Erkunde die philosophischen Grundlagen von Yoga und Vedanta und was diese Lehren für moderne Yogi*nis bedeuten
Im zweiten Teil unserer Doppelfolge über die sechs klassischen Darshanas tauchen wir noch tiefer in die Philosophie Indiens ein. Nachdem wir im ersten Teil die Systeme Samkhya, Nyaya, Vaisheshika und Purva Mimamsa behandelt haben, richten wir heute den Fokus auf die beiden besonders prägenden Darshanas: Vedanta und Yoga. Gemeinsam mit Yogalehrer und Philosophie-Experte Timo Wahl geht Gastgeberin Susanne Mors den tiefen Fragen nach, die diese Lehren aufwerfen. Was bedeuten Dualität (Dvaita) und Nicht-Dualität (Advaita) im Vedanta? Wie prägen Brahman, Atman und Maya das Verständnis der Realität? Und welche Rolle spielt das Yoga-Darshana nach Patanjali für die Entwicklung der yogischen Praxis?
Wir besprechen, wie diese Philosophiesysteme nicht nur die meditative Praxis, sondern auch das alltägliche Leben und die Suche nach spiritueller Befreiung beeinflussen. Außerdem werfen wir einen Blick darauf, wie sich die unterschiedlichen philosophischen Ansätze von Vedanta und Yoga ergänzen – und was es mit der Vorstellung auf sich hat, dass die höchste Stufe des Yoga, Samadhi, letztlich die Verschmelzung mit dem wahren Selbst bedeutet. Zum Ende verrät Timo noch, wie die Beschäftigung mit den sechs Darshanas seine eigene Spiritualität und Sicht auf das Leben beeinflusst hat.
Diese Folge YogaWorld Podcast gibt dir die Möglichkeit, tiefer in die philosophischen Wurzeln des Yoga einzutauchen und wertvolle Impulse für deine eigene Praxis zu entdecken.
Samatvam Asana heißt diese kniffelige Pose auch – was nichts anderes bedeutet als: Gleichgewichtshaltung. Unsere Kolumnistin nimmt sie zum Anlass, einmal etwas grundsätzlicher über das Thema Balance nachzudenken…
Text: Jelena Lieberberg / Foto: NenadBlazevic
Eine alte, oft zitierte Definition von Yoga stammt aus der Bhagavad Gita:samatvam yoga uchyate (II.48), was man übersetzen kann als “Yoga ist Balance”, aber auch “Yoga ist Ausgeglichenheit”. Dieser Vers unterstreicht die zentrale Rolle des Gleichgewichts sowohl in der Yogapraxis als auch im Leben. Als Yogi*nis suchen wir nach körperlichem, geistigem und spirituellem Gleichgewicht. Aber das ist kein statischer Zustand, wir können uns Balance eher als eine unendliche Reise zu uns selbst vorstellen.
Diese persönliche Reise beginnt damit, dass wir ein sensibles Bewusstsein für den sich ständig verändernden Moment entwickeln und lernen, darauf zu reagieren. Dazu gehört das Korrigieren von Fehlern und dann wiederum das Korrigieren einer Überkorrektur dieser Fehler. Für die Asana-Praxis bedeutet das: Wenn wir uns zu weit in eine Richtung bewegen, müssen wir uns ein wenig in Richtung des anderen Pols orientieren, um uns wieder ins Gleichgewicht zu bringen.
Ein bewusster Atem erleichtert uns diese Präsenz, er macht uns auf entspannte Weise ansprechbar: Sicher hast du schon mal beobachten können, wie gleichmäßige Ein- und Ausatmungen einen geschmeidigen und zentrierten Körper schaffen, während verkürzte oder angehaltene Atemzüge zu Empfindungen von Steifheit und Unverbundenheit führen.
Aber selbst wenn du von außen betrachtet völlig entspannt im Gleichgewicht zu sein scheinst: Das Spiel der Balance hört nie auf, innerlich spürst du auch innerhalb von Stabilität immer kleine und kleinste Anpassungen, ein ständiges Wechselspiel von Bewegung in der Stille und Stille in der Bewegung. Darum geht es auch in der Asana, die ich dir jetzt vorstellen will.
Macht das Spaß?
Auf jeden Fall! Wer es gerne knifflig mag, wird bei diesem Balanceakt auf seine Kosten kommen: Du brauchst eine Menge Geduld und ständige Mikro-Korrekturen, um Balance zu finden.
Muss ich das können?
Natürlich nicht. Gerade bei Knieverletzungen oder -beschwerden sind tiefe Hocken wie diese keine gute Idee. Aber das heißt nicht, dass du nicht auch anders deine Balance verbessern kannst, zum Beispiel mit einem einfachen Baum (Vrksasana).
Was muss ich dafür tun?
Sonnengrüße helfen, Hitze zu erzeugen und den Kreislauf in Schwung zu bringen. Danach darf alles geübt werden, was die Kniegelenke zum Glücklichsein brauchen: einfache Kniebeugen mit dem eigenen Körpergewicht, die tiefe Hocke und das Strecken und Anheben der Beine im Stand.
Step by Step
1. Beginne im aufrechten Stand, spüre deine Mittelachse und deinen ruhig fließenden Atem. Dann hebe deine Fersen und finde erst einmal hier bewusst ins Gleichgewicht.
2. Senke langsam dein Gesäß bis auf die Fersen, ohne dabei die Füße flach aufzusetzen. Klappt das? Dann richte dich langsam wieder zum Stehen auf.
3. Für die Tip Toe Pose gibt es zwei Varianten: Entweder du lässt einen Fuß am Boden nach vorn gleiten, während du in die Hocke kommst und versuchst dann anschließend, das Bein aus der Kraft deiner tiefen Bauchmuskulatur anzuheben. Oder (noch anspruchsvoller) du streckst das Bein waagerecht nach vorne und hältst es in der Luft, während du das Becken senkst. Stell dir dabei vor, dass deine beiden Oberschenkel magnetisch miteinander verbunden sind.
4. Richte die Wirbelsäule gerade auf und verbinde dich immer wieder bewusst mit deinem Atem und dem Bewusstsein, dass Gleichgewicht ein Prozess ist. Du kannst die Fingerspitzen seitlich der Hüften auf Blöcken aufsetzen, um das Balancieren zu unterstützen. Wiederhole die Übung auf beiden Seiten. An manchen Tagen wird sie dir leichter fallen als an anderen. Sei geduldig.
JELENA LIEBERBERG ist Osteopathin und Yogacoach in Berlin. Ihre eBooks, Retreats und Workshops findest du unter kickassyoga.com oder besuche Jelena auf Insta @kickassyoga.
Mabon steht vor der Tür. Das keltische Fest zur Herbst-Tagundnachtgleiche ist eines der acht Jahreskreisfeste, die schon unsere Vorfahr*innen gefeiert haben. Beate Tschirch stellt dir hier die Bedeutung der keltischen Feste vor und erklärt, wie uns diese Rituale wieder in die Verbindung zur rhythmischen Lebendigkeit der Natur bringen – und wie das auch zu mehr Harmonie mit uns selbst führt.
Text & Titelbild: Beate Tschirch
Draußen liegt Schnee, aber auf meinem Frühstückstisch steht ein cremiges Müsli, garniert mit frischen Himbeeren und Erdbeeren. Dieses Bild verkörpert unsere moderne Welt eigentlich perfekt: Nahezu alles ist zu jeder Zeit verfügbar. Ein Luxus, den wir oft ohne viel Nachdenken genießen. Was wir dabei aber leider übersehen: Wir verlieren den Bezug zur natürlichen Ordnung. Wir haben vergessen, dass Erdbeeren im Frühsommer reifen, dass Hühner nur Eier legen, wenn sie ausreichend Tageslicht bekommen und dass unsere Urgroßeltern noch sprichwörtlich “mit den Hühnern ins Bett gingen”, weil es kein elektrisches Licht gab.
