Manchmal kann es ganz schön verwirrend sein, auf was man in der Asana-Praxis alles achten soll – erst recht, weil in verschiedenen Stilen und bei wechselnden Lehrer*innen manches ganz unterschiedlich unterrichtet wird. Hier haben wir 26 Essentials zusammengestellt, die einfach immer gelten.
Text: Ryan Peacock und Stephanie Schauenburg
Eigentlich beginnt Yoga erst, wenn du beim Üben deinen Atem bewusst hältst. Ohne diese feine Verbindung zwischen Bewegung und Atmung ist Asana kaum mehr als Gymnastik. Sobald du aber den Atem präsent hast, erkennst du, wo im Körper deine Kraft gebraucht wird und wo vielleicht zu viel Spannung sitzt. So findest du in jeder Haltung zu einer angemessenen Intensität und einem stimmigen Alignment. Die Formel für Asana steckt also voller A: Atem – Achtsamkeit – Alignment.
Man muss es sich immer wieder bewusstmachen: Wir sind gesellschaftlich komplett auf Leistung getrimmt und ständig damit beschäftigt, uns zu vergleichen. Der Hinweis “Bleib bei dir” fördert nicht nur deine Konzentration, er hilft dir auch, dieses giftige Muster zu durchbrechen und wirklich Yoga zu üben – denn eigentlich geht es hier nie um die Haltungen, sondern immer nur darum, mehr über dich selbst zu lernen. Der Viniyoga-Lehrer Gary Kraftsow rät: “Nutze jede Haltung, um besser zu verstehen, was in deinem Körper vorgeht und wie du reagierst.” Ganz wichtig: Keine Übung und keine Anleitung ist für alle jederzeit gut. Du hast in Klassen immer das Recht, deinen eigenen Weg zu gehen.
“Citta vritti nirodha”
– Patanjali: Yogasutra, I,2
Die berühmte erste Zeile des Yogasutra umfasst die Essenz von Yoga: Es geht um das Zur-Ruhe-Kommen (Nirodha) der Wellenbewegungen (Vritti) im Geist (Citta). Bezogen auf die Asana-Praxis bedeutet das: möglichst vollständig aufgehen in der Wahrnehmung von Körperempfindungen und → Atem.
Es ist zugegebenermaßen nicht ganz einfach: Zum einen sollen die Beine in vielen Haltungen aktiv gestreckt sein, gleichzeitig aber durchlässig. Amy Ippoliti, die Co-Gründerin der Yogalehrer-Plattform 90 Monkeys rät: “Versuche deine Knie ganz minimal zu beugen, während du sie zugleich mit einiger Kraft streckst.” Durch diese beiden entgegengesetzten Aktionen erreichst du eine ausgewogene Kraft im gesamten Bein. Dieser Tipp ist vor allem für jene wichtig, die zur Überstreckung der Knie neigen, was auf Dauer das Gelenk schädigt.
Hier geht’s zu 3 Übungen für starke Knie – von Dr. Ronald Steiner.
Dieser Tipp gilt in den meisten Yogatraditionen als das wichtigste Element des Alignments in Chaturanga Dandasana: “Zieh die Ellenbogen dicht zum Rumpf und halte die Unterarme senkrecht.” Der Gedanke: So schaffst du mehr Stabilität in den Gelenken. Unser Alignment-Experte Dr. Ronald Steiner präzisiert: “Die Finger sollten etwas nach außen zeigen und die Hände dürfen auch mehr als schulterbreit gesetzt werden.” Das vermeidet eine zu hohe Beanspruchung in Schulter- und Handgelenken. Wichtiger als die Ellenbogen ist in Chaturanga nach seiner Ansicht die Stabilisierung durch die Bauchmuskulatur. Sein Tipp: Bei mangelnder Kraft lieber nicht so tief absenken! (hier geht’s zu Dr. Ronald Steiners ausführlichen Alignment Cues zu Chaturanga Dandasana)
Vom “feinstofflichen Körper” ist meist dann die Rede, wenn es darum geht, körperliche Erfahrung und yogische Weisheitslehren miteinander zu verbinden. Dazu verschieben wir den Fokus von der äußeren Form auf die Wahrnehmung der inneren Prozesse: Spannung und Entspannung in den Faszien, das Pulsieren des Blutes oder auch emotionale Reaktionen. Tias Little hat ein ganzes Yogabuch zu diesem Thema geschrieben. Sein Fazit: “Diese Art der Einstimmung auf die subtilen Prozesse in jeder Haltung macht Yoga zu einer bewegten Meditation.”
