Jeder Mensch tickt anders, jedes Gehirn ist anders aufgebaut – das ist die Botschaft, die hinter dem Begriff Neurodiversität steckt. Yoga und Meditation können vielfach eine Hilfe sein, aber viel wichtiger ist etwas anderes: die Unterschiede zu würdigen.
Text: Andrea Goffart / Titelbild: designer491 von Getty Images via Canva
Keine Rose gleicht der anderen und doch ist jede perfekt. Kein Mensch gleicht dem anderen, und doch …? Wie schnell es vorbei ist mit der Idee von Perfektion, auch und gerade bei Menschen, die uns nahestehen, werden einige von euch vielleicht beim nächsten Brunch mit der Familie wieder erleben: Spätestens, wenn Peter die Tante Erika nicht umarmen will, weil sie “komisch riecht” und Mia das Geschenk vom Opa nicht auspackt, weil auf dem Geschenkpapier Tiere abgebildet sind, ist das friedliche schlemmen möglicherweise vorbei. Und vielleicht fragen sich die Eltern: “Wollen wir doch mal einen Arzt aufsuchen? Es wäre so schön, wenn die Kinder einfach normal sein könnten.“
Normal – gibt es das?
Auch aus dem Yoga kennen wir diese Fragestellung. Die Asana, sei es der Krieger oder das Dreieck, wird in ihrer reinen Form gelehrt. Und trifft auf eine Yogaschülerin und ihren Körper. Wenn beide zusammenpassen – wunderbar. Wenn nicht, dann raten viele zu Geduld und sanftem Adjustment, andere vertreten die These, dass nur die Übende selbst wissen könne, was gut für sie ist. Unsere Gesellschaft geht davon aus, dass es in nahezu jeder Hinsicht eine Norm gibt. Menschen, die dieser Norm weitgehend entsprechen, gelten als “normal”. Die anderen – schwierig. Ganz besonders wenn es um Wesen und Psyche geht.
Denn auch hier gibt es die “Normalen” oder “Neurotypischen” und es gibt Menschen, die “anders” sind, aufgrund anderer Verschaltungen im Hirn. Sie werden als “neurodivergent” bezeichnet, also vom Normaltypus abweichend. Das sind zum Beispiel Menschen im autistischen Spektrum, mit ADHS, mit Dyskalkulie oder Dyslexie. Auch Entwicklungsverzögerungen, das Tourette-Syndrom oder Trisomie-21 zählen zu Neurodivergenz. Wieder andere haben Zwangsgedanken, und auch Hoch- oder Hypersensibilität fällt in das breite Spektrum der Neurodivergenz. Oder bedingt sie vielleicht sogar? Eine spannende Frage, der auch die aktuelle Forschung nachgeht.
Diagnose Neurodiversität
Alles in allem gibt es jedenfalls ziemlich viele Gehirne, die jenseits der vermeintlichen Norm funktionieren, und meistens fällt es schwer, eine Diagnose trennscharf zu treffen. Eine solche Diagnose ist allerdings in unserem Gesundheits- und Schulsystem die Voraussetzung, um sich Unterstützung holen oder einen Nachteilsausgleich bekommen zu können. Und diese Unterstützung suchen viele – überforderte Eltern, gestresste Lehrer*innen und vor allem auch viele Erwachsene, die vielleicht erfolgreich im Berufsleben stehen und ihre Besonderheiten jahrzehntelang maskiert haben. Das erfordert ein hohes Maß an Anstrengung und irgendwann, vielleicht an einem Punkt der Lebenswende, gibt man auf, stürzt in einen Burnout – oder erlaubt sich das Anderssein und ist vielleicht sogar dankbar für die Diagnose.
Symptome der Neurodiversität oder das Spektrum der Norm?
Mit dieser Erkenntnis einher geht nämlich häufig die Idee, die eigene Besonderheit der Wahrnehmung nicht mehr als Störung anzusehen, sondern sie als eine der vielfältigen Ausprägungen innerhalb der Norm anzuerkennen. Dann fällt es leichter, die Schwächen zu kompensieren und die Stärken in den Vordergrund zu rücken. Ausgestattet mit einem neuen Selbst-Bewusstsein starten Autist*innen mit Mitte 50 nochmal durch, machen einen Masterabschluss in Psychologie oder erfüllen sich den langgehegten Traum einer Weltreise. Und überhaupt – wo findet sich diese vielzitierte Norm? Viele “normale” Menschen weisen Symptome aus dem weiten Spektrum der Neurodivergenz auf und sehen sie als Persönlichkeitsmerkmale. Auch ihnen fällt es schwer, soziale Bande zu knüpfen, zu kommunizieren, oder Veränderungen werfen sie aus der Bahn – was auch immer. Irgendwo findet sich immer ein Verhalten, das irgendwie nicht normal ist, oder eine Wahrnehmung, die besonders ist.