Stattdessen haben wir uns in einem Meer von Zeitplänen, digitalen Anforderungen und unmittelbaren Bedürfnissen verloren. Mit dieser Einsicht begann meine Reise in die Welt der Jahreskreisfeste – nicht auf einem abgelegenen Pfad oder in einer fernen Zeit, sondern hier, in meiner Küche, mit einem Müsli voller Sommerfrüchte mitten im Winter. Ich begriff, dass wir etwas ganz Wesentliches vergessen haben: dass das Leben weiterhin aus Phasen besteht – Zeiten des Wachstums, der Ernte, des Loslassens und des Neubeginns. Die alten Jahreskreisfeste erinnern uns daran, dass alles seine Zeit hat. Und so begann ich zu entdecken, wie wir durch das Feiern dieser Feste eine tiefere Harmonie mit der Natur und letztendlich mit uns selbst erreichen können.
“Die alten Jahreskreisfeste erinnern uns daran, dass alles seine Zeit hat: Zeiten des Wachstums, der Ernte, des Loslassens und des Neubeginns.”
Frühling, Sommer, Herbst und Winter – diese Zyklen wiederholen sich seit Millionen von Jahren. Es ist beruhigend zu wissen, dass der nächste Sommer sicher kommt. Denn auch wenn ein Jahr keine reiche Ernte schenkte, unsere Ahn*innen vertrauten darauf, dass mit dem nächsten Jahreskreis auch das Versprechen eines Neuanfangs kommt. Darin liegt eine sich ständig verändernde, aber dennoch unendlich verlässliche Ordnung allen Lebens.
Die Natur gab unseren Vorfahr*innen klare Signale und sie wussten genau, was jeweils zu tun war. Niemals hätten sie Kohl und Karotten im Winter ausgesät oder erwartet, dass sie im Frost gedeihen. Ihre Verbindung mit der Natur war tief verwurzelt und umfasste ein umfangreiches Verständnis ihrer Auswirkungen auf das tägliche Leben. Auch heute noch reagieren wir ganz selbstverständlich auf ihre Einflüsse: Im Sommer tragen wir Shorts, springen in Seen und genießen die Wärme, während wir uns im Herbst mit Decken einmummeln, Tee trinken und die Gemütlichkeit drinnen suchen.
Denn auch wenn wir viel altes Wissen und Bewusstsein eingebüßt haben: Wir sind immer noch Teil dieses ewigen Zyklus, in dem jede Jahreszeit ihre eigene Bedeutung und Einzigartigkeit hat.
Bilder des magischen Zyklus
Schon in vorhistorischer Zeit beobachteten Menschen den Lauf der Sonne und der Gestirne. Auch der Mond mit seinem Einfluss auf die Gezeiten spielte eine wichtige Rolle. Die Mondphasen halfen ihnen, das Timing zum Beispiel beim Pflanzen und Ernten genauer zu bestimmen. Auch die Wetterphänomene wie die Schneeschmelze oder die Wanderungen von Tieren waren wichtige Signale, die dabei halfen, eigene Aktivitäten zu planen. All das bildete nach und nach die Grundlage für verschiedene Kalendersysteme. Neben den vier Jahreszeiten mit den am Mond ausgerichteten zwölf Monaten gab es auch Modelle mit acht Abschnitten. Wir kennen sie noch heute als “Rad des Jahres” oder als Jahreskreis.
Wenn wir ein Rad mit acht Speichen auf den Kreis des Jahres legen, gibt es zwei Hauptachsen. Diese richten sich nach der Position der Sonne und werden daher auch als Sonnenfeste bezeichnet: Die Wintersonnenwende markiert den Beginn des Winters. Die Frühlings-Tagundnachtgleiche läutet den Frühling ein. Die Sommersonnenwende verkündet den Beginn des Sommers. Und die Herbst-Tagundnachtgleiche bedeutet Herbstanfang.
Feste im Einklang mit der Natur
Nun hat der Frühling im März eine völlig andere Qualität als sechs Wochen später im Mai – und so verhält es sich mit allen Jahreszeiten. Ein Fest pro Jahreszeit reichte also nicht aus. Daher finden zwischen den Sonnenfesten jeweils weitere Feste statt, die Erd- oder Mondfeste genannt werden: Samhain (auch bekannt als Halloween), Imbolc (Brigid oder Mariä Lichtmess), Beltane (Walpurgis) und Lughnasadh (Lammas oder Schnitterfest).
All diese Feste reichen tief in die europäischen Kulturen zurück – lange bevor sie die christliche Bedeutung erlangten, die wir noch heute zum Beispiel als Ostern und Weihnachten feiern. Wenn wir uns heute wieder an sie erinnern, dann nicht, um heidnische Riten oder die keltische Kultur wiederzubeleben, deren Namen sie tragen. Es geht vielmehr darum, dass sie uns helfen, uns wieder mit den natürlichen Zyklen in Einklang zu bringen.
“Es ist fast so, als würden wir wieder im Rhythmus der Welt mittanzen.”
Dabei können wir nicht nur die Weisheit vergangener Generationen bewahren, sondern auch ein tieferes Verständnis für die Erde und unser eigenes Leben entwickeln. Fast so, als würden wir wieder im Rhythmus der Welt mittanzen und dadurch eine harmonischere Verbindung zwischen Körper und Seele herstellen.
Die 8 Jahreskreisfeste
Der Jahreskreis teilt sich in eine dunkle und eine helle Seite: die “Jahresnacht” und den “Jahrestag“. Ähnlich wie der Mondzyklus mit dem Neumond beginnt, startete auch das Jahr für unsere Vorfahr*innen Anfang November mit der dunklen Hälfte. Dadurch wird verdeutlicht, dass alles Leben wie im Mutterleib aus den Tiefen der Dunkelheit geboren wird. Die Dunkelheit ist also etwas Positives – eine Geburt aus Finsternis, die nicht im Tod und ewiger Verdunklung endet, sondern sich zyklisch erneuert. Dabei wird die Natur oft als nährende Mutter angesehen; eine göttliche Frau, die verschiedene Phasen durchläuft und je nach Phase in unterschiedlichen Farben dargestellt wird: weiße Göttin (Maid), rote Göttin (Mutter) und schwarze Göttin (Alte).
Samhain (31. Oktober)
Samhain ist ein keltisches Fest, das den Beginn des neuen Jahres markiert. Wir kennen es heute als Halloween. Es wird in der Nacht vom 31. Oktober zum 1. November gefeiert. Die letzte Ernte des Jahres ist eingebracht und die Menschen bereiten sich auf die kälteren Monate vor. Samhain symbolisiert daher den Übergang von der warmen Zeit in die dunkle, ruhende Phase des Jahres. Es ist eine Zeit des Loslassens und des Rückblicks, der Reflexion und des Teilens von Geschichten über die Verstorbenen. Man glaubte nämlich, dass an Samhain die Tore zwischen der Welt der Lebenden und der Toten offenstehen. Deshalb vollzog man Schutzrituale und hinterließ Opfergaben, um sie zu ehren und zu besänftigen.
Yule (um den 21. Dezember)
Die Wintersonnenwende ist die längste Nacht des Jahres und zugleich die Wiedergeburt des Lichts. Dieser Wendepunkt ist ein Fest der Hoffnung: Mit den Yule-Bräuchen ehren wir nicht nur die Kraft des Lichts, sondern auch die Urmutter, die Quelle des Lebens. Wir reflektieren über die Vergangenheit und richten gleichzeitig unseren Blick auf den Neubeginn. Yule ist eine Zeit der Zusammenkunft, der Freude und Hoffnung. Wir feiern die Verbindung zur Natur und die Zyklen des Lebens. Das Entzünden von Feuern und das Dekorieren mit immergrünen Zweigen (daher der weihnachtliche Tannenbaum) symbolisiert das Leben, das auch in den dunkelsten Zeiten weitergeht.
Imbolc (um den 1. Februar)
Imbolc oder Brigid, im Christentum ersetzt durch Mariä Lichtmess, markiert den Übergang vom tiefen Winter zur ersten Frühlingszeit. Es wird traditionell am 1. Februar gefeiert, wenn die Natur allmählich aus ihrem Winterschlaf erwacht. Es ist eine Zeit des Reinigens, der Vorbereitung und der Erneuerung. Traditionell werden an Imbolc Kerzen entzündet und Reinigungsrituale durchgeführt. Es ist eine Gelegenheit, unsere Absichten für das kommende Jahr zu formulieren und Kreativität zu fördern, denn Imbolc ermutigt uns dazu, Dunkelheit zu überwinden und das Licht in uns zu entfachen.