“Erzwinge nichts, da ist kein Ziel, auf das du zurennen könntest.” Das ist das Credo der israelischen Lehrerin Orit Sen-Gupta – und überhaupt das Motto von Yoga. Manchmal dauert es Jahre, und plötzlich merkst du, dass etwas, dass dir lange Zeit schwer fiel, auf einmal ganz leicht geht. Aber das Beste ist: Es ist dir gar nicht mehr wichtig. Geduldig und liebevoll mit dir selbst, deinem Körper und deinen Begrenzungen zu sein, bewahrt dich nicht nur vor Frust und Verletzungen, es eröffnet dir die eigentlichen Schätze des Yoga.
Vielleicht klappt’s auch mit Musik? Höre dir hier unsere “Playlist für mehr Geduld” an.
Eigentlich sollte neben jeder Matte mindestens eine Decke, ein Gurt und ein Block liegen – und das gilt nicht nur für Anfänger*innen, sondern wirklich für alle Yogi*nis. Der clevere Einsatz von Hilfsmitteln ermöglicht es dir, Haltungen zugänglicher zu machen oder sie nochmal auf eine neue Weise zu erforschen und zu verstehen.
Manchmal muss man nach innen drehen, um nach oben zu kommen. Urdhva Dhanurasana (der nach oben weisende Bogen) ist dafür ein gutes Beispiel. Annie Carpenter beschreibt, dass viele Übende die Leisten himmelwärts schieben, um höher zu kommen: “In Wirklichkeit verkrampft sich dabei aber die Gesäßmuskulatur und es entsteht ein unguter Druck auf die Lendenwirbel.” Statt dessen empfiehlt sie, die Oberschenkel leicht nach innen zu drehen und den Po möglichst locker zu halten. So werden die Leisten weich und der untere Rücken kommt in eine harmonische Rückbeuge.
Was ist nötig, um aus dem Sitz in Chaturanga Dandasana zurück zu springen (Jumpback)? Laut Alexandria Crow solltest du Lolasana üben, denn hier trainierst du alle dafür wichtigen Muskelgruppen: Stütze dich aus dem Kniestand auf zwei flach liegende Blocks, aktiviere die Arme, ziehe den Nabel nach innen und bewege mit gerundetem Rücken die Oberschenkel Richtung Brust.
Die Position des Kopfs ist in vielen Übungen tricky: In Twists tendieren wir dazu, eher den Hals bis zum Anschlag zu drehen als die Wirbelsäule insgesamt zu bewegen. Bei Rückbeugen lassen wir gerne den Kopf in den Nacken sacken und verlieren dabei den Halt aus der Mitte. Daher gilt: Weniger ist mehr! Mach dir Spannungen in Nacken, Kehle und Gesicht bewusst, bevor es schmerzt, und suche für deinen Kopf in jeder Haltung eine stimmige, gelöste Position. Für Entspannungshaltungen wie Shavasana empfiehlt Judith Hanson Lasater eine leichte Neigung nach vorn: Sie erinnert physiologisch an die Embryonalhaltung im Mutterleib.
Diese Anweisung hilft dir, die Wirbelsäule lang zu halten – und zwar nicht nur auf der Matte, sondern auch im Alltag. Stell dir dazu in Seitbeugen wie Utthita Trikonasana (gestrecktes Dreieck) oder Utthita Parshvakonasana (seitliche Winkelhaltungen), aber auch im Seitstütz Vasishthasana oder ganz einfach beim Warten an der Bushaltestelle vor, dass du beide Seiten deines Körpers von den Zehenspitzen bis zum Scheitel in die Länge streckst.
