, uns so anzunehmen, wie wir sind. Dem Thema “Körperbilder” haben wir im Sommer 2022 eine komplette YogaWorld Journal-Ausgabe gewidmet, woraus auch dieser Artikel stammt.

Text: Carmen Schnitzer / Titelbild: Roberto Hund via Pexels

Neulich erzählte mir eine rund 120 Kilo schwere Bekannte davon, wie sie einen Yogakurs an der VHS gebucht und danach frustriert festgestellt hatte, dass Yoga einfach nichts für sie sei: “80 Prozent der Übungen habe ich nicht geschafft!” Schnell setzte ich zu einer kleinen Predigt an, erklärte, dass es bei Yoga nicht ums Schaffen ginge, ganz im Gegenteil, dass darin jeder Körper Platz habe – zum Beweis zeigte ich ihr Fotos der dicken, schwarzen Yoga-Aktivistin Jessamyn Stanley –, dass es vor allem auf die innere Haltung ankomme, man die äußere den Gegebenheiten anpassen könne und solle …

Aber im Grunde weiß ich (ebenfalls keine Gazelle) es ja selbst: Diese schöne Theorie versteckt sich oft ziemlich gut hinter einer Yogafassade aus gertenschlanken Instagram-Beautys in knappen Outfits, die spielerisch leicht die kompliziertesten Posen einzunehmen scheinen. Ich fürchte, nein: ich bin sicher: Meine Bekannte ist nicht die Einzige mit solch einer entmutigenden Erfahrung. Yoga in westlichen Industrienationen scheint gemacht zu sein für weiße, sportliche Frauen jungen bis mittleren Alters mit athletischer Modelfigur. Und ja, auch unser Magazin trägt zu diesem Bild bei: Meist zieren genau solche Ladys unser Cover, im Heft selbst sieht es kaum anders aus.

Yoga-Körper
Foto: luliia Komarova / Getty Images via Canva

Das ist übrigens auch redaktionsintern immer wieder Anlass für Diskussionen, in denen es diverse Aspekte zu berücksichtigen gibt, darunter natürlich auch: Wird ein Heft, mit dem ein Verlag ein gewisses Risiko eingeht, wenn er mal nicht auf Altbewährtes setzt, von unserer Leser*innenschaft angenommen, trägt es sich also wirtschaftlich? Mit der wunderbaren Anna Trökes hatten wir 2022 erstmals ein Covermodel, das ein ganzes Stück älter war als seine Vorgänger*innen. Denn ist es nicht endlich mal Zeit für mehr Vielfalt? In den letzten Jahren ist der Schrei nach mehr Diversität nicht nur in der Yogaszene immer lauter geworden: Eine Erfolgsserie wie das bunte Kostümspektakel “Bridgerton” machte durch ihren Cast von sich reden, der einen bunten Mix an Hautfarben repräsentierte, ohne dass diese für die Handlung von Bedeutung waren. (Zu dunkel durften die Figuren allerdings auch wieder nicht sein.)

In Heidi Klums TV-Modelshow dürfen mittlerweile auch ältere und fülligere Models mitlaufen (aber nur selten gewinnen). Und auf Social-Media-Kanälen zeigen sich Stars immer mal wieder ungeschminkt, ohne Filter und mit unkaschierten, vermeintlichen Makeln (und entsprechen dabei oft dennoch gängigen Idealen). Meine Anmerkungen in Klammern deuten bereits gewisse Zweifel an: Sind das alles wirkliche Fortschritte oder handelt es sich dabei nicht vielmehr um eine Art “Diversity-Washing” – ähnlich dem “Greenwashing”, das manche Firmen betreiben, um sich einen ökologisch korrekten Anstrich zu verleihen, ohne im Kern etwas ändern zu wollen? Wie weit sind wir wirklich, welches Ziel streben wir überhaupt an, und ist das Erreichen realistisch?

Was ist schön?

Selbstakzeptanz
Foto: Fernando Veloso Leao via Canva

Fakt ist: Schönheitsideale scheint es seit Anbeginn der Menschheit zu geben, wenngleich sie sich über die Jahrhunderte und Jahrtausende hinweg immer mal wieder gewandelt haben und sich bis heute von Kultur zu Kultur unterscheiden können. Ein Aspekt, wenn auch nicht der einzige, der die jeweiligen Ideale prägt, ist, welche Optik mit Geld und gesellschaftlicher Macht assoziiert wird: In Zeiten, da gebräunte Haut und eine drahtige Figur auf Feldarbeit schließen ließen, während sich die Reichen in den Innenräumen vergnügten, waren vornehme Blässe und mehr Leibesfülle angesagt, heutzutage ist es genau umgekehrt: Wessen Teint sonnengeküsst wirkt, der kann sich Urlaub im Süden leisten, wer schlank ist, hat Zeit für Sport und Geld für gesunde Biokost.

Wenn es schon immer Schönheitsideale gab, ist es dann nicht illusorisch, sie aus der Welt schaffen zu wollen? Vermutlich ist es das. Hat es dennoch Sinn, sich damit auseinanderzusetzen? Aber hallo! Denn nur weil etwas existiert, heißt es noch lange nicht, dass es all unser Fühlen und Denken bestimmen muss, dass wir davon unser Selbstwertgefühl abhängig machen müssen. Wer Bilder Picassos bewundert, die Stimme einer Maria Callas oder die kulinarische Kunst eines Sternekochs, hadert schließlich auch eher selten damit, dass er selbst an der Leinwand, beim Singen oder am Herd nicht ganz so versiert ist wie diese drei. Der Unterschied ist natürlich, dass wir unseren Körper immer dabei haben, uns mit ihm konfrontiert sehen, dass wir ein Stück weit auch unser Körper sind. Und dass er regelmäßig Kommentaren ausgesetzt ist, vor allem dann, wenn er in irgendeiner Form von der herrschenden Norm abweicht.

Die Macht von Kommentaren

Wer wie ich mit einem zwischen 32 und 35 schwankenden BMI herumläuft, sprich: offiziell als adipös gilt, kennt vielleicht solche Situationen, wie ich sie neulich mit der Freundin einer Freundin am See erlebte: Die Frau kannte mich nur sehr flüchtig, sah mich nun erstmals im Bikini und riet mir daraufhin ungefragt, es doch mal mit Sport zu versuchen: “Du wirst sehen, das tut gut!” Ähm … danke, aber – ich mache mehrmals wöchentlich Sport? Das sagte ich ihr dann auch, fügte allerdings hinzu, dass ich in Sachen Ausdauer so meine Schwächen habe. “Nein, du brauchst Muskeln!”, entgegnete sie mir.

Brauche ich die wirklich? Oder projizierte sie da ihre eigenen Bedürfnisse auf mich, die ich einen Körper habe, in dem sie sich eben nicht wohlfühlen würde? Wer auf der anderen Seite der Gewichtsskala anzusiedeln ist, dem wird vermutlich öfter geraten, doch mal ordentlich zu schlemmen, womöglich wird ihm auch eine Essstörung unterstellt. Frauen, die ernst gucken, bekommen zu hören, dass ihnen ein Lächeln gut stehen würde, Menschen mit Afrohaar wird ungefragt hineingegriffen, weil die Greifenden eben “gar nicht anders können”, und Leute im Rollstuhl werden bemitleidet, weil sich das Gegenüber ein solches Leben ja nun gar nicht vorstellen könnte. Wer außergewöhnlich groß ist, muss regelmäßig erzählen, “wie denn die Luft da oben” sei, sehr kleine Menschen bleiben ihr Leben lang “niedlich”. Und eine trans-, inter- oder nichtbinäre Person muss sich von anderen sagen lassen, welches ihr “richtiges” Geschlecht sei.