Ostara (um den 21. März)
Ostara, die Frühlings-Tagundnachtgleiche, feiert den offiziellen Beginn des Frühlings. Ostara symbolisiert die Erneuerung des Lebens, das Erwachen der Natur und die Fülle, die mit dem Frühling einhergeht. Es ist eine Zeit der Freude und des Optimismus. Zu den Ostara-Bräuchen gehört das Pflanzen von Samen, das Dekorieren von Eiern als Symbole für Fruchtbarkeit und die Wiederbelebung der Natur. Ostara erinnert uns daran, Neuanfänge im Leben so zu begrüßen, wie wir auch die jetzt wachsenden Blüten willkommen heißen. Es ist die beste Gelegenheit, mit unseren Projekten zu starten, damit sie in diesem Jahr wachsen können.
Beltane (Nacht zum 1. Mai oder 5. Vollmond nach dem Yulefest)
Beltane, die Walpurgisnacht, ehrt die Freude am Leben, die Fruchtbarkeit der Natur und die Vereinigung von männlicher und weiblicher Energie. Das Fest ermutigt dazu, uns mit der Natur zu verbinden und die Energie des Frühlings zu nutzen. Wir dürfen unsere Lebendigkeit spüren und uns auf die kommenden Monate der Fülle freuen. Die traditionellen Beltane-Rituale zeigen das deutlich: Man entzündet große Feuer, die die Sonnenkraft ehren, stellt Maibäume als Symbol der Fruchtbarkeit auf und tanzt ausgelassen im Freien.
Litha (um den 21. Juni)
Litha, die im Christentum mit Johanni gefeierte Sommersonnwende, markiert den Höhepunkt des Sommers. Es feiert den längsten Tag des Jahres und hat eine tiefe Verbindung zur Sonnenenergie – ein Moment der Fülle, wenn die Sonne ihren Zenith erreicht. Jetzt werden traditionell Sonnwendfeuer entzündet, die Reinigung und Transformation symbolisieren, denn wir stehen an einem Wendepunkt im Jahreskreis: Jetzt beginnt der schrittweise Rückgang des Sonnenlichts. Litha ermutigt uns, die Natur jetzt in ihrer Fülle zu würdigen, die Sonnenenergie zu nutzen und das Leben in vollen Zügen zu genießen.
Lughnasadh (Nacht zum 1. August oder 8. Vollmond nach Yule)
Anfang August feiern wir Lughnasadh, in den alten Kulturen auch als Lammas oder Schnitterfest bekannt und im Christentum überführt zu Mariä Himmelfahrt. Es markiert den Beginn der Erntezeit und ehrte ursprünglich den keltischen Sonnengott Lugh. Dieses Fest ist eine Hommage an die Erde, eine Zeit der Dankbarkeit für die Nahrung, die sie uns schenkt, und eine Gelegenheit, die harte Arbeit der Landwirt*innen anzuerkennen.
Bei den Feierlichkeiten stehen gemeinsame Mahlzeiten, Wettkämpfe und Handwerkskunst im Mittelpunkt. Man backt Brote aus dem ersten geernteten Getreide und bringt sie als Opfergaben dar. All das erinnert uns daran, dass Fülle nicht selbstverständlich ist – auch bezogen auf die eigenen Anstrengungen und Ziele. Es ermutigt dazu, Erfolge zu feiern und gleichzeitig Vorbereitungen für kommende Veränderungen und Herausforderungen zu treffen.
Mabon (um den 21. September)
Die mit Mabon, dem Matthäustag oder Michaeli gefeierte Herbst-Tagundnachtgleiche markiert den astronomischen Beginn des Herbstes. Es ist eine Zeit der Balance, in der Tag und Nacht nahezu gleich lang sind. Zugleich feiern wir den Höhepunkt der Erntesaison und haben Gelegenheit für Dankbarkeit: Früchte, Gemüse, Getreide und anderes mehr wird als Symbol für Wohlstand, Überfluss und Reichtum feierlich präsentiert. Zugleich bereiten wir uns im Einklang mit der Natur darauf vor, bald in die Ruheperiode einzutreten. Es ist eine Zeit des Loslassens, in der wir uns von dem trennen, was wir nicht mehr brauchen, und Platz für Neues schaffen.
Müssen die Termine für die Feste eingehalten werden?
Wie haben unsere Vorfahr*innen das wohl gemacht? Sie hatten keinen Computer, der ihnen sagte: “Frühlingsbeginn 2024, 20. März 4.06 MEZ”. Stattdessen orientierten sie sich an der Natur und nutzten altes Wissen. Mein Vorschlag lautet daher: Sei flexibel! Es ist okay, wenn man die Feste ins Wochenende verlegt. So können mehr Menschen teilnehmen und ihr habt ausreichend Zeit füreinander. Probiere auch verschiedene Tageszeiten aus! Wie fühlt es sich an, frühmorgens ein Fest zu feiern oder um Mitternacht zusammenzukommen?
Kompass durch die Zeit
Die Beschäftigung mit den Festen des Jahreskreises macht deutlich: Jahrhunderte und Jahrtausende mögen vergangen sein, doch der Kreislauf der Jahreszeiten bleibt unverändert. In dieser Kontinuität können wir Weisheit, Trost und Inspiration finden. Dabei dienen uns die alten Jahreskreisfeste mit ihrer reichen Symbolik als Kompass durch das Labyrinth der Zeit. Gerade in unserer schnelllebigen Epoche laden sie uns dazu ein, innezuhalten, die Schönheit und Bedeutung jedes Augenblicks zu erkennen und unsere Verbindung zur Natur und zu uns selbst zu stärken.
Lasst uns also gemeinsam dem sanften Rhythmus der Jahreszeiten lauschen. Mögen sie uns auf unserem Weg begleiten und uns daran erinnern, dass wir ein Teil des magischen Zirkels des Lebens sind, eingebettet in einen ewigen, sich wiederholenden Zyklus der Natur. Sie helfen uns, unser eigenes Leben zu verstehen, uns an die unablässigen Veränderungen anzupassen und zu wachsen.
Als moderne Menschen sind wir frei darin, wie wir diese Feste gestalten. Alles, was du brauchst, ist deine Intention. Sei kreativ, sei respektvoll gegenüber der Natur und feiere vor allem mit deinem Herzen. Die folgenden Hinweise können dich dabei unterstützen:
1. Wissen
Bevor du ein Jahreskreisfest begehst, solltest du dich über seinen Hintergrund und seine Bedeutung informieren. Je tiefer du eintauchst, umso faszinierender wird deine Reise in die Vielfalt an spirituellen und kulturellen Traditionen. Das Wissen über Geschichte, Symbolik und Bräuche des jeweiligen Festes eröffnet dir eine tiefere Verbindung zu den zyklischen Rhythmen der Natur.
2. Atmosphäre
Hier geht es nicht so sehr um eine hübsche Deko, sondern darum, dich mit der Essenz des Festes zu verbinden und zugleich deine eigene spirituelle Reise widerzuspiegeln. Dabei spielen Symbole eine wichtige Rolle, angefangen bei den Farben – etwa lebendiges Grün für Ostara oder warmes Gelb für Litha. Auch Steine oder Kristalle können spezifische Energien repräsentieren. Natürliche Elemente wie Zweige, Blumen, Blätter oder Früchte symbolisieren das Wachstum der Natur und stellen eine ganz unmittelbare Verbindung zum Jahreszyklus her. Festes Element für alle Feste sind Kerzen oder Feuer als Symbol des Lichts und der Transformation.
3. Festliche Kleidung
Im Frühling könntest du zum Beispiel helle, leichte Stoffe und florale Muster wählen, die das Erwachen der Natur symbolisieren, während im Herbst warme, erdige Farben die Fülle der Erntezeit einfangen. Auch Schmuck kann deine Verbindung zum Festthema ausdrücken. Zum Beispiel Kränze aus Blumen und Zweigen oder Ohrringe mit Natur-Motiven.