3 Fragen an: BRUNO BLUME

Bruno Blume aus Luzern ist Vorsitzender des Dachverbands Neurodiversität neurodivers-dach.org
Bruno, wie kamst du zum Verband? Oder frage ich besser: Wie kam der Verband zu dir?
Neurodiversität betrifft uns alle, aber mit der Diagnose meiner Kinder wurde es für mich unausweichlich, die Vernetzung mit anderen Betroffenen und Fachleuten zu suchen – und so hat sich ein Zusammenschluss aufgedrängt. Vielleicht lässt sich sagen: Mein ADHS hat die Gründung vorangetrieben, mein Autismus hat mich über die Jahre dranbleiben lassen.
Haben Yoga und/oder Meditation Einfluss auf die Normkompetenz (das ist ein blödes Wort, oder?) von neurodivergenten Menschen?
Nein, Normkompetenz ist ein sehr schönes Wort, das will ich mir gerne aneignen. Grundsätzlich mache ich die Erfahrung, dass für viele neurodivergente Menschen Yoga ein Horror ist und Meditation sowieso, weil beide ja die Erfahrung einer inneren Mitte zum Ziel haben. Aber diese Mitte, überhaupt das Körperempfinden, ist vielen Neurodivergenten abhanden gekommen. Immer wieder mussten wir hören, dass unsere Empfindungen falsch, unsere Gefühle störend sind. Irgendwann haben wir aufgehört, auf unseren Körper zu hören, das schien für viele von uns sicherer, einfacher.
Auf der anderen Seite kenne ich viele Menschen im Spektrum, denen Yoga und Meditation sehr helfen und das gilt für mich selbst auch. Aber der Anfang ist schwer – zu Beginn wusste ich gar nicht, welche Muskeln gemeint waren, was ich anspannen und loslassen soll und wie ich den Unterschied zwischen Anspannung und Entspannung überhaupt feststelle. Doch es lohnt sich, denn es ist essenziell, die innere Mitte zu finden. Es verbessert meine “Normkompetenz”, vor allem aber es gibt mir die Möglichkeit, aus meiner Wahrnehmung heraus zu entscheiden, ob ich mich “normal” verhalten will oder eben bewusst nicht. Außerdem schenkt mir die Meditation den Blick auf die Verbundenheit – und wenn ich eins mit allem bin, dann löst sich die Idee einer Norm und der Abweichung davon auf.
Und wird mit der Idee der All-Einheit nicht auch die Einzigartigkeit tragbarer?
Ja, die Vorstellung des All-Einsseins bedingt genau das: Ich bin nicht falsch, ich kann nicht falsch sein, weil ich Teil von allem bin.
Ich will einfach meine Ruhe
Also – einfach die Stärken erkennen und alles ist gut? Das sagt sich so leicht und doch ist die Situation mit einer autistischen Tochter oder einem Sohn mit ADHS-Diagnose für Eltern sehr belastend. Wer als Mutter nach acht Stunden im Büro ein schreiendes Kind durch den Supermarkt zerren muss, weil wieder mal ein Schuh drückt, der gestern noch wie angegossen passte, ist schnell am Ende: Sch… auf Vielfalt – ich möchte einfach mal meine Ruhe! Und dann ist da auch ein gewisser Druck, sein Kind “im Griff” haben zu müssen. Nicht immer ist die Neurodivergenz das Problem – es ist das Scheitern an der Norm.
Die Vielfalt der Wahrnehmung
Das Wichtigste, erklärte mir Bruno Blume, ist die Anerkennung der anderen Wahrnehmung. Kinder im Spektrum irgendwo zwischen ADHS und Autismus haben zehntausendmal öfter als andere gehört, dass ihre Wahrnehmung falsch ist, dass sie insgesamt falsch sind. Irgendwann nimmt die Frustration überhand und dann hilft oft nur noch eins: Schreien. Schlagen. Oder dichtmachen, abschotten und vielleicht versuchen, sich selbst zu beruhigen, hin- und herzuschaukeln. Eigentlich ganz wunderbar, dass viele Kinder solche Mechanismen intuitiv anwenden, denn sie helfen offensichtlich – sind aber natürlich “nicht normal”.
Die Mutter im obigen Beispiel hat nach Brunos Auffassung zwei Möglichkeiten – und beide basieren auf der Anerkennung der Wahrnehmung “der Schuh drückt”.