Der Tipp “Zieh entlang deiner Mittelachse einen imaginären Reißverschluss nach oben” hilft dir, deine tiefliegende Rumpfmuskulatur zu aktivieren, um dich aufzurichten, zu stabilisieren und zu zentrieren. Gleichzeitig sprechen wir auf einer energetischen Ebene Sushumna Nadi an, die mittlere der drei großen Energiebahnen. Wichtig: Kombiniere die Aufwärtsbewegung mit → tiefen Wurzeln.
Den natürlichen Schwung der Wirbelsäule im Yoga weitgehend beizubehalten und dabei die jeweils individuelle Anatomie zu würdigen, ist mittlerweile eine allgemein anerkannte Regel: Nur so werden Kraft und Druck optimal auf die Wirbel und Bandscheiben übertragen. Deswegen gelten Anleitungen wie “Zieh das Steißbein nach unten” oder “Zieh das Schambein hoch” als überholt: Sie werden oft übertrieben und flachen dann den unteren Rücken unnatürlich ab. Dennoch bewegt man die Wirbelsäule (vor allem in Vorwärts- und Rückbeugen) auch oft bewusst aus ihrer Neutralstellung heraus in die Beugung bzw. Streckung – als wichtiger Teil einer gesunden, ausgewogenen Praxis. Umso wichtiger ist es, hier behutsam zu sein und die eigenen anatomischen Bedürfnisse zu berücksichtigen.
Die Anleitung “Öffne dein Herz” hat im Yoga verschiedene Bedeutungsebenen: Körperlich heben wir das Brustbein und weiten den Herzraum. Gleichzeitig ist aber oft auch eine emotionale Öffnung gemeint – und dieser Hinweis kann als übergriffig oder gar verletzend empfunden werden. Auch hier gilt: → Bleib bei dir.
Manche Stile lassen den Übenden viel Zeit zum Spüren, andere fließen dynamisch von einer Haltung in die nächste. Aber immer gilt: Es passiert sehr viel, wenn du bewusst Pausen machst, innehältst und Körper und Geist Gelegenheit gibst, zu integrieren und zu heilen. Egal ob zwischen zwei Übungen, während Shavasana oder an praxisfreien Tagen.
Der “quadratische Lendenmuskel” (Quadratus Lumborum), der Becken und Rumpf verbindet, bekommt laut Viniyoga-Lehrer Gary Kraftsow im Yoga viel zu wenig Aufmerksamkeit. Dabei muss er insbesondere bei zu schwacher Rückenmuskulatur sehr viel auffangen und neigt dann dazu, zu verspannen und zu ermüden. Daher empfiehlt Kraftsow eine Variation von Janu Shirshasana: Drehe deine Schultern bei ausgestrecktem linken Bein und angewinkeltem rechten nach rechts. Dann senkst du die linke Schulter Richtung linkes Knie und streckst den rechten Arm über den Kopf Richtung linken Fuß. Nach 5–10 Atemzügen wechselst du die Seiten.
Release – zu deutsch: Loslassen. Erinnere dich immer wieder daran, auch in anstrengenden Haltungen Spannung zu lösen, dich der Übung ein Stück weit anzuvertrauen, oder dich sogar regelrecht in sie hineinschmelzen zu lassen, statt sie “auszuführen”. Der Prajna-Yoga-Gründer Tias Little betont, wie wichtig dieses Loslassen auf körperlicher und mentaler Ebene ist. Sein Tipp: “Sehr viel unbewusste Spannung sitzt im Kiefer, hinter den Augen und anderen Stellen am Kopf. Manchmal fordere ich meine Schüler*innen zu ‘Zungen-Shavasana’ auf.” Das hilft, auch anderswo im Körper loszulassen, und erzeugt mehr Balance zwischen Sthira (Stabilität) und Sukha (Gelöstheit, Leichtigkeit).
Anleitungen wie “Schultern weg von den Ohren” oder “Zieh die Schulterblätter am Rücken entlang nach unten” hörte man früher ständig in Yogaklassen. Inzwischen hat sich herumgesprochen: Sobald du die Arme über den Kopf hebst, bewegen sich auch Schultergelenke und -blätter nach oben. “Das ist einfach die natürliche Bewegung”; erklärt Yoga-Physics-Gründerin Alexandria Crow. “Die Schultern in dieser Haltung aktiv nach unten zu ziehen, ist nicht nur dysfunktional, es löst auch nicht das Problem von Menschen, die den Kopf quasi zwischen die Schultern klemmen.” Hier hilft nur der Hinweis → Release.