4. Rituale und Zeremonien
Meditationen, Gesänge, Gebete, Tänze oder das Anzünden von Kerzen sind nur einige Beispiele. Wähle Zeremonien, die für dich persönlich bedeutsam sind und die Stimmung des Festes unterstreichen. Deine Handlungen sollen nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich wirken, deine Absicht fokussieren und dich tiefer mit den zyklischen Energien der Natur verbinden. Ganz wichtig: Lege einen klaren Anfangs- und Endpunkt fest. Als Einstieg bieten sich beispielsweise das Beschwören der Elemente, das Ziehen eines magischen Schutzkreises oder eine Räucherrunde an. Der Abschluss kann ein gemeinsames Lied sein sowie der Dank an die Elemente und Himmelsrichtungen. So signalisiert ihr dem Unterbewusstsein, dass hier eine Zeit außerhalb des normalen Alltags stattfindet.
5. Gemeinschaft
Das Feiern in Gemeinschaften, insbesondere in Frauenrunden, hat eine lange Tradition. Frauen spielten und spielen eine bedeutende Rolle bei Ritualen und Zeremonien, die sich auf die Natur, die Ernte, die Fruchtbarkeit und viele andere Aspekte des Lebens beziehen. Gemeinsamkeit und Austausch verstärken die Festlichkeit: Es ist schön, zusammenzukommen, Erfahrungen auszutauschen, gemeinsam zu singen und zu essen. Dabei würdigen wir in der Auswahl der Gerichte die Jahreszeit.
6. Reflexion
Jedes Jahreskreisfest bietet eine besondere Gelegenheit, Dankbarkeit zu üben und sich bewusst zu machen, wie sehr die Natur, das Leben oder persönliche Errungenschaften uns bereichert haben. Diese Dankbarkeit vertieft die Wertschätzung für das, was wir haben. Es ist auch ein Moment der Reflexion über vergangene Erfahrungen. Indem wir zurückblicken, können wir Lehren aus unseren Erfahrungen ziehen und sie als Anstoß für neue Pläne nutzen. So wird das Fest zu einem bedeutsamen Moment der Selbstbetrachtung und des Wachstums.
Beate Tschirch beschäftigt sich als Autorin und Impulsgeberin seit vielen Jahren mit den Traditionen unserer Ahn*innen. Ihr Buch “Rituale für die Seele” erschien im EMF Verlag. Auf ihrer Website findest du zu jedem Jahreskreisfest ein Ebook mit einer geführten Seelenreise.
Willst du noch mehr über die Jahreskreisfeste erfahren? Wir haben Beate Tschirch eingeladen, in Folge 93 unseres YogaWorld-Podcasts darüber zu sprechen:
Erkunde die indischen Philosophiesysteme Samkhya, Nyaya, Vaisheshika und Purva Mimamsa und ihre Verbindungen zum Yoga
Diese Folge “YogaWorld Podcast” ist der erste Teil einer spannenden Doppelfolge über die sechs klassischen Darshanas – die orthodoxen, philosophischen Systeme des Hinduismus. Gemeinsam mit Yogalehrer und Philosophie-Experte Timo Wahl erkundet Gastgeberin Susanne Mors die Lehren von Samkhya, Nyaya, Vaisheshika und Purva Mimamsa. Diese Darshanas bieten unterschiedliche und teils widersprüchliche Ansätze, um die Wirklichkeit zu beschreiben und den Weg zur Befreiung zu ergründen. Doch sie alle sind tief in der indischen spirituellen Tradition verwurzelt und haben wiederum Einfluss auf den Yoga.
Wir beleuchten in dieser ersten Folge, wie die Darshanas das Verständnis von Yoga bereichern können, welche Rolle die Grundsätze dieser Philosophiesysteme in der modernen Praxis spielen und warum es so lohnenswert ist, sich als Yogalehrende oder Übende damit zu beschäftigen. Besonders interessant wird es, wenn wir uns anschauen, wie Yoga von den dualistischen Prinzipien des Samkhya-Darshanas beeinflusst wird und welche Rolle die drei Gunas – Sattva, Rajas und Tamas – dabei spielen.
Diese Episode ist der Auftakt einer intensiven Reise durch die Welt der hinduistischen Philosophie, in der wir die philosophischen Hintergründe des Yoga in einen größeren Kontext setzen. In Teil 2 geht es dann weiter mit Vedanta und der Frage, wie diese Philosophie Yoga auf neue Weise interpretiert und bereichert.
Wenn du mehr über die Ursprünge des achtgliedrigen Pfades erfahren möchtest und wie du dieses Wissen für deine eigene Praxis nutzen kannst, ist dieses intensive Gespräch genau das Richtige für dich.
Der Herbst wird von der starken Energie des Vata Doshas dominiert. “Vata” bedeutet “das, was Dinge bewegt”, setzt sich aus den Elementen Luft und Äther zusammen und steht grundsätzlich für die Bewegung im Organismus. Es regelt die Dynamik hinter allen Stoffwechselprozessen, die Atmung sowie sämtliche Vorgänge des Ausdehnens und Zusammenziehens im Körper. Ayurvedische Herbstrezepte unterstützen diesen Prozess.
Text & Rezept: Volker Mehl, Titelbild: Susann Sam/Getty Images via Canva
Vata besitzt die Eigenschaften kalt, rau, trocken, leicht, bewegt und feinstofflich. Traditionell werdem diesem Dosha Emotionen und Gefühle wie Kühle, Nervosität, Aufregung, Zittern und Krämpfe zugeordnet. Dieser Konstitution wird der Dickdarm zugeordnet, dem Becken, den Ohren, der Haut und den Knochen und hat auch für den Verlauf des Lebens Bedeutung: Vata nimmt nicht nur im Herbst, sondern auch im Laufe des Lebenszyklus zu. Erscheinungen des Alters, darunter Osteoporose, Demenz, Zittern und sprichwörtlich die morschen Knochen, sind aus Sicht des Ayurveda eine zu starke Anhäufung der Elemente Luft und Äther im Körper.
Die Bedeutung von Vata
Mit seiner dynamischen Energie sorgt Vata aber auch für den nötigen Schuss Inspiration und Dynamik – vor allem nach der Hitze des Sommers, die uns manchmal verleitet, alles von uns zu strecken und den lieben Gott einen guten Mann oder Frau sein zu lassen. Deshalb ist der Herbst eine gute Zeit, um anstehende Projekte mit neuer kreativer Kraft anzugehen.
Zudem bietet sich der Herbst hervorragend an, um mit einer kleinen Entgiftung die durch die Hitze des Sommers gelösten Schlacken auszuspülen. Denn schon bald steht wieder die Weihnachtszeit mit Plätzchen, Punsch und deftigem Essen vor der bunt geschmückten Tür.
Tipp zur herbstlichen Entschlackung
Eine einfache Variante ist, morgens nach dem Aufstehen eine Tasse heißes Wasser zu trinken. Aber Achtung: Das Wasser sollte mindestens 10 Minuten kochen. Dadurch werden die Wasserstoffbrückenbindungen gelöst, die Moleküle werden somit leichter und ähneln so stärker dem Wasser in den Zellen. Dieser Vorgang beschleunigt die Detoxen der Zellen erheblich, da das Wasser schneller aufgenommen werden kann. Wenn ein Stück frischer Ingwer mitgekocht wird, verstärkt sich dieser Effekt noch.
Einfache ayurvedische Herbstrezepte
Um ein Gleichgewicht zu den kalten, rauen und trockenen Eigenschaften des Herbstes zu schaffen, sind aus Sicht des Ayurveda Gerichte mit süßem, salzigem und saurem Geschmack zu empfehlen. Das heißt natürlich nicht zwangsläufig, die pure Zitrone zu trinken oder das Nugat-Glas leer zu frühstücken. Mit ihrem wärmenden, anfeuchtenden und schweren Charakter sorgen diese drei Geschmacksrichtung aber für ein natürliches Gleichgewicht: Im wärmenden Mantel fühlen wir uns jetzt ja auch wohler als mit Flip-Flops und T-Shirt.