Möglichkeit 1: Okay Schatz, der Schuh drückt. In 10 Minuten sind wir zu Hause und du kannst ihn ausziehen. Was meinst du, hältst du es so lange aus? Wenn ja – großartig und zu Hause feiern wir dann gemeinsam den Zugewinn, dass die Komfortzone ein kleines bisschen weiter geworden ist. Wenn nein – gut, dann lass mal schauen. Und dann nimmt man sich – Möglichkeit 2 – trotz engem Tagesplan diese paar Minuten Zeit, um mitten im vollen Supermarkt in aller Ruhe den Schuh zu inspizieren und trainiert nebenbei die eigene Frustrationstoleranz.

Meditation und Yoga als Unterstützung
Ihr glaubt, ich hätte leicht reden? Das stimmt insoweit, als ich keine Kinder hab und auch nicht genug über schwere Ausprägungen der Neurodivergenz weiß. Andererseits kenne ich Situationen wie die beschriebene aus meiner eigenen Kindheit: Immer war ich falsch und anstrengend und sollte mich nicht so anstellen. Irgendwann, Mitte 40, rettete mich der Begriff der Hochsensibilität, weil er mir einen Raum öffnete, in dem ich mich einrichten konnte – den hatte es bis dahin nicht gegeben. Ich bekam Hilfe und Anregung, begann zu forschen und startete eine Reise zur nächsten rettenden Insel: Meditation und vor allem Yoga.
Om – alles gut?
Achtsamkeit, Meditation und körperliche Aktivität (das kann Asana, aber auch Gartenarbeit sein) bewähren sich bei vielen, aber nicht allen Menschen, die sich irgendwo im Spektrum wiederfinden. Zum einen beinhalten sie gewisse Routinen und werden als beruhigend empfunden. Zum anderen – und das scheint essenziell zu sein – helfen uns Yoga oder Meditation, im eigenen Körper anzukommen, uns zu erden. Der Fachbegriff lautet Interozeption. Als körperliche Wesen nehmen wir die Umwelt über unsere Sinne wahr. Wenn alles gut läuft, können wir diese Informationen handhaben und sind in der Lage, Gefühle und Verhalten angemessen zu regulieren.
Menschen im Spektrum berichten oft von sensorischen Besonderheiten, viele haben ihren Körper irgendwann “verloren”, können essenzielle Bedürfnisse wie Hunger, Durst, Müdigkeit und Stress nicht mehr (rechtzeitig) erkennen. Dann wird “durchgehalten” und was folgt, ist der oft zitierte Wutanfall, der in der Fachterminologie “Meltdown” heißt, oder gar ein totaler Zusammenbruch, der “Shutdown”. Das Erkennen der eigenen Wahrnehmung als innerem Navigationssystem kann helfen.
Hinweisgeber in einer wilden Welt
Abschließen möchte ich diesen Beitrag mit einem gewagten Plädoyer: Was wäre, wenn wir die besondere Wahrnehmungsfähigkeit der Menschen im gesamten Spektrum nutzen würden, um ein gesellschaftliches Navigationssystem zu entwickeln? Ein Navi für die unbekannten Zukünfte, die wir entdecken dürfen, um Wege aus den aktuellen Dilemmata der Welt – Krieg, Klimawandel, Katastrophendichte – zu finden? Im Spektrum finden sich Menschen mit Empathie und einer immensen Vorstellungskraft. Sie könnten uns Wege aus der Komplexität der Welt zeigen, in die uns das “normale” Erfahrungswissen nur immer weiter hineinführt. Andere, vielleicht Menschen mit Trisomie-21, bringen mit ihrer Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft Licht in unsere Dunkelheit, sie könnten unsere Achtsamkeitsglocken werden. Und schlussendlich: Wer sonst sollte in Zeiten von Ausgrenzung und Schwarz-weiß-Denken besser Räume jenseits von richtig und falsch öffnen können als Menschen, die sich zeitlebens unerwünscht oder falsch fühlten? Könnte es sogar sein, dass Neurodiversität unsere wertvollste Ressource ist?

Andrea Goffart, Autorin und Schreibcoach, bezeichnete sich eine Zeit lang als hochsensibel. Inzwischen findet sie, dass jede Zuschreibung eine Schublade ist, und möchte lieber nur einfach sie selbst sein dürfen. andrea-goffart.de
Die Kehrseite von Sensibilität ist oft Reizüberflutung. Kommt dir bekannt vor? Keine Sorge, du musst dich deshalb nicht abschotten. Lies hier, wie du mit deiner Wahrnehmung arbeiten kannst – anstatt dagegen.