Hier geht’s zu unserem Artikel “Yoga-Mythbuster: Schultern weg von den Ohren!”
Kling
essen: “Es ist wichtig, dass wir in Stehhaltungen auch Beckenboden und Beine etwas aktivieren, um uns wirklich zu erden.” Das beginnt damit, dass wir die Zehen ausbreiten und in der Grundstellung gleich viel Gewicht auf die Innen- und Außenkanten der Füße bringen. Aber auch Sitzhaltungen und Armbalancen profitieren davon, wenn wir uns über die jeweiligen Auflageflächen bewusst mit dem Boden verbinden, denn so lastet mehr Gewicht auf dem Skelett und wir müssen weniger “halten”. Ziel ist ein subtiles Gleichgewicht aus aktivem Abdrücken, mühelos sinkendem Wurzeln und Emporwachsen.
Hier geht’s zu einer schönen Sequenz zur Kräftigung der Füße.
Kann ich das wirklich nicht, oder habe ich bloß Angst etwas Neues zu probieren? Übe ich aus meiner Kraft heraus oder aus dem Willen? Bin ich erschöpft oder eher lustlos? Ist diese Stunde tatsächlich Mist oder fällt es mir nur schwer, mich einzulassen? Im Yoga geht es immer wieder darum, genau hinzuschauen und zu unterscheiden. Du musst dir nicht immer sicher sein, aber hör nie auf, Viveka zu trainieren, deine Unterscheidungskraft.
Innere Bilder helfen dir, dem Wesen einer Asana näher zu kommen. “In der Visualisierung kann ich meinen Körper als Energiefeld wahrnehmen, in dem Winde, Flüsse, Feuer und Mondlicht wirken”, erklärt Yogalehrer Tias Little. Die subtile Kraft solcher Elemente verhilft dir oft zu mehr Integrität in einer Haltung als die reine Mechanik von Knochen, Muskeln und Bändern.
Das Gute liegt manchmal ziemlich nahe – oder vielmehr: es steht nahe. Wände sind eine simple, oft übersehene Möglichkeit, die Praxis zu erleichtern oder zu vertiefen. Deswegen solltest du sie nicht nur nutzen, um dir im Handstand eine mentale oder tatsächliche Stütze zu verschaffen, sondern ausprobieren, was da alles geht. Annie Carpenters Lieblingsübung an der Wand ist der halbe Hund: Wenn du die Hände auf Hüfthöhe oder darüber gegen die Wand schiebst, statt gegen die Matte, brauchst du weniger Kraft und kannst bewusst Länge im Rumpf erzeugen.
X-beliebig ist grundsätzlich gar nichts! Auch wenn man es mit Disziplin und präzisem Alignment nicht übertreiben und seiner Intuition und Körperwahrnehmung vertrauen lernen sollte: Achtsamkeit ist der Schlüssel zu einer erfüllenden Praxis.
“Roll die Yogamatte aus” ist vermutlich der allerwichtigste Tipp: Yoga lebt nur von regelmäßiger Übung, deinem persönlichen Sadhana. Oder wie der große Yogapionier Sivananda angeblich gesagt hat: “Ein Gramm Praxis ist mehr wert als eine Tonne Theorie.”
Hier sind 4 Tipps für dein Sadhana!
Sie sind buchstäblich die Basis – aber sogar im Yoga achten wir ziemlich wenig auf unsere Füße. “Ich bin jedes Mal überrascht, wie deutlich sich die gesamte Praxis meiner Schüler*innen zum Positiven entwickelt, sobald ich ihre Aufmerksamkeit auf dieses Fundament richte”, sagt unser Anatomie-Experte Dr. Ronald Steiner. Er empfiehlt insbesondere Mobilisation durch Selbstmassage, aktives und passives Auseinanderspreizen der Zehen und das Kräftigen der dreidimensionalen Gewölbestruktur: “Richtet sich dieses Gewölbe auf, dann entsteht eine Kettenreaktion nach oben.”
Titelbild: Shashi Chaturvedula via Unsplash