Karotten-Dattel-Suppe (Zutaten für 4 Personen)
1,5 Liter basic Karottensaft 8 Karotten 12 Blätter frisches Basilikum 8 saftige Datteln 1 EL edelsüßes Paprikapulver 1 EL mildes Currypulver 2 TL frische, zerstoßene, rosa Pfefferbeeren 2 EL Gemüsebrühe Ghee oder Kokosfett zum Anbraten 1 Prise Meersalz
Die Karotten schälen, klein schneiden, Datteln ebenfalls klein schneiden und in Ghee andünsten. Anschließend werden Paprika und Currypulver zugeben, alles gut verrühren und für weitere drei Minuten ziehen lassen. Mische den Karottensaft mit der Gemüsebrühe, in den Topf geben, aufkochen und für 15 Minuten köcheln lassen. Basilikum zugeben und die Suppe pürieren. Zum Schluss wird mit Salz und Pfeffer abgeschmeckt.
Biryani mit warmem Kokos-Mangold-Salat und gerösteten Cashewkernen (Zutaten für 4 Personen)
Reis-Zubereitung:
400g gemischtes Gemüse, gewaschen und klein geschnitten 100g getrocknete Mangostücke, klein gehackt 500g Natur- oder Sojajoghurt 300g Reis 1,5 Liter Gemüsebrühe 1 EL fein gehackter Ingwer 2 EL Currypulver 2 EL süßes Paprikapulver 2 rote Zwiebeln
Zuerst wird der Reis nach Anleitung in Salzwasser gekocht. Gemüse in 1,5 Liter Gemüsebrühe bissfest garen. Als nächsten Schritt schäle die Zwiebeln, schneide sie in Würfel und dünste sie zusamen mit dem Ingwer kurz in Ghee glasig. Darüber hinaus vermische Joghurt mit Curry, Paprika, Zwiebeln und Ingwer. Darin wird das Gemüse mariniert und 20 Minuten lassen es. In eine kleine Auflaufform eine Schicht Reis, darauf das Gemüse und wieder eine Schicht Reis geben. Das Ganze für 15 Minuten bei 180 Grad in den Backofen geben.
Zubereitung Mangold:
100 g Cashewkerne 1 EL Garam Masala oder eine andere Gewürzmischung 500g Mangold 200 ml Kokosmilch 200 ml Gemüsebrühe 100 ml Orangensaft 1 EL gehackter Ingwer 1 kleine gehackte grüne Chili 1 EL Ghee oder Kokosfett
Cashewkerne in einer Pfanne ohne Fett anrösten. Mangold waschen, die weißen Stiele und die Blätter in Streifen schneiden. Danach wird Ghee in einer Pfanne erhitzt. Anschließend Ingwer und Chili kurz darin glasig dünsten. Zuerst die Mangoldstiele in die Pfanne geben, nach 4-5 Minuten die Blätter. Nun Brühe, Kokosmilch und Orangensaft zugießen. Lass die Mischung aufkochen, reduziere die Hitze und lass den Mangold auf kleiner Hitze weitere 2-3 Minuten in der Pfanne. Kurz vor dem Servieren die Cashewkerne untermischen. Bei Bedarf mit Meersalz und rosa Pfefferbeeren abschmecken und mit Kokosflocken bestreuen.
Schafft Verbindlichkeit einen Raum, in dem Verbundenheit überhaupt erst möglich wird? Oder ist es vielmehr so, dass die (gerade im yogischen Denken oft mitschwingende) “Verbundenheit allen Seins” Verbindlichkeit sogar verhindert? Unsere Autorin plädiert dafür, sich viel öfter festzulegen.
Text: Andrea Goffart / Titelbild: R_Tee/Getty Images via Canva
“Du, ich weiß noch nicht genau, ob ich heute Abend komme. Können wir später noch mal telefonieren?”, sage ich zu meiner Freundin und ärgere mich einige Stunden später über Teilnehmer*innen meiner Schreib-Räume, die 10 Minuten vor Start absagen. Wenn überhaupt. Auch in Yogastudios wird es immer schwieriger, einen 10-wöchigen Kurs anzubieten. So lange festlegen? Unmöglich.
Inzwischen geht der Trend von der flexiblen 10er-Karte längst zum online gebuchten Drop-in. Last-minute ist die Devise und es wird uns sehr einfach gemacht, nach diesem Prinzip unser Leben zu gestalten. Wenn alles immer und jederzeit verfügbar ist, dann reservieren wir halt für einen schönen Abend einen Zweiertisch (“bitte am Fenster”) in drei verschiedenen Restaurants. Man weiß ja schließlich heute noch nicht, ob man am Freitag mehr Lust auf Veggie, Indisch oder Burger hat.
Es ist nie genug
Immer mehr Verbindung wird unverbindlich, erscheint das nur mir so? Beziehungen enden nach wenigen Monaten, Arbeitsverträge sind befristet, gewohnt wird heute hier, morgen dort. Wir testen und schnuppern, erweitern stetig unseren Horizont – was ja toll ist – und bleiben nie stehen. Wir leben, so scheint es, in einer Welt auf Probe und zögern, zaudern, winden uns, wenn es darum geht, ein klares Ja zu verkünden.
Was hält uns davon ab, verbindlich zu sein? Individualismus im Sinne einer umfassenden Gewinnmaximierung für das Ego? Mangelerleben? Es reicht nie – immer ist etwas anderes besser. Gerade habe ich den Kurzurlaub in Kapstadt gebucht, da sehe ich ein Special über Baku. Da will ich hin – ist doch viel geiler. Denn auch ich werde irgendwie besser sein, wenn ich mehr habe und aus der großen Auswahl schlau das Beste für mich sichere. Unser Konsumverhalten geht weit über Grundbedürfnisse hinaus. Vielmehr scheint es essenziell, richtig zu wählen.
“Wir jonglieren gefühlt ständig mit 1000 Bällen. Und jetzt noch einen zusätzlichen Ball aufnehmen und das auch noch verbindlich? Lieber nicht.”
Und dieses Richtig schließt von Jahr zu Jahr mehr Parameter ein: Erziehung, Bildung, Umfeld, Werte, finanzielle Möglichkeiten? Klar, aber auch Aspekte wie Umwelt, Klima und natürlich in den letzten Jahren massiv die Gesundheit sowie unzählige weitere Bedenken und Begierden spielen in unsere Entscheidungen hinein. Wenn ich mit der Bahn zum Seminar fahre, dann bin ich nachhaltig, aber vielleicht zu spät, wie unangenehm. Fahre ich mit dem Auto, finde ich keinen Parkplatz. Vielleicht besser eine Fahrgemeinschaft? Puh, dann bleibt die ganze Orga an mir hängen …
Wir jonglieren gefühlt ständig mit 1000 Bällen. Und jetzt noch einen zusätzlichen Ball aufnehmen und das auch noch verbindlich? Lieber nicht. Und überhaupt – so wichtig ist das Seminar eigentlich nicht, geh’ ich halt nicht hin. Komplexität, letztlich also die Erkenntnis der Verbundenheit unendlich vieler Entscheidungsfaktoren, verursacht ein wachsendes Unvermögen, sich zu entscheiden. Und eine immer weiter sinkende Aufmerksamkeitsspanne macht Verbindlichkeit auch nicht einfacher.
Verbindlichkeit: Was ist das eigentlich?
Für mich drückt die Formel “Walk the talk” es sehr gut aus: Ich tue, was ich sage. Ich lasse Worten Taten folgen und überlege bewusst, was ich zusage und warum. So gesehen, ist Verbindlichkeit mehr als ein Pflichtgefühl im Außen, es ist auch eine Verneigung vor dem eigenen Dharma, der eigenen Klarheit und Ausrichtung. Wenn wir Verbindlichkeit ernst nehmen, entsteht aus ihr ein solides Vertrauen, das Beziehungen tragfähig macht – auch und gerade mitten im Chaos.
Drum prüfe, wer…
Viele von euch werden das Silvesterphänomen kennen. Die Eingeladenen melden sich auf den letzten Drücker, wenn etwas noch Besseres für die “Nacht der Nächte” definitiv nicht in Aussicht steht – na gut, dann halt zum Fondue bei Ute. Woher kommt diese Last Minute-Mentalität – welche Glaubenssätze, Mechanismen oder Ängste liegen dahinter? Warum ist es für viele von uns so schwierig, sich zu entscheiden? Bevor du weiterliest – frage dich vielleicht einmal selbst – (warum) ist es für dich schwierig?