Machen wir uns nichts vor, solche Kommentare und Übergriffe von außen machen etwas mit uns. Mit unserem Inneren. Bestenfalls irritieren sie nur, schlimmstenfalls zerstören sie das Selbstwertgefühl und/oder machen krank. Einer Umfrage der Onlineplattform Statista zufolge sind 39 Prozent der Deutschen “unzufrieden” oder “sehr unzufrieden” mit ihrem Körper. Und in der Yogaszene ist mitunter das Phänomen der “Yogarexia” zu beobachten. Das Kunstwort setzt sich zusammen aus “Yoga” und “Anorexia” (Magersucht) und beschreibt ein Phänomen, bei dem Essstörungen mit einer falschen Interpretation der Yogaphilosophie kaschiert werden: Sind Selbstbeherrschung und der Mut zum Verzicht etwa nicht yogische Qualitäten? Wichtig ist dabei zu betonen, dass Yoga keineswegs der Auslöser für die Krankheit ist, sondern als Verschleierungs-Instrument missbraucht wird. Im Gegenteil: Richtig verstanden kann Yoga, das ist mittlerweile durch verschiedene Studien belegt, die Therapie bei Essstörungen sogar wirksam unterstützen.

Die Sucht nach Bestätigung

Es sind im Übrigen nicht allein negative oder übergriffige Kommentare und Gesten, die einen ungesunden Einfluss auf unsere Körperwahrnehmung haben können. Auch positive Rückmeldungen haben Macht, wie die Yogalehrerin Nina Heitmann im YogaEasy-Podcast zum Thema Body Positivity zugibt. Darin erzählt sie Chefredakteurin Kristin Rübesamen von ihrer anorektischen Phase in frühen Teenietagen. Die Komplimente, die sie nach den ersten gepurzelten Kilos bekommen hatte, hätten sie bestärkt und glauben lassen, auf dem richtigen Weg zu sein.

Auch mit ihrer Social-Media-Nutzung setzt sie sich kritisch auseinander: Sie spüre “ein Glücksgefühl, wenn ich positive Reaktionen bekomme oder Kommentare”. Das Ganze sei “wie ’ne Art Sucht”, sogar für jemanden wie sie, die sie auf diesen Mechanismus einen relativ reflektierten Blick habe. Insgesamt dreht sich das Podcast-Gespräch um die Frage, inwieweit “unser eigenes Körperbild unser Leben zu sehr beeinflusst” (Rübesamen) und inwiefern die aktuelle “Body Positivity”-Bewegung tatsächlich, wie der Name suggeriert, eine positive Wirkung haben könnte.

Dazu sei kurz erwähnt, dass sich die Ursprünge von “Body Positivity” bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts verfolgen lassen und es dabei um weit mehr ging als um mit Unterwäschebildern auf Instagram gefeierte Selbstakzeptanz. Stattdessen wollten frühe Feministinnen sich zunächst vom körpermodifizierenden und gesundheitsgefährdenden Korsett befreien. In den 1960ern schließlich kämpfte man gegen die Diskriminierung von Menschen, deren Körper nicht der gängigen Norm entsprachen, insbesondere Dicken (Fat Acceptance Movement). Eine moderne Interpretation von “Body Positivity” findet sich im gesellschaftskritischen Essay “Solidarische Körper. Die Aufweichung des Hardbodys in der flüssigen Moderne” von Björn Vedder. Darin geht der im ersten Corona-Lockdown selbst vom Sportfieber befallene Philosoph der Frage nach, wie aus dem gar nicht als “echt” gedachten Körperideal antiker Statuen in der Moderne eins werden konnte, dem Menschen tatsächlich nacheifern, der “Hardbody”, und wie man die Fixierung darauf wieder überwinden könnte.

Body Positivity sieht er als wichtiges Mittel dafür, denn: “Es liegt auf der Hand, dass eine Gesellschaft, die weniger Menschen ausschließt und diskriminiert und mehr Menschen die Möglichkeit gibt, ein Selbstbewusstsein auszubilden und eine Rolle zu spielen, auch eine solidarischere Gesellschaft ist. Das gilt vor allem für den Körper, denn mit nichts anderem stehen wir so in der Öffentlichkeit wie mit ihm. Und bei keinem anderen gesellschaftlich angestrebten Ideal ist es so offensichtlich, ob wir ihm entsprechen, wie bei unserem Körper. Denn jeder sieht ihn.” Die Überwindung des “Hardbodys” sei nötig, um Menschen von Scham zu befreien, ihnen zu ermöglichen, sich selbst zu lieben und somit die Solidarität untereinander zu stärken.

Weniger Body, mehr Sein?

Body-Yoga
Foto: Jacob Lund via Canva

Doch zurück zum Gespräch von Kristin Rübesamen mit Nina Heitmann. “Aber wieder ist da ‘Body‘ drin’, antwortet letztere auf die Frage, ob das Streben nach der mittlerweile immer häufiger geforderten “Body Neutrality” statt “Body Positivity” nicht sinnvoller wäre. Also das schlichte Annehmen des Körpers anstatt eines zwanghaften Feierns desselben. Wird durch die Forderung, den eigenen Körper schön zu finden und das nach außen zu vertreten, nicht schon wieder Druck ausgeübt, nach dem Motto: Bin ich falsch, wenn ich ihn einfach nur okay finde? Nina plädiert grundsätzlich für weniger Reduktion der Wahrnehmung auf den Körper: “Das Schöne an unserem Yogaweg ist ja, dass wir die Möglichkeit haben zu entdecken, dass wir viel mehr sind als das.”

Definitiv sind wir das! “Wir benutzen Spiegel, Waagen und Kleidergrößen falsch – als Referendum. Als könnte man damit tatsächlich messen, wer wir sind”, zitiert Erica O’Brien in der Frühlingsausgabe des US-YOGA JOURNALs 2022 ihre Kollegin Erica Mather, Autorin des bislang nur auf Englisch erschienenen Buches “Your Body. Your Best Friend”. Dessen Untertitel lautet: “End the Confidence-Crushing Pursuit of Unrealistic Beauty Standards and Embrace Your True Power”, zu Deutsch etwa: “Beende das Streben nach unrealistischen Schönheitsidealen, das dein Selbstvertrauen zerstört, und umarme deine wahre Kraft”.

Leichter gesagt als getan, natürlich. Doch Yoga kann uns auf dem Weg zur wahren Selbstakzeptanz unterstützen. In der vedischen Philosophie ist unsere physische Hülle schließlich nur eine von fünf uns umhüllenden Schichten, den sogenannten Koshas. “Die Tatsache, dass du da bist, ist für mich ein Beweis, dass du da sein sollst”, glaubt Nina Heitmann, “sonst wärst du nicht da. Und mit Sicherheit gibt es etwas, was du, nur du in die Welt tragen und damit die Welt bereichern kannst. Und ich finde es schön, wenn es einem gelingt zu entdecken, was das sein könnte. Jeder für sich – und das ist ganz unabhängig von der äußeren Erscheinung.”