Zum einen besteht bei einer verbindlichen Entscheidung immer die Gefahr, enttäuscht zu werden. Hinter jeder Verbindlichkeit lauert eine Fehlentscheidung. Das ist nicht schön, wir fühlen uns unwohl, unsicher. Ein Verhalten, das Verbindlichkeit – generell Bindung – vermeidet, ist also immer Selbstschutz. Etablierte Bindungstheoretiker*innen wie John Bolby und Mary Ainsworth halten uns den Spiegel vor unsere unsicheren, vermeidenden Verhaltensweisen – die eben nicht nur in der Partnerschaft wirken und dazu führen, dass wir in einem permanenten Zustand der Selbst-Unsicherheit feststecken.
Dort werden wir vermutlich so lange bleiben, bis wir verstehen, dass der Anspruch, alles richtig entscheiden zu müssen, zum Scheitern verurteilt ist. Die Angst vor dem Entscheidungs-GAU hat sogar einen schicken Namen: FOMO – Fear of missing out. Aber was können wir eigentlich wirklich verpassen? Wenn wir verbindlich sind, wenn wir klar unsere Meinung sagen, wenn wir Entscheidungen treffen und zu ihnen stehen, dann werden wir ab und zu falsch liegen. Wir werden scheitern. Immer wieder. Immer neu. Wir könnten es lustvoll tun? Und, ja, dann kann es auch passieren, dass wir die Chance unseres Lebens verpassen, wenn wir bei Utes Fondue zu früh zusagen. Und vielleicht trotzdem einen netten Abend verbringen, während das Leben die nächste “einmalige” Chance schon genüsslich aus der Schublade zieht.
Verbindlich verbunden
Wenn ich mich entscheide, werde ich verbindlich. Ich mache eine verbindliche Zusage und stelle damit eine Verbundenheit her – und wenn es nur die Verbundenheit von zwei Terminkalendern ist. Nehme ich die Verabredung nicht ernst oder nicht wahr, dann hinterlasse ich eine Leerstelle – sowohl im Kalender als auch im Leben des Gegenüber. So weit – so banal. Und gleichzeitig ist Verbindlichkeit auch etwas, das wir mit Interesse, mit Offenheit und mit einem weitergehenden Verweben von Schicksalen konnotieren. Wir sind verbunden – wenn ich mich bewege, bewege ich dich mit, bewegst du dich mit.
Und hier kommen wir meines Erachtens am Kern an, nämlich bei der Erkenntnis, dass Verbindlichkeit und Verbundenheit in ihrer wechselseitigen Bezogenheit der Dualität von Yin und Yang gleichen. Gemäß der goldenen Regel, die sich als ein “Behandele andere so, wie du selbst behandelt werden möchtest” in fast allen Weisheitstraditionen wiederfindet, sprechen wir von Verantwortung für das eigene Verhalten. Es geht um Empathie oder – weitergefasst – um die Fähigkeit, das eigene Tun in all seinen Auswirkungen beurteilen zu können (und zu wollen).
Wie beeinflusst mein Handeln mein Gegenüber, meine Familie, Kolleg*innen, die Nachbarschaft – letztlich die Welt? Ausgehend von einem tantrischen Netz, in dem alles Leben miteinander verbunden ist, hat jede meiner Bewegungen eine Auswirkung auf das Ganze. Jedes Tun wirkt sich aus – auch das Nicht-Tun.
Unverbundenheit und Unverbindlichkeit
Die Art von Verbundenheit, wie ich sie hier beschreibe, ist unsere Ursehnsucht. Sie ist eine Sehnsucht der Seele. Wir möchten zu einer Existenzebene zurückkehren, die wir tief in uns zeitlos erfüllt erleben – im Inneren sind wir verbunden. Wir sind eins – immer schon. Trotzdem leben wir die Trennung auf so vielen Ebenen: Zum einen die Trennung von dem, was wir Umwelt nennen. Hier ich – dort Welt. Dazwischen ganz viel (dicke) Luft. Dann die Trennung von Menschen, die meist “die anderen” sind. Über Urteile, Meinungen und alles, was unser Denken so produziert, halten wir sie fern von uns. Und wünschen uns zugleich verzweifelt Nähe. Und zuletzt die Trennung in und von uns selbst – von Verstand und Herz, von Ego und Selbst, von Körper und Geist.
Es ist diese Trennung, aus der Unverbindlichkeit entsteht, denn sie verhindert, dass wir uns einlassen können. Wir bleiben getrennt vom großen Ganzen und flüchten uns ins denkende Wollen, Vergleichen, Erwarten, weil unsere innere Stimme irgendwann verstummt ist. Wir haben nicht nur das Vertrauen in uns selbst verloren, sondern auch in vieles, was Generationen vor uns noch Halt gab – zum Beispiel in die Autorität von Eltern, Lehrer*innen, Ärzt*innen, einer Religion oder den Medien.
Dann wäre es also im Umkehrschluss diese innere Stimme, die wir benötigen, um ein klares, sattes Ja zu sagen? Aus einem kraftvollen Selbstmitgefühl heraus und durch eine fühlende Wahrnehmung der Verbundenheit könnten wir unseren Verbindlichkeitsmuskel stärken – vielleicht über Yoga. Als achtfacher Pfad hilft uns Yoga, die Verbindung zur eigenen Wahrnehmung einzugehen. Yoga heißt Verbindung, bringt uns in Verbindung mit der eigenen Wahrheit, aus der heraus unsere Sprache klar und deutlich werden kann. Verbindlich.
Du, das fühlt sich gerade falsch an…
Andererseits entsteht aus dem ausschließlichen und/oder “zwanghaften” Lauschen auf die innere Stimme, wie es in der spürenden Selbstwahrnehmung gerade modern ist, wiederum Unverbindlichkeit. Oft bekomme ich im spirituell erfahrenen Umfeld zu hören: “Du, es fühlt sich gerade nicht richtig an, heute mit dir ins Kino zu gehen, ich möchte lieber im Wald sein, mich mit der Natur verbinden.” Absage. Leerstelle in meinem Kalender. Dieser Gegensatz ist spannend, oder?
Du handelst vielleicht aus der Verbundenheit allen Seins heraus. Du nimmst deine innere Stimme in diesem Augenblick wahr und du nimmst sie ernst, damit du dich weiter verbunden fühlen kannst. Das ist tatsächlich wichtig, aus all den oben genannten Gründen. Ich möchte aber mit dir ins Kino gehen, weil wir verabredet waren und ich mich darauf gefreut habe. Ich möchte mich über das gemeinsame Tun mit dir verbunden fühlen und mich auf dich verlassen können. Auch das ist wichtig. Wie lösen wir das auf? Wie priorisieren wir die “Verbundenheit allen Seins”, die dich inspiriert, unsere Pläne zu ändern?
In Verbindung bleiben
Hier gibt es tatsächlich ein Paradox, das wir nur situativ und mitfühlend auflösen können, indem wir unbedingt weiter miteinander verbunden bleiben und uns nicht im Groll abwenden. Aus der Verbindung heraus zeige ich dir, dass ich enttäuscht bin, mich auf unser “Wir” gefreut hatte, und ich zeige dir zugleich, dass ich dein Bedürfnis verstehen kann. Aus der ganz konkreten Verbundenheit heraus – wenn wir sie nicht verkürzt als spirituelle Rettungsinsel wahrnehmen – können wir den Konflikt gemeinsam lösen, indem wir uns zeigen, uns öffnen und auch mal Dinge ansprechen, die nicht angenehm sind, sondern als problematisch oder peinlich wahrgenommen werden.
Auch das ist Verbindlichkeit – sich nicht abzuwenden und ins Schneckenhaus zurückzuziehen, weil mich mal wieder niemand versteht. Ich bleibe stehen und habe einen Standpunkt und du hast deinen und wenn wir unsere Bedürfnisse (an-)erkennen, dann können wir uns festlegen – vielleicht heute auf einen gemeinsamen Waldspaziergang?
Wenn wir auf diese Art aus der Verbundenheit agieren, könnte es dann geschehen, dass gerade aus dem gemeinsamen Auflösen einer konkreten Verbindlichkeit etwas Größeres entsteht? Könnte aus diesem gegenseitigen Mit-Teilen nicht eine tiefere Verbindung entstehen, gegründet auf der Gewissheit, gemeinsam Teil der lebendigen Wirklichkeit zu sein?
Andrea Goffart freut sich, wenn sie Abgabetermine für Artikel einhält und pünktlich zu Verabredungen erscheint. Als Autorin und Schreibcoach unterstützt sie Menschen dabei, ihre Geschichten zu erzählen und macht die verbindende Kraft des Schreibens erlebbar. Mehr über die Autorin findest du auf ihrer Website.
Auch unsere Redaktion hat sich mit dem Thema Verbundenheit auseinandergesetzt, hier kommst du direkt zum Gespräch:
Dieses Mal stellt euch unsere Autorin Sybille Schlegel die Mandukya Upanishad vor, einen kurzen Text, der es ganz schön in sich hat: Er handelt von nichts weniger als dem Wesen des Bewusstseins, der Ordnung des Universums – und einem großen Klang, der all das in sich trägt: OM!
Text:Sybille Schlegel / Titelbild: Ivan Vuckovic/Getty Images via Canva
Auf dem Siegertreppchen gibt es genau drei Plätze,weshalb der vierte Platz oft als “undankbar”, im besten Fall tröstlich als “Sieger der Herzen” bezeichnet wird. Überhaupt hat die Zahl drei bei uns einen äußerst spruchreifen Ruf: Aller guten Dinge sind schließlich drei. Oft muss der Held im Märchen drei Aufgaben bestehen, gibt es drei Schwestern oder drei Wünsche. Das zeigt: Die Drei hat sich einen festen Platz in unserem kollektiven Bewusstsein erarbeitet. Und um das Bewusstsein geht es auch in der Mandukya Upanishad – allerdings liegt laut diesem Text das Eigentliche erst hinter den magischen Drei verborgen, in einer alles entscheidenden vierten Dimension …
Mandukya Upanishad auf einen Blick
Die kürzeste Upanishad • 12 Verse • legendärer Verfasser: Manduka Themen: • das Bewusstsein • der Klang OM • Existenz in Dreiheit • das Vierte als transzendentes Sein
Dreiheit, Zweiheit, Einheit
Die Mandukya Upanishad ist die kürzeste und nach Auffassung der Forschung auch die jüngste der 108 traditionell anerkannten Upanishaden. Aber Moment, noch mal einen Schritt zurück: Was sind überhaupt dieUpanishaden? Die Entstehung dieser Gruppe von indischen Weisheitstexten hat sich vermutlich von etwa 700 bis 200 vor Christus und damit über ein halbes Jahrtausend erstreckt. Sie gelten als der “Abschluss der Veden” – das Vedanta. Der Begriff Veda bezeichnet dabei sowohl die Gesamtheit der vedischen Texte als auch generell (göttliches) Wissen, während Anta ganz einfach Ende bedeutet.
Die unter dem Namen Vedanta bekannte philosophische Schule, (auch als Advaita Vedanta bezeichnet) stellt eine Lehre in den Mittelpunkt, der wir auch im Yoga sehr viel Gewicht geben: Alles ist eins. Die Frage, die dazu aber in vielen Upanishaden gestellt wird, lautet nachvollziehbarerweise: Was ist denn dieses Eine, wenn sich doch augenscheinlich alles voneinander unterscheidet und in dieser Unterschiedlichkeit ja getrennt ist? Das meiste, was wir in unserer Wahrnehmungswirklichkeit erleben, ist mindestens in Paaren vorhanden: Schuhe, Hände, ich und du, Tag und Nacht – also gerne auch in Gegensatzpaaren: kalt und heiß, klein und groß, hart und weich …
Dank solcher Unterscheidungen sind wir in der Lage, uns zu orientieren. Ganz vorne im Verständnis kommt dabei die Unterscheidung von unten und oben: Unten ist der Planet, mit dem wir durch die auf unsere Körper wirkende Schwerkraft verbunden sind, oben ist die Weite des Himmels, des Universums. Ich habe mal gelesen, dass man auf der ISS anfangs kein oben und unten definiert hatte, was die Astronauten in der Schwerelosigkeit fast verrückt hat werden lassen. Erst als man zwischen einem an den Wänden markierten “oben” und einem “unten” herumschwebte, ging’s. Aus oben und unten leiten sich vorne und hinten und rechts und links ab (auch wenn ich persönlich damit immer so meine Probleme hatte …).
An dieser Orientierung spendenden Möglichkeit des gegensätzlichen Vergleichs hat der menschliche Geist so sehr seine Freude gefunden, dass wir auch alle anderen Erscheinungen munter auf diese Weise einordnen. So weit, so gut, könnte man meinen, dann können wir eben etwas Festes von etwas Fluffigem unterscheiden. Wo liegt das Problem? Es liegt wie so oft in den Gewohnheitsmustern: Wenn wir alles, was uns umgibt und was wir erleben, durch Gegensätzlichkeit definieren und nach Eigenheiten einordnen, geht der Blick für das Vereinende, Gemeinsame verloren.
Offenbar war das schon vor über 2500 Jahren Menschen bewusst. Deshalb stellten im antiken Indien die Schüler*innen (ja, Frauen waren auch dabei) ihren Lehrern (hier sind zumindest namentlich nur Herren bekannt) die entscheidende Frage: Was ist die Einheit, was verbindet mich mit allem, das ist? Die Antwort lautete: Brahman. Die Lehrer sagten, dass Brahman als einzige Entität wirklich ist, weil es nicht geboren wird und nicht verschwindet. Und dieses göttliche, große Eine trage man in sich. Bezogen auf den einzelnen Menschen heißt es zwar Atman, aber bis auf die unterschiedliche Bezeichnung sei beides dasselbe: “Denn all dies ist Brahman, dieser Atman ist Brahman.”
“Wenn wir alles, was uns umgibt, durch Gegensätzlichkeit definieren, geht der Blick für das Vereinenende verloren.”
Kurz und bündig
Sich dieser Frage “Was ist Einheit?” anzunähern, ist der inhaltliche Zusammenhang der Upanishaden. Ansonsten haben die einzelnen Texte untereinander keinen Bezug. Die Annäherung kann in Form von Lehrer-Schüler-Dialogen geschehen, anhand von Geschichten oder in Beschreibungen. Es kann um Energetik gehen wie in der Taittirya Upanishad oder um den Ursprung des Seins wie in der Isha Upanishad. All das sind einfach verschiedene Perspektiven auf das selbe Thema.
Die Mandukya Upanishad, um die es hier geht, zieht uns in die Tiefen der Klangenergie und des Bewusstseins. Sie erklärt in knappen 12 Versen nachvollziehbar und logisch den Zustand von Yoga, der in so vielen anderen Text en “unbeschreiblich” genannt wird. Seinen Namen hat der Text von seinem vermuteten Verfasser: Im ersten Text der Upanishaden, der Brihadaranyaka Upanishad, wird ein Weiser (Rishi) namens Manduka genannt. Auch seine Schüler, die Mandukeyas, werden in anderen Texten, etwa dem Rigveda, erwähnt. Es ist also gut möglich, dass sich mit der Mandukya Upanishad die Weisheit eines Lehrers aus sehr alter Vorzeit erhalten hat.
Die drei Phasen des OM
Meine eigene Lehrerin, Manorama, lehrt Sanskrit, Mantra, alte Texte und Meditation. Sie spricht nicht nur sehr viel über das OM, es wird bei ihr – wie auch in vielen Yogaklassen – dreimal am Anfang und dreimal am Ende des Unterrichts gechantet. Manorama erklärt dann “den OM-Kreislauf”, wie sie es nennt: das Werden, das Existieren und das Vergehen. Man könnte sagen, dass der Klang OM diesen Kreislauf symbolisiert, aber dahinter steckt mehr als einfache Symbolik: Im OM verbinden sich auf eine ganz erfahrbare Weise die Ebenen von Existenz und Energie.