Fazit: Wir sind unser Körper, aber eben nicht nur. Ideale existieren, den Vergleich mit ihnen sollten wir aber vermeiden. Kurz: Es ist kompliziert! Aber: Wir können alle dazu beitragen, dass sich mehr Menschen mit ihrem Körper im Reinen fühlen: Indem wir den liebevollen Blick auf uns und andere schulen, indem wir Vielfalt sichtbarer machen – und indem wir öfters mal lieber nichts sagen, als ungefragt den Körper unseres Gegenübers zu kommentieren und zu bewerten.


Jean-Marc Turmes

“Stell dir vor, dein Körper sei eine Pflanze, die dir eine liebe Freundin geschenkt hat”, schrieb Carmen Schnitzer vor Jahren mal in einem privaten Text. “Du gibst ihr Sonne, gießt sie und erfreust dich an ihren Blüten. Aber du ärgerst dich nicht über einzelne krumme Blätter. Oder?” Carmen ist Journalistin und schreibt seit Jahren für das YOGAWORLD JOURNAL. Erfahre mehr über die Autorin und besuche ihre Facebook-Seite.


Carmen Schnitzer sprach auch im YogaWorld-Podcast über das Thema Körperbilder, hör doch mal rein:

Achtsam essen – Das 3-Wochen-Programm: Woche 1

Achtsame Ernährung

Was wäre eine Yogastunde ohne Achtsamkeit? Nicht viel mehr als Gymnastik. Genauso bringt das ausgeklügeltste Ernährungskonzept nicht viel, wenn wir nicht lernen, den Autopiloten abzuschalten und wirklich achtsam mit unserer Nahrung umzugehen. Unser 3-Wochen-Programm zeigt dir Wege zu einer bewussteren Art zu essen – und zu genießen.

Text: Stephanie Schauenburg / Titelbild: Foxy Forrest Manufacture von Getty Images via Canva

Eines ist klar: Yoga und bewusste Ernährung gehören zusammen. Oder kennst du eine*n Yogi*ni, der oder die intensiv übt und zugibt, sich von Currywurst, Limo und Eiscreme zu ernähren? Viel eher kennst du endlose Diskussionen darüber, was denn nun der “richtige” Ernährungsstil sei. Oder ein latent schlechtes Gewissen, weil du es immer noch nicht geschafft hast, deine Ernährung konsequent umzustellen. Fragt sich nur, worauf genau du überhaupt umstellen willst oder sollst?

Überfluss macht uns planlos

Ständig kommen neue Theorien, Konzepte, Heilslehren und Verbote auf den Tisch. Es sollte vermutlich vegetarisch, vielleicht vegan, bitte bio, betont basisch, lieber low-carb, aber auch mal paläo sein. Auch einzelnen Nahrungsmitteln wird entweder das Prädikat “wertvoll” umgehängt oder sie werden als “total ungesund” verdammt – nur leider sind diese Etiketten oft widersprüchlich und das, was heute als hypergesund gilt, kann morgen schon ein No-Go sein. Die Folge: Immer mehr Menschen sind unzufrieden mit ihrem Ernährungsstil, sie haben das Gefühl, ständig etwas falsch zu machen, sie sind verwirrt und suchen nach einer verständlichen, verbindlichen Anleitung – dabei wissen sie gleichzeitig: All das ist nicht nur Ausdruck eines absurden Optimierungswahns, es wäre auch völlig undenkbar ohne den noch nie da gewesenen materiellen Überfluss, in dem wir (im Gegensatz zum Großteil unserer Vorfahr*innen und Millionen unserer Zeitgenoss*innen) heute leben.

Bewusst und achtsam beim Essen

Achtsam essen
Foto: Anna Tarazevich via Canva

Die yogische Antwort auf all das kann eigentlich nur heißen: raus aus den verkopften Konzepten und rein in die authentische Erfahrung. Bewusst hinschauen, ausprobieren, spüren – mit einem Wort: Achtsamkeit üben. Seit der ursprünglich buddhistisch geprägte Begriff der “Achtsamkeit” im Mainstream angekommen ist, wird er selbstverständlich auch auf die Ernährung bezogen. Das Erfrischende daran: Anstatt mit medizinischem und ernährungswissenschaftlichem (Halb-)Wissen zu wuchern und dem Fetisch “Gesundheit” zu huldigen, geht es hier endlich mal wieder ganz einfach ums Essen. Genau wie die Yogapraxis besteht auch die Praxis des achtsamen Essens zunächst einmal darin, bewusst wahrzunehmen, was ich in diesem Moment eigentlich tue – möglichst fein und ohne permanent zu urteilen und zu werten. Die Ziele lauten hier wie dort: das Körpergefühl verbessern, Vertrauen in die eigene Wahrnehmung entwickeln, Verhaltensmuster erkennen und durchbrechen, freier und bewusster handeln.

Der Hunger des Geistes

Aber auch die Schwierigkeiten sind beim achtsamen Essen ähnlich gelagert wie bei der körperlichen und geistigen Yogapraxis: Genau wie Haltungs-, Bewegungs- und Denkmuster ist auch das Essverhalten von Konditionierungen geprägt, die vielfach bis in die früheste Kindheit zurückreichen. Solche Prägungen überwindet man nicht einfach, indem man beschließt: “Ab heute esse ich achtsam.” Je mehr du dich dem Thema zuwendest, desto deutlicher wirst du vermutlich erkennen, wie häufig du beim Thema Essen vollständig im “Autopilot-Modus” läufst. Alle, die schon einmal eine Fressattacke erlebt haben oder die Phänomene “Frustfuttern” und “Trostessen” aus eigener Erfahrung kennen, wissen: Es gibt viel mehr Arten von Hunger als nur einen leeren Magen. Sogar wenn du versuchst, deinem emotionalen Hunger mit rigiden Ernährungsregeln zu begegnen, befriedigst du damit unter Umständen wieder nur einen weiteren Hunger: den des Geistes.

Yoga des Essens braucht viel Übung

Achtsam zu essen ist daher genau wie Yoga ein Übungsweg, auf dem du, wenn du willst, lange Zeit unterwegs sein kannst. Genau wie die meisten Asanas können auch die Übungen zum achtsamen Essen noch nach langer Praxis immer wieder zu ganz neuen, überraschenden Erkenntnissen führen. So entdeckst du mit der Zeit nicht nur eine ganz neue Art, dich zu ernähren und zu genießen, sondern tatsächlich so etwas wie ein “Yoga des Essens”.

Die 5 wichtigsten Punkte

1 Langsam – Lieber schlemmen statt schlingen.
2 Mit allen Sinnen – Sehen, riechen, tasten, schmecken und genießen.
3 Frei von Ablenkung – Wenn ich esse, esse ich.
4 Gerade genug – Aufhören, sobald der Hunger gestillt ist.
5 Liebevoll und dankbar – Würdigen statt werten.


Tipp: Im YogaWorld Journal 02/2025 haben wir uns dem Thema “Intuitiv Essen” gewidmet und stellen verschiedene Ansätze vor, die dabei helfen können, den eigenen Körpersignalen zu vertrauen. Hier kannst du dir das Heft bestellen:


Bist du bereit? Los geht’s mit Woche 1 unseres 3-Wochen-Programms “Achtsam essen”:

1. Woche: Bewusstwerdung

Achtsam essen
Foto: Image Professionals via Canva

In der ersten Woche nimmst du dir jeden Tag Zeit für ein kleines Experiment. Beobachte möglichst unvoreingenommen, was sich verändert, wenn du eine oder mehrere Mahlzeiten täglich diesen vielleicht ungewohnten Erforschungen widmest. Was fällt dir leicht? Was ist schwierig? Alle sieben Techniken helfen dir, auch auf Dauer achtsamer zu essen – es lohnt also, sich in den kommenden Wochen und Monaten immer wieder an sie zu erinnern, sie in unterschiedlichen Situationen zu erproben und miteinander zu kombinieren.

Tag 1: Nahaufnahme

Nimm dir heute 5 bis 10 Minuten Zeit für etwas so Kleines wie eine Rosine, einen Keks oder eine Tasse Tee. Richte alle deine Sinne und volle Aufmerksamkeit auf dieses Objekt: Wie sieht es aus? Wie fühlt es sich in der Hand an? Wie riecht es? Welche Gefühle, Erwartungen und Gedanken weckt es, schon bevor du es in den Mund nimmst? Und was genau passiert dann? Was meldet deine Zunge, was dein Gaumen? Welche Empfindungen entstehen, wenn du es im Mund bewegst, langsam (und noch langsamer!) kauen und schließlich schlucken? Wie fühlst du dich danach?

Info: Vielleicht kennst du die Übung mit der Rosine, wenn du einmal einen Kurs in MBSR – Mindfulness Based Stress Reduction – gemacht hast. Sie stammt von deren Begründer Jon Kabat-Zinn.

Tag 2: Entdeckung der Langsamkeit

Zähle heute zu Beginn der Mahlzeiten eine Weile mit, wie oft du im Schnitt kaust, bevor du einen Bissen herunterschluckst. Dann verdoppelst du diese Zahl. Kaue ganz langsam, bewege das Essen dabei im Mund hin und her und beobachte Geschmack und Konsistenz. Auch beim Trinken versuche, nicht sofort zu schlucken, sondern die Flüssigkeit eine Weile im Mund zu behalten und ihre sinnlichen Qualitäten wahrzunehmen.

Info: Wenn dir die doppelte Zeit unsinnig lang vorkommt, dann solltest du wissen: In der ayurvedischen Medizin wird zu 30-maligem Kauen jedes Bissen geraten. In traditionellen Yogakreisen gibt es sogar die Regel: “Kaue das Feste, bis es flüssig wird, und das Flüssige, bis es fest wird”.

Tag 3: Stille

Richte heute mindestens eine Mahlzeit ein, in der du nicht nur Radio, TV und Handy konsequent zum Schweigen bringst, sondern auch dich selbst. Sogar Lektüre oder andere “stille” Ablenkungen sollten tabu sein. Deine alleinige Aufmerksamkeit gilt dem Essen.

Tipp: Wenn deine Lieben bei diesem Experiment nicht mitmachen wollen, dann esse am besten im Anschluss an die Familie alleine.

Tag 4: Zwei Hände voll

Versuche heute etwas, das du vielleicht auch schon in deinen Yogabüchern zum Thema richtige Ernährung gelesen hast: Dort lautet eine gängige Regel, man solle bei keiner Mahlzeit mehr zu sich nehmen, als in die eigenen beiden Hände passt, wenn man sie zu einer Schale formt. (Wobei man sich natürlich fragen kann, wie hoch sich das Essen in dieser Schale türmen darf?) Beobachte dich dabei auf mehreren Ebenen:

Habe ich nach dem Essen noch Hunger?
➳ Ist es wirklich mein Magen, der nach mehr verlangt?
➳ Welche Rolle spielen Appetit, Gelüste, Ängste – also mein Geist?
➳ Wie fühle ich mich am Ende des Tages?

Info: Diese traditionelle Regel gibt es etwas anders formuliert auch in vielen modernen Ernährungsratgebern. Dort heißt es, man solle den Magen nie mehr als zu zwei Dritteln füllen – was in etwa dem Volumen der beiden Hände entspricht.

Tag 5: Pranayama beim Essen

Atemübungen und Atemgewahrsein sind Kernpunkte der Achtsamkeitspraxis. Es lohnt sich also, auch beim Essen einmal bewusst die Aufmerksamkeit auf den Atem zu richten. Stimme dich vor der Mahlzeit 1 bis 2 Minuten lang mit geschlossenen Augen auf deinen Atem ein. Wenn du magst, vertiefe den Atem etwas oder übe die volle Yogaatmung, soweit sie dir vertraut ist. Anschließend beobachte während der gesamten Mahlzeit deine Atmung.

➳ Wie atme ich, während ich kaue?
➳ Was passiert beim Schlucken?
➳ Wie wirkt sich die Atembeobachtung auf das Essen aus?

Tag 6: Hunger Games

Ein wichtiges Ziel der achtsamen Ernährung besteht darin, das natürliche Gefühl für Hunger und Sättigung zurückzuerlangen. Esse heute deshalb immer dann (aber auch nur dann!), wenn du deutlich spürst: Jetzt habe ich Hunger. Genauso beendest du jede Mahlzeit, sobald du merkst: Jetzt brauche ich eigentlich nichts mehr. Klingt einfach, ist aber ganz schön schwierig.

Info: Expert*innen gehen davon aus, dass die meisten Essgewohnheiten (und auch etliche Essstörungen) in der Kindheit anerzogen sind. Schon der Zwang, zu vorgeschriebenen Zeiten und Mengen zu essen (Stichwort: “Du stehst erst auf, wenn der Teller leer ist!”), überstimmt irgendwann das authentische Bauchgefühl. Dann weiß man schlicht und einfach nicht mehr, was die individuell und momentan gerade richtige Zeit, Art und Menge ist.

Ganz wichtig: Dies bedeutet nicht, dass regelmäßige Mahlzeiten falsch wären, im Gegenteil – nur muss der Rhythmus wirklich passen.

Tag 7: Sonntagsschmaus

Achtsam essen: Bowl
Foto: bit245/ Getty Images via Canva

Verwöhne dich heute ganz bewusst mit deinem Lieblingsessen. Nehme dir Zeit für den Einkauf, würdige die einzelnen Zutaten und ihre sinnlichen Qualitäten, zelebriere die Zubereitung, richte das Essen schön an, decke den Tisch mit Sorgfalt und dann – genieße in vollen Zügen! Vielleicht bemerkst du dabei, dass du einige der praktizierten Techniken dieser Woche unwillkürlich einsetzt. Aber vielleicht entscheidest du dich auch ganz bewusst, dieses Mal weder allein und still zu essen noch bei einer Schale voll Nahrung Halt zu machen. Worauf es ankommt, ist nicht die Einhaltung von starren Regeln, sondern der bewusste Umgang damit – verbunden mit einem dankbaren, sinnlichen Genuss.


Hier kommst du zum Programm von Woche 2:

Yin Yoga für Endometriose und Frauengesundheit – von Nicoletta Wagenstetter

Jede zehnte Frau leidet Schätzungen zufolge an Endometriose – und noch wissen wir viel zu wenig über diese oft übersehene Krankheit. Durch die ständige Angst vor dem Schmerz und die daraus resultierenden Erschöpfungszustände kommen Betroffene schwer in die Erholung. Diese tief entspannende Übungssequenz von Yogalehrerin und Shiatsu-Praktikerin Nicoletta Wagenstetter kann nicht nur ihnen, sondern allen Frauen helfen, aus der Tiefe ihres Selbst wieder Kraft zu schöpfen.