Klanglich besteht das OM aus drei hörbaren und singbaren Lauten: A, U und M. Das A vibriert tief in der Kehle und ist die Energie des Entstehens oder der Schöpfung. Das U vibriert vorne an den Lippen mit der Energie der Existenz. Das M schließt zuletzt die Lippen und beendet so die Existenz des Klangs. Das sind die drei. Im indischen Götterhimmel stehen dafür Brahma, Vishnu und Shiva – Entstehung, Existenz, Ende. Und alles, was aus Materie besteht, egal wie fein, gehorcht diesem Prinzip von Dreiheit. So bekommt die Zahl drei eine mystische Bedeutung. Und so wird das OM zum Inbegriff eines universellen Prinzips:
“All dies ist das Unvergängliche, ist der Laut OM. Das wird auch so gelehrt: Was war, was ist,was sein wird, das alles ist der Klang OM. Und auch, was jenseits der drei Zeiten ist, auch das ist der Klang OM.“
Bist du schon wach?
Das OM unterstützt also im konkreten Erleben unser Verstehen: A – es kommt, U – es existiert, M – es vergeht. Nach dem Chanten ist man traditionell still und spürt die Schwingung der Energie, die langsam in der Stille verschwindet. Und aus eben dieser Stille entsteht dann der neue A-U-M-Kreislauf. Dabei hört man trotz des AUM ein OM, da die Laute A und U sich einander angleichen, um eine hörbare Einheit zu schaffen. Aber was viel entscheidender ist: Die Stille liegt außerhalb dieser Dreiheit, aus ihr kommt der Klang und in sie geht er zurück. Und sie liegt auch unter dem, was existiert.
Wie eine Tafel, die unbewegt bleibt, während auf sie geschrieben, von ihr gelesen und weggewischt wird. Die Stille ist der vierte Zustand des OM. Und um diesen Vierten geht es der Mandukya Upanishad und zwar nicht nur in der Praxis von OM, sondern ganz allgemein in unserem Bewusstsein: Jenes, das wir täglich benutzen, das uns in Tiefschlaf, Ohnmacht und Narkose schwinden kann, das uns Träume beschert, Sinneswahrnehmung, Sprache, Handlungen.
Die Verse beschreiben drei Bewusstseinszustände, die wir alle gut kennen: Wachsein, Traumschlaf und Tiefschlaf. Check. Aber nicht so schnell! Wenn man etwas schnell versteht und zu kennen meint, streift der Geist die Information nur kurz und bewegt sich zum nächsten Impuls. Da wir aber im Yoga tiefer gehen wollen, lohnt es sich, auch das vermeintlich Bekannte unter die Lupe zu nehmen. Das Wachsein ist der Zustand zwischen Aufwachen und Einschlafen. Es erscheint uns als der Zustand der Normalität und Realität – der, in dem wir “da” und handlungsfähig sind, weil uns die Außenwelt bewusst ist.
In den Tiefen des Schlafes
Im Traumschlaf schlafen wir und betrachten erstaunt, was uns das eigene Unterbewusstsein als Film vorspielt. Manchmal realistisch, manchmal absurd. Dinge, die im Wachbewusstsein eine Rolle spielten, Ängste, Träume und all das, was Freud darüber herausgefunden hat. Während des Träumens können wir manchmal den Traum eindeutig als irreal identifizieren, manchmal nicht. Ich habe mal geträumt, dass ich verreist sei, und es fühlte sich so echt an, dass nur ein Blick in den Kalender beweisen konnte, dass ich sicher nicht verreist gewesen war. Zumindest nicht in der Wachzustand-Realität.
Im Tiefschlaf ist nichts. Kein bewusster Sinneseindruck, kein Traumbild. Als wären wir nicht da. Wenn uns ein Außenstehender erzählt, was wir im Schlaf gemacht hätten, können wir uns nicht erinnern. Dennoch ist auch in diesem Zustand das Bewusstsein eine Realität. Es richtet sich nicht mehr auf äußere oder innere Objekte, sondern verdichtet sich zu einer Art reinem Erkenntnisvermögen. Die Mandukya Upanishad beschreibt es so:
“Der Stand des Wachseins weiß um das Außen. Der Stand des Traumschlafs weiß um das Innen.Im Stand des Tiefschlafs ist nichts als Wissen, genießend mit dem Mund des Bewusstseins.“
Im vierten liegt die Einheit
Normalerweise bewegen wir uns munter oder müde durch die drei Bewusstseinszustände. Erst wenn wir mit Yoga in Kontakt kommen, lernen wir, dass es noch mehr gibt – und dieses Mehr ist entscheidend: Der Zustand des Yoga oder Samadhi. Er wird zwar in Texten wie dem Yogasutra mehr oder minder deutlich beschrieben, doch nur wenige kennen ihn persönlich so gut, dass er sich einfach in Worte fassen ließe. Mir hat hier die Mandukya Upanishad sehr geholfen – nicht dabei, den Zustand zu erlangen, das kann nur die Praxis, aber im Verständnis, wo oder wie Bewusstseinserweiterung im Kontext von Yoga zu verstehen ist:
“Weder inneres noch äußeres Wissen, nicht zu sehen, nicht zu vergleichen, nicht zu fassen, nicht zu beschreiben, nicht zu erdenken, ohne Namen:Das ist der Vierte, den nichts als das Selbst kennt. Ohne körperlichen Teil ist der Vierte: In dem es keine Vielfalt gibt, Nur Stille, Freude, Nicht-Zweiheit.Das ist das Selbst, das erkannt werden muss.“
Die Mandukya Upanishad lehrt uns, dass das Chanten von OM eine valide Praxis ist – und nichts anderes sagt ja auch Patanjali im Yogasutra in den Versen 1,23 bis 1,28, falls ihr noch mal nachlesen möchtet. Aber noch viel besser: Ihr setzt euch auf euer Meditationskissen, schließt die Augen und singt das OM in wiederholendem Japa. A in der Kehle und U an den Lippen werden zu O, das von Kehle zu den Lippen vibriert, bevor das M den Klang schließt. Dann fühlen und nach innen lauschen, bis ihr die Stille hören könnt …
Nach Yogasutra, Bhagavad Gita und den Texten der Nath-Yogis ist dies der vierte Quellentext, den Sybille Schlegel im Rahmen unserer Reihe alltagstauglich für euch interpretiert – und weitere werden folgen! Mehr über Sybille erfährst du auf ihrem Instagram Account.
Lese mehr von Sybille Schlegel und tauche tiefer in die Yogaphilosophie ein:
Strahlend schön: Integriere Face Yoga in deine Asana-Praxis
Von unseren mehr als 650 Muskeln liegen sage und schreibe 50 im Gesicht. Sie formen unsere Mimik und zeigen unsere Gefühle, sie ermöglichen es uns zu lächeln, zu sprechen und uns auszudrücken.
Im Yoga achten wir sehr darauf, dass es unserem Innenleben gut geht, wir zielen darauf ab, Innen und Außen, Körper, Geist und Seele in eine harmonische Verbindung zu bringen. Wie kann es da sein, dass wir unser Gesicht, den Spiegel unserer Seele, völlig außer Acht lassen? Denn unsere Körperpraxis hört meistens beim Nacken auf. Oder andersherum: Es gibt zwar Face Yoga, hier wird aber üblicherweise komplett auf den kosmetischen Effekt abgezielt und der Körper bleibt unbeteiligt.
Hier kommt Body Face Yoga von Amiena Zylla ins Spiel: Die Yogalehrerin und Faszienyoga-Expertin verbindet Gesichts- und Körperübungen zu einer ganzheitlichen Praxis. Immerhin ist alles in unserem Körper durch Bindegewebe miteinander verbunden und die Faszienbahnen reichen bis in das Gesicht hinein. Als Amiena begann, beides miteinander zu kombinieren, sah sie nicht nur äußerlich die positive Wirkung, sie spürte sie auch in ihrer inneren Welt.
Diese besondere Praxis möchte Amiena in dieser Folge “YogaWorld Podcast” mit dir teilen. In den einzelnen Übungen werden zunächst die Körperhaltungen eingenommen und dann mit einer Face-Übung ergänzt. Abgerundet wird die Sequenz mit einer schönen Endentspannung und Amienas Top-Tipps für einen frischen und strahlenden Look.