Text & Sequenz: Nicoletta Wagenstetter / Praxis-Fotos: Christian Böhm / Titelbild: halfpoint via Canva

In der Traditionellen chinesischen Medizin (TCM) spielt die enge Verbindung von Emotionen, Energien und Körper seit jeher eine zentrale Rolle. Die weiblichen Fortpflanzungsorgane – Gebärmutter, Eierstöcke, Vagina – werden hier auch als “unteres Herz” bezeichnet, denn dort wohnen nach chinesischer Lehre die unbewussten, tieferen Emotionen, die das “hohe Herz” noch nicht verarbeiten kann. Zwischen dem oberen und unteren Herzen gibt es laut TCM eine konkrete Verbindung: Chong Mai, die Herz-­Uterus-Verbindung, auch “Vitalgefäß” oder “Penetrationsgefäß” genannt.

Der Chong Mai ist ein so genannter “Super-Meridian”. Er entwickelt sich als erstes im Fötus und gilt als Ursprung, aus dem sich alle weiteren Energiekanäle (Meridiane) entwickeln. Daher heißt er auch “Meer der zwölf Kanäle” oder “Meer des Blutes“. Auf energetischer Ebene ist der Chong Mai das grundlegende Reservoire der Energie für alle anderen Meridiane, die für Frauengesundheit wichtig sind. Chong Mai bildet damit die Basisenergie des Körpers im Kreislauf mit der Gebärmutter, den Nieren, dem Herzen und dem Gehirn. Er verbindet die Energie des Herzens und damit unsere Individualität mit der Nierenenergie unserer Ahnen und unserer genetischen Konstitution.

Chong Mai – der “Super-Meridian”

Der Ursprung von Chong Mai liegt laut Traditioneller chinesischer Medizin (TCM) zwischen den Nieren. Er soll der Ursprungspunkt allen Lebens im Körper sein.

• Sein innerer Ast verläuft durch die Gebärmutter (bei Männern die Prostata) und tritt am Damm aus.

• Der Wirbelsäulenast folgt zunächst dem Nierenmeridian und verbindet sich am Schambein mit dem Magenpunkt 30.

• Nach oben hin verzweigt er sich in den Brustkorb hinein, verläuft am Hals entlang und verbindet sich schließlich am Mund mit Lenkergefäß und Konzeptionsgefäß.

• Nach unten verlaufen Abzweigungen durch die Beine bis zu den Füßen.

Ein Großteil des Chong-Mai-Pfades verläuft tief im Körper, sodass es keine Akupunkturpunkte an der Oberfläche gibt. Wir können aber indirekt mit dem Vitalgefäß arbeiten, über die klassischen Yin-Meridiane Milz-, Leber-, Nieren-, Herzkreislauf- (Perikard-) und Herzmeridian, die für alle Frauenthemen wichtig sind. Auf diese Weise bringen wir Jing (Essenz) in Umlauf und regulieren unsere Urkraft, unsere grundlegende energetische Konstitution einschließlich der physischen, emotionalen und spirituellen Muster. Im Yin Yoga übersetzen wir dieses Wissen aus der TCM in eine ganz konkrete, für jede Frau machbare Praxis. Wie das geht, zeige ich dir hier:

1. Chong-Mai-Verbindung

Yin Yoga: Chong Mai Verbindung

Bringe den Fokus zu Beginn der Praxis zu dieser Herz-Uterus-Verbindung. Dazu legst du in einer für dich bequemen Sitzhaltung eine Hand auf den Brustkorb und die andere auf den Unterbauch. Schließe die Augen und nimm Zeit, um still zu werden und deine Atmung zu beobachten, ohne dabei etwas verändern zu wollen.

2. Unterstützte Brücke

Yin Yoga: unterstützte Brücke

Stelle in Rückenlage die Füße auf, schiebe ein Kissen unters Kreuzbein und breite die Arme locker zu den Seiten aus. Lass die Beine zunächst noch aufgestellt. Nur wenn es sich gut anfühlt, kannst du sie ausstrecken und auch die Arme hinter den Kopf legen. Halte die Position 3–5 Minuten. Danach ziehst du das Kissen heraus, stellst die Füße etwas breiter auf und lässt die Knie wie ein Hausdach zueinander sinken.

3. Liegende Banane

Yin Yoga: liegende Banane

Lege ein Bolster oder eine zusammengerollte Decke quer auf deine Matte und setze dich so daneben, dass du die linke Seite des Oberkörpers entspannt darüber legen kannst. Dein Kopf ruht auf dem linken Arm, den du mit einer Decke abstützen kannst. Beuge deine Beine bequem. Wenn du magst, streckst du zusätzlich den rechten Arm über den Kopf aus. Lass dein Gewicht nach unten sinken und halte die Position 3–5 Minuten, dann richtest du dich behutsam wieder auf und wechselst die Seite.

4. Sphinx

Yin Yoga: Sphinx

Setze in Bauchlage die Ellenbogen auf dem Boden oder dem quer gelegten Bolster ab. Spüre in deinen unteren Rücken und passe die Haltung so an, dass du bequem die nächsten 3-5 Minuten in Stille bleiben kannst. Dann schieb das Bolster zur Seite, leg die Arme ab und mach ein Kissen für deinen Kopf. Spüre in den unteren Rücken zu deinen Nieren.

5. Schwan

Yin Yoga: Schwan

Ziehe aus dem Vierfüßler das rechte Knie außen an die rechte Hand und strecke das linke lang nach hinten aus. Halte den Oberkörper ein paar Minuten lang aufrecht und lass das Becken sinken. Dabei kannst du die Ellenbogen auf dem Boden oder dem Bolster ablegen. Gehe dann sanft in den schlafenden Schwan über, bei dem der Oberkörper lang nach vorne sinkt und die Stirn auf einem Kissen oder den gekreuzten Armen ruht. Löse dich nach 3–5 Minuten behutsam aus der Haltung. Dehne und bewege dich ein bisschen im Vierfüßler, bevor du die zweite Seite übst.

6. Libelle

Yin Yoga: Libelle

Grätsche im Sitzen die gestreckten Beine so weit, dass du eine angenehme Dehnung an den Beininnenseiten spürst. Lege deine Unterarme auf einem Bolster ab und kreuze die Unterarme am Akupressurpunkt “Herzkreislauf 6”. Er liegt drei Finger breit über der Beugefalte des Handgelenks mittig zwischen Elle und Speiche. Bleibe 2 Minuten so, wechsle dann die Arme und bleibe weitere 2–3 Minuten. Zum Ausgleich bewegst du dich ganz intuitiv. Eine wunderbare Gegendehnung ist zum Beispiel der Tisch.

7. Schmetterling im Sitzen

Yin Yoga: Schmetterling im Sitzen

Setz dich auf den Boden oder erhöht auf ein Kissen und lege die Fußsohlen aneinander. Greife um die Oberseiten der Füße und lege deine Daumenkuppen an der Fußinnenkante mit sanftem Druck auf den Akkupressurpunkt “Milz 4”, er liegt an der höchsten Stelle des Fußgewölbes. Halte den Rücken möglichst gerade und verbinde dich gedanklich mit deinem Chong Mai. Bleibe 3–5 Minuten lang in der Haltung und bewege deinen Körper danach wieder intuitiv, um ihn zu lockern.

8. Unterstützter Schmetterling

Yin Yoga: Unterstützter Schmetterling

Lege einen Block längs und einen quer und das Yoga-Bolster längs darüber, sodass dein Kopf und die ganze Wirbelsäule bequem gestützt sind. Lege die Fußsohlen im Schmetterling aneinander. Eine Hand ruht auf den Brustkorb, die andere auf den Unterbauch, so bist du wieder in Kontakt zu deinem Chong Mai. Nach 3–5 Minuten streckst du die Beine nach vorn und die Arme über den Kopf und dehnst den Körper.

9. Offener Flügel

Yin Yoga: Offener Flügel

Lege dich zuerst auf den Bauch und strecke den rechten Arm mit der Handfläche nach unten zur Seite aus. Stütze dich dann mit der linken Hand auf und rolle dich mit gebeugten Beinen auf die rechte Seite. Die Dehnung soll in Brust, Schulter und rechtem Arm spürbar sein. Wenn diese Dehnung nur schwach spürbar ist, kannst du zusätzlich den linken Fuß aufstellen und das Knie heben. Nach 3–5 Minuten wechselst du behutsam zur anderen Seite.

10. Unterstützter Fisch

Yin Yoga: Unterstützter Fisch

Lege das Bolster quer über deine Matte, so dass es im Liegen den unteren bis mittleren Rücken stützt. Der Scheitel oder Hinterkopf kann auf der Matte ruhen oder erhöht auf einer Decke oder einem Block. Du kannst die Arme entspannt zu den Seiten ausbreiten, sie rechtwinklig in einer Kaktusform entspannen oder die Hände auf den Bauch legen. Intensiver wird die Dehnung, wenn du die Arme über Kopf zum Boden streckst. (3–5 Minuten)

11. Entspannung

Lege das Bolster unter deine angewinkelten Knie, um den unteren Rücken zu entlasten und vollständig entspannen zu können. Stelle erneut mit deinen Händen die Verbindung zwischen Herz und Bauchherden wichtigsten energetischen Zentren des Chong Mai. (mindestens 5 Minuten)

Yin-Meridiane, die in dieser Praxis angesprochen werden

• Übung 2 bis 4: Im Nierenmeridian fließt unsere Urkraft, denn unsere genetische Prädisposition und unsere Lebensenergie stammen laut TCM aus den Nieren.

• Übung 5 und 6: Der Lebermeridian sorgt für den freien Fluss der Gefühle und gilt im TCM als der “Architekt” unseres Lebensplans, der Visionen und Träume.

• Übung 7 und 8: Der Milzmeridian steht für den freien Fluss der Gedanken.

• Übung 9: Der Herzkreislauf-Meridian (Perikard) ist der “Botschafter des Herzens” und sorgt dafür, dass alle Anliegen des Herzens an die übrigen Meridiane, die für unterschiedliche Aspekte unserer Seins stehen, kommuniziert werden.

• Übung 10 und 11: Herzmeridian. Das Herz ist laut TCM der “Kaiser” aller Organe und der Sitz unserer Individualität. Ist der Fluss der Herzenergie blockiert, wie es bei
der Endometriose oft der Fall ist, sind herzöffnende Haltungen besonders hilfreich.

Schon gewusst? Jedes Jahr im März findet der “EndoMarch” statt, eine internationale Kampagne zur Aufklärung über Endometriose.


Nicoletta Wagenstetter ist Redakteurin, Yogalehrerin und Shiatsu- Praktikerin. Sie bietet regelmäßig Workshops zu Yoga bei Endometriose an und bildet Yogalehrerinnen für Prä- und Postnatal-Yoga aus. In unserem YogaWorld-Podcast spricht sie in Folge 18 über das Thema. Vielleicht kennst du Nicoletta auch von unserer gemeinsamen Reihe “Heilsame Körperpunkte” auf Instagram.

Mehr Infos unter nizramayoga.com und auf Instagram @nizramayoga


Hier erfährst du noch mehr zum Thema Endometriose:

Du brauchst noch mehr Entspannung? Dann probier doch mal die Audio-Entspannungsübung von Nicoletta aus:

Essen nach Bauchgefühl – mach den Test: Wie intuitiv isst du?

Achtsam essen
Foto: Anna Tarazevich via Canva

Der eigene Körper ist meist der beste Kompass für ein gesundes und natürliches Essverhalten. Ernährungswissenschaftlerin und Ayurveda-Spezialistin Dr. Dania Schumann zeigt in ihrem Buch “Intuitiv essen – Warum dein Kopf auf dein Bauchgefühl hören sollte”, wie wir zu einer intuitiven Ernährungsweise zurückfinden, mit 30 ayurvedischen Rezepten für ein gesundes Körperbewusstsein. Aus diesem Buch ist auch der folgende Test.

Text: Dr. Dania Schumann, Titelbild: Anna Tarazevich via Pexels

Finde heraus, wie intuitiv du isst

Du bist mit Freunden beim Italiener. Zur Auswahl stehen Pizza, Pasta oder ein Salat. Wofür entscheidest du dich?

  • Kommt drauf an, wonach ich mich heute fühle. (C)
  • Salat – Grünzeug ist am gesündesten. (A)
  • Ich hadere zwischen Pizza, Pasta oder Salat. (B)

Es ist Filmabend. Du kommst gerade satt vom Abendessen und wusstest nicht, dass es noch Snacks gibt. Was machst du?

  • Ich bin satt, also esse ich nichts mehr. (C)
  • Wenn es etwas gibt, das wirklich lecker ist, geht das in den Dessertmagen. (B)
  • Ich snacke, weil es da steht. (A)

Du gehst schon das dritte Mal an diesem Bäcker vorbei, bei dem es einfach so gut nach deinem Lieblingsgebäck duftet. Du…

  • … weißt, dass es dir nicht bekommt und isst es nicht. (C)
  • … holst dir das dritte Gebäck und freust dich darüber. (B)
  • … holst dir ein Stück und bereust deine Willensschwäche oder überlegst dir Wiedergutmachungsstrategien. (A)

Du möchtest dich so gesund ernähren, wie es geht. Wie geht es dir, wenn du das mal nicht schaffst?

  • Ich denke: Passt schon – nobody is perfect! Dann wird die nächste Mahlzeit eben wieder gesund. (C)
  • Ich genieße kurz und ärgere mich dann über die fehlenden Nährstoffe. (B)
  • Jetzt ist es auch egal, und ich esse den ganzen Tag alles, was ich mir sonst verbiete. (A)

Wir alle haben ein angeborenes Wissen, intuitiv zu essen.

Wie entscheidest du, wann du isst?

  • Ich esse, wenn mein Körper Hunger meldet. (C)
  • Ich esse zu festen Zeiten, die mein (Arbeits-/ Familien-)Leben vorgibt. (A)
  • Ich esse, wenn ich Lust habe. (B)

Wie entscheidest du, was du isst?

  • Ich überlege, welche Nährstoffe mir heute noch fehlen. (B)
  • Ich esse, worauf mein Körper Hunger hat. (C)
  • Ich esse, was gerade leicht verfügbar ist. (A)

Woher weißt du, wann du satt bist?

  • Ich merke einfach, wann es so viel ist, dass ich mich gut fühle. (C)
  • Ich höre auf, wenn nichts mehr reinpasst oder der Teller leer ist. (B)
  • So richtig satt fühle ich mich selten. (A)

Versuchst du, einen bestimmten Makronährstoff (Kohlenhydrate, Eiweiß oder Fette) zu meiden, weil du ihn ungesund findest?

  • Ja, klar. (A)
  • Nein, ich esse worauf ich Lust habe. (B)
  • Kommt auf die Qualität und die Verarbeitung des Lebensmittel an. (C)

Worauf hast du meistens Hunger, wenn dein Leben in normalen Bahnen verläuft?

  • auf gesunde nährstoffreiche Gerichte (C)
  • oft auf Fast Food wie Pizza, Pommes und Burger (A)
  • mal so mal so, je nach Tagesform (B)

Wie fühlst du dich normalerweise nach einem guten Essen?

  • satt, zufrieden und energiegeladen (C)
  • satt, zufrieden und reif für die Couch (B)
  • meistens weder richtig satt noch zufrieden (A)

In der Büroküche steht mal wieder Kuchen. Was machst du?

  • Ich freue mich, wenn alle zusammenkommen und kurz in der Küche socialisen, deswegen esse ich mit. (A)
  • Schon wieder Marmorkuchen brauche ich nicht. Wenn’s wieder was Cooles gibt, bin ich dabei. (B)
  • Wenn mich der Kuchen wirklich anmacht, genieße ich ein Stück. Wenn nicht, dann nicht. (C)

Auswertung

Überwiegend Antwort A – Intuition ist ein Schatz, den du entdecken darfst

Was bedeutet Ernährung für dich? Eine Quelle gesunder Nährstoffe? Genuss? Oder einfach Mittel zum Zweck? Versuche herauszufinden, welche Rolle Essen in deinem Leben spielt: Warum isst du? Wie geht es dir dabei und danach? Nach welchen Kriterien suchst du dein Essen aus? Muss es besonders gesund oder vor allem lecker sein? Oder machst du dir gar keine Gedanken darüber? Welche Glaubenssätze spielen beim Essen eine Rolle? Indem du deine Beziehung zum Essen etwas genauer untersuchst, schaffst du die besten Voraussetzungen für ein intuitives Essen.

Überwiegend Antwort B – Auf dem Weg zur Intuition

Du hast schon eine Ahnung, was dir gut bekommt. Manchmal fällt es dir aber schwer, den Zugang zu deiner inneren Stimme zu finden oder zu verstehen, was sie sagt. Dann fühlt es sich an, als müsstest du zwischen zwei Stimmen entscheiden: die deiner Gedanken und die der Intuition. Oft wird dir erst im Nachhinein klar, was das subtile Gefühl, das du schon vor dem Essen hattest, dir sagen wollte. Analysiere nochmal deine Glaubenssätze und Theorien in Bezug auf Essen: Halten sie dich davon ab, deiner Intuition zu vertrauen? Vielleicht sind es auch soziale oder emotionale Situationen, die dir manchmal den Zugang zu deiner Intuition versperren? Vertraue deiner inneren Stimme, wann immer du kannst. So wirst du mit jedem Mal immer ein bisschen sicherer.

Überwiegend Antwort C – die Intuition liegt dir

Du weißt genau, wann du lieber etwas Warmes essen solltest und wann es Rohkost sein darf. Deine Intuition leitet dich (meistens) zielsicher zu den für dich richtigen Lebensmitteln. Weil du meistens nur das isst, was sich richtig anfühlt, und davon nur so viel, bis du satt bist, spürst du selten Reue. Stattdessen fühlst du dich gut und genährt. Beim Kochen weißt du intuitiv, welche Zutaten du brauchst, damit das Gericht rund ist und dir guttut. Auch unter Stress isst du so, wie du es brauchst.


Über die Autorin

© Grit Siwonia und Jgor Cavallina

Dr. Dania Schumann ist studierte Ernährungswissenschaftlerin und promovierte Medizinwissenschaftlerin. Sie hat sich in der Ayurveda-Medizin an der Gujarat Ayurveda University vertieft und Weiterbildungen in ayurvedischer Medizin mit dem weltweit renommierten Ayurveda-Arzt Dr. Vasant Lad absolviert, ist zertifizierte Yogalehrerin und staatlich geprüfte und zertifizierte Heilpraktikerin.

Wissenschaftliche Erkenntnisse, praktische Übungen und 30 Ayurveda-Rezepte

Ihr Buch “Intuitiv essen – Warum dein Kopf auf dein Bauchgefühl hören sollte” ist im Edition Michael Fischer Verlag erschienen. Fundiertes Expertenwissen trifft hier auf einfühlsame Beratung, die nicht auf allgemeine Vorschriften setzt, sondern dabei hilft, den individuell richtigen Ernährungsweg zu finden. Dabei bietet das Buch reichlich Inspiration an Ideen und Gerichten zum Wohlfühlen, umsetzbar nach deinen persönlichen Bedürfnissen. Inklusive 30 ayurvedischer Rezepte – perfekt für den Einstieg in eine ausgewogenere Ernährung und ein gutes Körpergefühl.


Tipp: Auch im YogaWorld Journal 02/2025 haben wir uns dem Thema “Intuitiv Essen” gewidmet und stellen verschiedene Ansätze vor, die dabei helfen können, den eigenen Körpersignalen zu vertrauen. Hier kannst du dir das Heft bestellen:

Probiere dieses leckere Rezept von Dania Schumann aus:

Shivaratri: Wie die “Nacht des Shiva” deine Yogapraxis inspirieren kann

In der tiefsten Dunkelheit der Nacht entfaltet sich das Licht der Erkenntnis – so wird Maha Shivaratri, die “Große Nacht des Shiva”, von Millionen von Gläubigen in Indien und Nepal gefeiert. Dieses bedeutende hinduistische Fest findet jährlich am 14. Tag des abnehmenden Mondes im Monat Phalguna (Februar/März) statt. 2025 fällt es auf den 26. Februar. Shivaratri ist der wichtigste Feiertag zu Ehren von Shiva und steht für innere Reinigung, spirituelles Erwachen und den Sieg des Bewusstseins über die Unwissenheit.

Titelbild: mammuth von Getty Images via Canva

Wie können wir Shiva in unsere eigene Yogapraxis integrieren? Welche Rituale und Techniken helfen dabei, die Energie von Shivaratri bewusst zu nutzen? In diesem Artikel werfen wir einen Blick auf dieses besondere Fest und zeigen, wie es zur persönlichen Weiterentwicklung auf der Matte und darüber hinaus inspirieren kann.

Mythologische Ursprünge von Shivaratri

Es existieren verschiedene Legenden, die die Ursprünge von Shivaratri erklären:

  1. Die Hochzeit von Shiva und Parvati: Eine weitverbreitete Erzählung besagt, dass Shiva in dieser Nacht seine göttliche Gefährtin Parvati heiratete, was das Fest zu einem Symbol für die Vereinigung von Bewusstsein (Shiva) und Energie (Shakti) macht.
  2. Shivas kosmischer Tanz: Eine andere Legende erzählt, dass Shiva in dieser Nacht seinen Tandava, den kosmischen Tanz der Schöpfung, Erhaltung und Zerstörung, aufführte, um den Kreislauf des Universums in Balance zu halten.
  3. Die Erscheinung als Linga: Eine weitere Geschichte berichtet, dass Shiva in Form eines endlosen Lichtsäulen-Linga erschien, um Brahma und Vishnu die Grenzenlosigkeit seines Wesens zu demonstrieren.

Spirituelle Bedeutung von Shiva und Shivaratri

Shiva verkörpert im Hinduismus die Prinzipien von Zerstörung und Transformation, die notwendig sind, um Platz für Neues zu schaffen. Er gilt als der Ur-Yogi, der in tiefer Meditation verweilt und somit für höchste Konzentration und innere Ruhe steht. Er symbolisiert den Triumph des Lichts über die Dunkelheit sowie des Wissens über die Unwissenheit. Seine Rolle als Zerstörer ist nicht negativ zu verstehen, sondern als essenzieller Teil des universellen Kreislaufs von Geburt, Leben, Tod und Wiedergeburt.

Foto: Elina Sazonova via Pexels

Während Maha Shivaratri fasten und meditieren Gläubige die ganze Nacht hindurch, um sich mit Shivas Energie zu verbinden und spirituelle Erneuerung zu erfahren. Es wird angenommen, dass durch diese Hingabe negative Tendenzen und Unwissenheit überwunden werden können, um inneren Frieden und Erleuchtung zu erlangen.

Die Rituale rund um Shivaratri erinnern daran, dass Transformation und das Loslassen alter Muster notwendig sind, um persönliches Wachstum und spirituelle Entwicklung zu fördern. Diese Prinzipien finden auch in der Yogapraxis Anwendung, wo wir durch körperliche Übungen, Atemtechniken und Meditation mitunter eine innere Reinigung und Erneuerung anstreben.

So wird Shivaratri gefeiert

Wie bei den meisten hinduistischen Feiertagen variieren die Feierlichkeiten zu Shivaratri je nach Region. In Tamil Nadu beispielsweise unternehmen Gläubige die rituelle Umrundung des Annamalai-Tempels, bekannt als Girivalam. Auch in vielen anderen Teilen Indiens finden spezielle Pujas (Verehrungsrituale) in prominenten Shiva-Tempeln statt, begleitet von Prozessionen und kulturellen Veranstaltungen. Diese Rituale und Traditionen während Shivaratri bieten den Gläubigen die Möglichkeit, sich tief mit der Energie Shivas zu verbinden, innere Reinigung zu erfahren und den Weg für spirituelles Wachstum zu ebnen. Folgende drei Dinge sind fast überall typisch für die “Nacht des Shiva”:

Fasten (Upavasa): Viele Gläubige fasten an Shivaratri, um ihren Körper zu reinigen und ihren Geist zu fokussieren. Das Fasten beginnt am Morgen des Festtages und dauert bis zum nächsten Morgen. Einige verzichten vollständig auf Nahrung und Wasser, während andere leichte, sattwige Speisen zu sich nehmen. Dieses Opfer symbolisiert die Hingabe und den Willen, weltliche Bedürfnisse zugunsten spiritueller Ziele zurückzustellen.

Nachtwache (Jagaran): Die Nacht von Shivaratri wird traditionell mit Gebeten und Meditationen durchwacht. Gläubige versammeln sich in Tempeln oder zuhause, singen Bhajans (spirituelle Lieder) und rezitieren Mantras wie “Om Namah Shivaya”. Diese ununterbrochene Wachsamkeit symbolisiert den Sieg des Bewusstseins über die Dunkelheit und die Unwissenheit.

Verehrung des Linga(m): Der Shiva-Linga ist das anikonische Symbol für Shiva. Häufig werden Skulpturen oder von der Natur geformte steinerne Lingas in Zeremonien mit Wasser, Milch, Joghurt, Honig und Ghee übergossen (Abhishekam) oder mit Bilva-Blättern dekoriert.

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Inspiration für deine Yogapraxis

Diese Rituale lassen sich teilweise schwer 1:1 in unseren westlichen Alltag übernehmen und das ist auch gar nicht die Intention. Dennoch können wir uns von Shivaratri inspirieren lassen, die eigene Yoga- und Meditationspraxis zu vertiefen und uns mit den transformierenden Energien Shivas zu verbinden. Hier ein paar Ideen:

Mantras zu Ehren von Shiva:

Das Rezitieren von Mantras ist ein zentraler Bestandteil der Shivaratri-Feierlichkeiten. Insbesondere das fünfsilbige Mantra “Om Namah Shivaya” wird mit Hingabe wiederholt, um den Geist zu fokussieren und eine tiefe Verbindung zu Shiva herzustellen. Dieses Mantra gilt als besonders kraftvoll und hilft, die Präsenz Shivas im eigenen Inneren zu erfahren. Auch das Maha Mrityunjaya-Mantra (Om Tryambakam) richtet sich an Shiva und bietet sich heute wunderbar an. Das Chanten, aber auch das Lauschen kann sehr kraftvoll sein.

Der Tanz des Shiva:

Du möchtest den tanzenden Shiva in deiner Asana-Praxis verkörpern? Wie wäre es mit Natarajasana, Parivrtta Hasta Padangusthasana oder Tandavasana? Alle drei Variationen symbolisieren Shivas Tanz der Schöpfung und Zerstörung und fördern gleichzeitig deine Balance, Flexibilität und Konzentration. Sie erinnern daran, dass das Leben ein ständiger Fluss von Veränderung und Transformation ist.

Hier erfährst du noch mehr über die tiefere Bedeutung von Shivas Tanz:

Meditation und innere Stille:

Shiva verkörpert die absolute Stille und den Zustand tiefer Meditation. Die Nacht von Shivaratri eignet sich hervorragend für längere Meditationssitzungen, um den Geist zu beruhigen und in die eigene innere Tiefe einzutauchen. Durch Meditation kannst du versuchen, die kosmische Energie Shivas zu erfahren und ein Gefühl der Einheit mit dem universellen Bewusstsein zu entwickeln.

Vorbereitung und Fasten:

Beginne den Tag von Shivaratri mit einem bewussten Fasten, um Körper und Geist zu reinigen. Gestalte dies aber unbedingt nach deiner persönlichen Kapazität, denn Fasten eignet sich nicht für alle gleichermaßen. Als milde Variante könntest du zum Beispiel nur leichte, sattvische Speisen wie Kitchari zu dir nehmen und nur stilles Wasser und Kräutertees trinken. Diese Praxis unterstützt die innere Reinigung und bereitet dich auf die spirituellen Aktivitäten des Abends bzw. der Nacht vor. Auch ein Digital Detox kann dir an diesem Tag helfen, Klarheit zu gewinnen.

Praxis am Abend:

Die traditionelle Nachtwache zu Shivaratri symbolisiert das Überwinden der Dunkelheit durch das Licht des Bewusstseins und kann transformative spirituelle Erfahrungen ermöglichen. Womöglich passt es nicht so gut in deinen Alltag, eine ganze Nacht wach zu bleiben. Aber wie wäre es, den Abend bewusst zu gestalten und dich statt Netflix & Co voll und ganz deiner Sadhana zu widmen?

Fazit

Die Nacht des Shiva erinnert uns an die Kraft der Stille, die Notwendigkeit von Loslassen und Erneuerung sowie die Bedeutung von Hingabe und Bewusstsein. Diese Aspekte gehen über den Feiertag hinaus und können uns langfristig auf dem spirituellen Weg begleiten.

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Um Shivas transformative Energie nachhaltig zu verankern, können wir diese regelmäßig in unsere Yogapraxis einbauen. Ebenso bedeutet Erneuerung, sich immer wieder von alten Denkmustern und Gewohnheiten zu lösen und offen für Veränderung zu bleiben – genau wie Shiva in seinem Tanz des Lebens. Wer diese Prinzipien kultiviert, wird feststellen, dass Spiritualität nicht nur in besonderen Nächten erlebt wird, sondern in jedem Moment des Seins.

In diesem Sinne: Om Namah Shivaya!


Shiva und Shakti sind zwei zentrale Konzepte im Tantra. Erfahre in dieser Podcast-Folge mehr darüber: